„Semper unus…“
„U-NUM“ korrigiert Betül.
„Unum. U-NUM.“
Sina, Betül und Annika laufen den Weg zur Schule hinauf. Das Schul-Leitbild…: Jede*r neue Schüler*in muss es lernen. Es ist Sonntag, gestern hat Sina gar nichts auf die Reihe gekriegt und nach dem Frühstück fast den ganzen Tag im Bett in ihrem Zimmer verbracht.
Annika besteht darauf sie abzufragen. Früher hieß das Leitbild einfach Schulordnung, sagt sie, aber irgendwer hat entschieden, dass Schulordnung zu angestaubt klingt. Der Text ist allerdings exakt derselbe.
„Semper unum, semper… pax, semper plus. Richtig?“
„Semper, Pamper, Remember“ plappert Betül und schlägt mit einem Stock auf ein paar braune Pflanzenreste am Wegrand ein. Es sind fast null Grad, sie alle tragen warme Mäntel und dicke Wollmützen. Betül hat sich heute für einen zitronengelben Trenchcoat über einem grünen Strickpulli entschieden (wo auch immer sie so etwas kauft). Dazu trägt sie schwere Armeestiefel und eine blaue Wollmütze.
„Ja, korrekt“, sagt Annika. „Und jetzt die Langform.“
„Semper unum – Wir stehen zusammen!
Semper pax – Wir lösen Konflikte konstruktiv und gewaltfrei!
Semper plus – Wir wollen jeden Tag besser werden!“
„Das ist die offizielle Version“, sagt Betül.
„Und die inoffizielle?“
„Semper unum – Wer aus der Reihe tanzt, fliegt!
Semper pax – Wer Stress macht, kriegt Ärger!
Semper plus – Wer nicht mitkommt, ist selbst schuld!“
„Ist das so?“
„Na klar. Nur bei uns in der Schwarzen Klasse nicht. Naja. Wir versuchen’s wenigstens.“
„Warum heißt es eigentlich ‚Schwarze Klasse?‘“ Sina bleibt stehen. Der letzte Anstieg zur Schule ist heftig. Es gibt zwar die Straße, doch sie haben sich für den steileren Fußweg entschieden. Weniger Bonzenkarren. Am Wochenende kommen die Eltern zu Besuch.
„Schwarz wegen der Tür?“, fragt Sina.
„Schwarz wegen ‚B‘.“, sagt Annika. „Auf dem Schild neben der Klassentür.“
„Hä?“
„Auf dem Schild steht: B – Besonderer Inklusionsbedarf. B ist gleich ‚Black‘, kapiert?“
Sina schaut zu Annika. Die hat sich auf einen Baumstumpf gesetzt und nestelt an ihren Verbänden herum.
„Aber warum B? Wir heißen doch Inklusionsklasse? Warum dann nicht I?“
„Alle ‚normalen‘ Klassen haben ein A. 5A, 6A, 7A, undsoweiter. Und wir sind eben die Resterampe. Die B. Wir sind die Outsider, verstehst du? Sie stecken alle Freaks in einen Raum im Keller. Bei uns gibt’s Fünftklässler wie Rico. Und andere, die im Prinzip erwachsen sind. Und bei vielen kann man’s gar nicht so genau sagen. Wir sind halt… sehr, sehr anders.“
Sina, Betül und Annika gehen weiter in Richtung Schule.
