Im kalten Winterdämmerlicht
Verbergen Dienstagsabends sich
Die jungen Ghule tief im Schoß
Vom elterlichen Erdgeschoss
Und ziehn im ganzen Bungalow
Die Rollos tief herunter, so
Dass niemand draußen wird gewahr:
Es ist gar kein Erwachs’ner da!
Denn Mutter und der werte Vater
Gehen heut’ zum Paarberater
Keins der Kinder weiß genauer
Was das soll, und wenig schlauer
Macht den Nachwuchs, dass die Alten
Günter ins Gesche’n einschalten
„Krah!“ ruft Günter, als er spät
Um das Haus `ne Runde dreht
Und im Innern, statt zu pennen
Beide Kids durchs Zimmer rennen
Eigentlich sollt er nur schauen
Ob man diesen Kindern trauen
Ob man, statt Betreuung buchen
Auf sie zählt. Tja. Pustekuchen
Und was nun? Zwar weiß die Krähe:
Eltern wären in der Nähe
Doch die Kids zu denunzieren
Würd die Ehe sabotieren
„Hört mich an“, ruft er von draußen
„Eure Eltern brauchen Pause!
Ab ins Bett, ihr jungen Ghule
Morgen früh ist wieder Schule!“
„Es war einmal eine wunderschöne Frau, die lebte, entgegen der Sitte ihrer Zeit, ganz allein in einer Hütte am Rande der Stadt. Ihre Tage verbrachte sie ganz allein für sich in der Hütte, doch hin und wieder, wenn die Nacht hereinbrach, schlich sie sich aufs dem Haus und fraß Menschen.“
„Sie Aẞ Menschen“, korrigiert Persephone. „Menschen fressen ist eine abwertende Beschreibung für eine jahrtausendealte Tradition.“
Persephone und Medusa Kluge sitzen rechts und links von Günter auf dem Sofa im