„Eins versteh ich trotzdem nicht“, sagt Sina. „Es wird doch gesagt, die Schule hier ist speziell für Menschen wie mich. Wie… uns. Dabei werden wir behandelt wie Schüler*innen zweiter Klasse. Hier dreht sich doch alles um die anderen. Die Aliens.“
Seit Sina hier ist, musste sie viele neue Dinge lernen. Schüler*innen der Schwarzen Klasse nennen sich selbst Die Family. Die in den anderen Klassen nennen sie Die Aliens. Die Aliens wohnen in Einzel-Apartments im Neubau, die Family schläft in Vierer-Zimmern im Untergeschoss des Altbaus. Aliens bekommen nach allem, was man hört, morgens, mittags und abends Buffet und eine Softdrink-Flatrate. Für die Family gibts im Prinzip Wasser und Brot. Und die Direktorin, Frau Dr. Döpfer rollt den Alien-Eltern den roten Teppich aus, während die Family nur ein Vorstellungsgespräch von maximal zwanzig Minuten bekommt. Sina und ihre Eltern waren damals stundenlang nach Krahenstein gefahren, hatten fast eine Stunde draußen auf dem Gang gewartet und nach ein paar Minuten geschäftsmäßiger Plauderei mit der Direktorin war alles schon wieder vorbei. Keine einzige Frage zu Sinas Schlafwandeln, warum sie Verbände an beiden Armen trägt, zu ihrer Vergangenheit. Das Empfehlungsschreiben von Frau Appelbaum, der verrückten Therapeutin, das vor Dr. Döpfner auf dem Tisch lag, schien genug über Sina zu sagen. Und noch während Sinas Mutter ihre Zettel mit Sinas Vorgeschichte ordnete, war das Gespräch schon wieder vorbei. Sina wurde gebeten kurz draußen zu warten, während die finanziellen Details besprochen wurden und nach ein paar Minuten waren sie schon auf dem Weg zurück zum Auto.
Im Prinzip hat Sina keinen blassen Schimmer, was in Krahenstein eigentlich läuft. Niemand hat sich bisher dafür interessiert, warum sie hier ist – weder die Schüler*innen der Family noch jemand von den Lehrkräften. War das nicht der Sinn des Ganzen? Dass ihr hier geholfen wird? Dass hier Menschen sind, die verstehen, was sie durchgemacht hat in den letzten Wochen und Monaten? Sie hat sich am Freitag in ihrer Klasse, in der Family, umgeschaut. Die meisten sind freundlich, nicken ihr zu, wechseln ein paar Worte mit ihr. Doch niemand hat sie etwas Persönliches gefragt. Weder Betül, noch Annika, noch irgend jemand anderes hat mehr von sich preisgegeben als das Lieblingsschulfach oder Meckerei über das miese Essen.
„Warum bin ich hier?“, denkt Sina, während sie zusammen das Außengelände von Krahenstein erreichen.
„Weißt du“, sagt Betül, „Die Aliens haben vielleicht das bessere Essen. Aber glaub mir, wir haben andere Privilegien. Du wirst es sehen. Bald.“
Inzwischen sind sie am Haupteingang angekommen. Ein Alien und seine Eltern drängen sich an ihnen vorbei in die Abendsonne.
„Schau!“ hört Sina den Vater rufen. „Die Krähen auf dem Baum! Ihnen verdankt Krahenstein seinen schönen Namen! Es heißt, hier oben gab’s schon immer Krähen.“
Annika kichert.
„Das ist mit den Krähen ist Bullshit“, sagt sie, als die Aliens außer Hörweite sind. „Krahenstein ist nicht nach den Krähen hier oben benannt. Sondern nach der Stadt unten am Fuß des Berges: Krahlheim. Und Krahlheim kommt nicht von Krähenheim, sondern vom althochdeutschen krota in Verbindung mit leim. Krota-leim bedeutet wortwörtlich übersetzt: Krötenschlamm oder Krötendreck. Und Krahenstein ist der Krötenstein.“
„Quak, quak!“, macht Betül und hüpft in der Hocke die letzte Stufe zum Family-Trakt hinunter.
Unten im Keller wartet eine gute Nachricht auf Sina. Sie zieht um. An ihrer Zimmertür hängt ein Zettel, unterschrieben mit „Dr. Niklas Sieg, Vertrauenslehrer im Inklusionsbereich“. Sina zieht tatsächlich in das Zimmer von Betül und Annika. Und Kess, der steinernen Sphinx…
Endlich! Nicht mehr allein!
Andererseits: Das Schlafwandeln ist ein Problem. Kann sie das irgendwie erklären?
„Wie cool ist das denn?“ Betül drückt Sina fest an sich. Dabei rutscht ihr Trenchcoat ein Stück zur Seite und Sina muss heftig schlucken. Betüls gesamter Bauchbereich ist durchsichtig. Sina könnte ihre Faust hindurchstecken.
Schnell schlägt Betül den Trenchcoat zurück und schaut Sina aufmunternd an:
„Es ist alles okay, Sina. Jetzt ist nicht die Zeit.“
Schnell nimmt sie Sina und Annika in ihre riesigen Arme.
„Endlich wieder vollständig! Die Musketiere. Alle für eine und eine für alle!“
Draußen ist es stockfinster. Beim Abendessen sind die Mitglieder der Family aufgekratzt und tuscheln ununterbrochen. Nur am Tisch der Musketiere löffeln alle schweigend ihre sehr mäßige Suppe. Zum ersten Mal bei einem Essen hier auf Krahenstein hat Sina das Gefühl dazuzugehören. Endlich! Sie ist Teil der Musketiere, auch wenn’s ein dämlicher Name ist. Und auch, wenn sie in Sachen Redefreudigkeit der anderen womöglich ein besseres Los hätte ziehen können. Besonders von Annika schwappt eine turmhohe negative Welle bis zu ihr hinüber. Da ist Wut aber auch jede Menge Angst.
„Irgendjemand gestorben?“, fragt sie schließlich und blickt Betül und Annika an. Schließlich bringt Betül Sina auf den neusten Stand:
„Sieg hat Annika vor dem Essen gesagt, dass sie heute Abend als zweite dran ist.“
„Was ist heute Abend? Ich dachte sonntags ist frei?“
„Tradition. Die Woche auf Krahenstein startet sonntags mit dem gemeinsamen Abendessen. Und danach gibt es ein Klassen-Meeting“
„Was bedeutet das? Was passiert da“
„Das hängt davon ab.“
Annika seufzt.
„Das hängt davon ab, ob ich an der Schule bleiben will oder nicht. Wer bleiben will, muss seine Geschichte teilen. Dafür gibts die Sonntags-Meetings. Man muss nicht alles auf einmal erzählen. Aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, da musst du anfangen. Und für mich ist das heute. Ich bin schon lange fällig.“
„Und wenn du es heute nicht kannst?“
„Dann ist es vorbei. Ich hab’s schon dreimal verschoben. Heute ist Döpfner dabei, das hat mir Sieg gerade gesagt. Heute muss ich es schaffen.“
Nach dem Essen räumt der Tischdienst das Geschirr ab und bringt die Reste zum Neubau in die große Küche. Während die meisten Family-Mitglieder für das anschließende Treffen gleich hierbleiben, müssen die Musketiere noch jemanden abholen. Die vierte Zimmergenossin wartet noch auf ihrem Holzwagen im Zimmer.
Was für eine dämliche Tradition.
„Komm mit“, sagt Annika und winkt Sina hinter sich her. „Jemand muss mir helfen.“
Der Weg ist nicht weit. Eigentlich müssen sie nur den Gang hinunter gehen und am Ende des Ganges links in den Flur mit den Schlafräumen.
„Was ist hinter der Tür auf der rechten Seite?“, fragt Sina, als sie in den Schlaftrackt abbiegen.
„Das ist der Panikraum“, sagt Annika. „Für Notfälle.“
„Was für Notfälle?“
„Alles Mögliche. Und alles Unmögliche auch.“
„Was bedeutet das?“ Sina bliebt vor der Tür stehen. „Ständig macht ihr seltsame Andeutungen und hört dann auf weiterzureden!“
„Weil einige Dinge in der Normalzeit tabu sind.“
„Normalzeit? Was heißt das?“
„Normalzeit ist das, was wir alle wiederhaben wollten, als wir nach Krahenstein gekommen sind. Es ist das, was die Aliens drüben im Neubau 24/7 haben. Aufstehen, Schule, mit Freund*innen quatschen, Essen, Schlafen, Geburtstage, Weihnachtsgeschenke, Heiraten, Kinderkriegen, Diäten, Falten, Altwerden. Für die Aliens ist das normal. Für uns ist es ein schöner Traum. Die Normalzeit ist unser schöner Traum. Wer will da schon geweckt werden?“
„Und darum reden wir nicht über… alles Andere?“
„Es ist eine Tradition.“
„Eine Tradition, so wie Kess…“
„Genau, so wie Kess.“
„Und wann ist keine Normalzeit? Wann reden wir drüber?“
„Jetzt. Und davor hab ich Angst.“
Als sie im Zimmer ankommen, hilft Annika, den Wagen mit der steinernen Sphinx aus der Zimmerecke zu schieben, bliebt dann aber in der Tür stehen.
„Tust du mir den Gefallen und schiebst sie alleine zum Gemeinschaftsraum? Ich muss hier noch… Ich will mich vorbereiten. Auf das Meeting.“
„Brauchst du Hilfe? Kann ich was tun?“
„Ich brauche nur etwas Zeit alleine. Danke, kriege ich hin.“
Sina schiebt Kess alleine über den Flur. Der Wagen lässt sich überraschend leicht steuern, nur in der Abbiegung vom Schlaftrackt in den Flur zum Gemeinschaftsraum muss Sina etwas hin- und her rangieren.
„Sieht aus, als wärst du gut hier angekommen.“
In der offenen Tür zum Panikraum steht die rothaarige Frau.
Sina, die gerade an Kess’ Hinterteil herumschiebt, lässt los und stützt ihre Hände in die Seiten.
„Da bist du ja wieder!“
„Na klar! Mir knurrt der Magen und ich hab vergessen, dass ihr heute den Gemeinschaftsraum blockiert.“
„Ach? Und was willst du dann da drin?“
Sina zeigt in den Panikraum. Sie kann durch die halb geöffnete Tür nicht allzu viel erkennen, allerdings scheint der Raum dahinter groß und vollständig leer zu sein.
„Gucken, ob jemand hier ist. Hin und wieder stoße ich auf eine arme Seele, die etwas Trost gebrauchen kann. Ach so, und ich warte, dass drüben bis die Luft rein ist und ich ein paar Reste finde.“
„Du hast mich vorgestern angelogen. Ich weiß nicht, wer du bist, aber eine Weihnachtshexe aus einer alten Schullegende bist du jedenfalls nicht! Macht’s dir eigentlich Spaß, Neuankömmlinge zu veralbern? Ihnen falsche Lehrernamen zu nennen oder zu behaupten, die Nachricht an der Tür komme von Kess?“
Sina tritt heftig gegen die steinerne Sphinx, so dass der Wagen ein paar Zentimeter zur Seite rollt.
„Meine Güte“, stöhnt Grimm. „Gestern im Traum warst du netter zu mir!“
„Du kennst meine Träume? Du warst wirklich da?“
„So wirklich wie jetzt auch.“
„Eigentlich müsse ich total sauer sein! Herr Niederlage! Beinahe hätte ich Dr. Sieg so genannt!“
„Niklas wird’s überleben. Und wenn nicht, dann schick ihn zu mir. Ich weiß schon, wie ich ihn ruhig stelle.“
„Er kennt dich also? Wenn ich ihn nach dir frage, dann wird er mir sagen, wer du bist?“
„Frag ihn besser nicht. Er wäre total beleidigt. Er würde denken, dass ich ihn… naja… ein bisschen kontrolliere.“
„Und? Ist das so?“
„Das ist doch ganz normal! Er hat’s eben noch nicht raus, wie man als Lehrer mit seinen Schüler*innen spricht. Ich könnte ihm so viele gute Tipps geben! Aber er würde sagen, dass ich UN-MÖG-LICH bin. Dass ich ihm ständig in seinen Job reinquatsche. Dass ich immer alles besser weiß – was übrigens stimmt. Und er würde behaupten, dass ich glaube, ich hätte ein Monopol auf… auf… Dinge wie dich.“
„Dinge?!“
„Wie auch immer. Euer Meeting fängt gleich an und ich wollte dich eigentlich nur bitten, auf Annika aufzupassen.“
„Du meinst, weil sie gleich Was-auch-immer machen muss?“
„Weißt du, Niklas und die dumme Döpfner… Ernsthaft, sie meinen’s ja gut und so… Aber ihr Gefühl für Timing ist nicht das allerbeste. Ich würde dafür sorgen, dass Annika heute verschont bleibt. Okay? Sorg dafür. War nett mit dir zu plaudern, aber ich muss weiter. Abendbrot suchen.“
„Nein, warte! Du hast gestern gesagt, dass Kess der Schlüssel ist. Wofür ist sie…“
Wumms. Bevor Sina weiterreden kann, ist Grimm im Panikraum verschwunden und hat die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen.
Als Sina Kess in den Gemeinschaftsraum schiebt, haben sich bereits alle um den großen Tisch herum gesetzt. Auch Döpfner und Niederlage sind da. Sina lässt Kess recht respektlos an einen freien Platz vor dem Tisch rollen, bis die Sphinx geräuschvoll gegen den Tisch rumst. Sina blickt verstohlen in die Runde. Kann sie schon allen Gesichtern Namen zuordnen? Da sind die beiden Lehrer*innen, klar, und da ist Betül. Außerdem Ben, der Idiot von gestern morgen, und… Sie überlegt. Ola, Rico, Chris und zwei andere, deren Namen sie vergessen hat. Die fünf sieht sie immer zusammen, obwohl sie in verschiedenen Zimmern schlafen und unterschiedlich alt sind. Ihren Frisuren und Klamotten nach könnten sie alle Mitglieder einer mittel-erfolgreichen Metal-Band sein. Chris mit Tendenz zum Glamor-Satanismus, Rico sieht aus, als hätte er alle Friseure aufgefressen, die ihm zu nah gekommen sind. Anschließend hat er seine wilde Mähe in ihrem Blut getränkt. Ola wiederum besitzt beeindruckend böse geschminkte Augen und trotz ihrer mageren Statur würde Sina schreiend wegrennen, würde sie jemanden wie Ola nachts allein im Dunkeln treffen.
„Sina, gut dass du da bist“, wird sie von Niederlage in ihren Überlegungen unterbrochen und schnell ergänzt er, nachdem er einen bohrenden Seitenblick von Frau Döpfner geerntet hat:
„Wo ist Annika, war sie nicht bei dir? Es ist bereits fünf nach acht.“
„Sie bereitet sich noch auf, äh, gleich vor. Können wir ohne sie anfangen? Sie ist sicher bald da.“
Die Direktorin ist sichtbar genervt, nickt dann aber.
„Sie sollte sich besser beeilen. Lass uns beginnen, Niklas.“
„Wie du meinst, Dorothea.“
Neben Sina prustet Betül in den Ärmel ihres Overalls, der heute zitronengelb ist.
„Dorothea…!“, wispert sie, „das macht mich jedes Mal fertig.“
„Ben!“ Niederlage versucht das unterdrückte Gekicher aus der Ecke der Musketiere zu überspielen. „Was möchtest du uns heute erzählen?“
Ben, der Idiot, steht auf, ohne dass Sina seinen Augen folgen kann. Schaut er an die Decke? An die Wand?
„Ich.“ Pause. „Ich.“ Wieder Pause. „Heute bin ich aufgestanden.“
Einige klopfen aufmunternd auf den Tisch.
Ben schiebt seine blonden Haare aus dem Gesicht und er scheint Sina zu fixieren. Dann versteht sie, dass er gar nicht zu ihr, sondern an ihr vorbei schaut. Doch wohin? Hinter Sina steht nur eine alte Mikrowelle auf der Arbeitsplatte, in deren schmutziger Glasscheibe sich der Raum und einige Mitglieder der Family spiegeln. Inklusive ihm selbst. Geht es ihm darum? Ernsthaft? Sein eigenes Spiegelbild? Was ist los mit ihm? Muss er seine Frisur checken oder hat er einfach Sehnsucht nach sich selbst?
„Ich.“ Pause. „Mich hat es gefreut, dass ich.“ Lange Pause.
Ben wird von Döpfner unterbrochen.
„Ben. Macht es dir Freude, hier bei uns zu sein? Bei deinen Mitschüler*innen? Unter anderen Leuten?“
Ben zögert. Er ist merklich verunsichert. Schließlich nickt er.
„Ja. Es macht mir Freude. Immer noch.“
Schuldbewusst senkt der den Kopf.
Döpfner und Niederlage wechseln einen bedeutungsvollen Blick. Schließlich steht Niederlage auf und tätschelt Ben die Schulter.
„Ich verspreche dir, Junge. Das geht vorbei. Bald sind wir dir egal.“
Dann deutet er auf Sina.
„Ben, erklärst du deiner neuen Mitschülerin, warum es wichtig ist, dass wir dich nicht interessieren? Warum du dich irgendwann ganz auf dich selbst konzentrieren musst?“
„Ich.“ Pause. „Ich bin ein Narziss.“
„Gut. Erklär es Sina: Was ist ein Narziss?“
„Ich.“ Pause. „Ein Narziss wie ich…“ Pause. „Ist ein Wesen, das sich nur für sich selbst interessiert!“
„Und warum sind Narzisse so wichtig, Ben? Warum bist du wichtig?“
„Weil ich, ich, weil ich irgendwann… Ich werde ein…“
Döpfner, die Bens Gestotter unruhig auf dem Stuhl hin- und her rutscht, verliert endgültig die Geduld.
„Junge! Jetzt sag es! Was ist dein größter Wunsch? Was willst du werden, seitdem du denken kannst?!“
„Rettungssanitäter!“ Ben sackt in sich zusammen und beginnt zu weinen. Niederlage hilft ihm zurück auf seinen Stuhl und streichelt Bens Rücken.
„Quatsch, Ben!“ Döpfner haut mit der Hand auf den Tisch. „Du bist ein Narziss! Du interessierst dich nicht für andere! Rettungssanitäter, so ein Quatsch! Du bist du fasziniert von dir selbst, du willst in dein eigenes Spiegelbild hineinkriechen! Und dann, irgendwann, tust du das auch und dann wirst du ein Spiegelgeist! Ist doch richtig?“
Sie schaut fragend zu Niederlage. Der zuckt mit den Schultern, nickt dann aber mit säuerlicher Miene.
Die Direktorin lässt sich seufzend in ihren Stuhl fallen. Ihr Gesicht zeigt deutlich, dass sie an einem Sonntagabend sehr viel lieber irgendwo anders wäre, als beim Abendmeeting der Schwarzen Klasse. Sina spürt eine Welle aus Frust, Hochmut und abgrundtiefer Genervtheit. Doch Döpfner reißt sich zusammen.
„Leute, Leute, Leute… Also… Danke trotzdem, Ben. Way to go, wie der Amerikaner sagt. Will noch jemand etwas sagen, nein, wunderbar. Nächster Punkt: Wo ist jetzt diese verdammte… Annika, richtig?“
Sina hat nicht die geringste Ahnung, was hier gerade gelaufen ist, aber eins ist sicher: Annika sollte es erspart werden. Hektisch schaut sie sich im Raum um und entdeckt schließlich im Geschirrkorb neben der Spüle, wonach sie gesucht hat.
„Ähm, also…!“ Sina steht mit erhobenem Arm auf und schreiet zur Spüle.
„Ich weiß, ich bin neu und bestimmt gibts hier für alles eine genaue Reihenfolge. Aber ich bin ja auch hier… wegen… so gruseligem Kram und darum wollte ich fragen: Bin ich eigentlich die Einzige, die das hier kann?“
Dann wickelt sie sich den Verband von ihrem linken Unterarm und stößt das längste Brotmesser, das sie im Geschirrkorb findet, durch die babyfaustgroße klaffende offene Stelle unterhalb ihrer Faust.
„Ernsthaft Leute! Kann man da nix machen? Will mich mal jemand aufklären, was das alles bedeutet?“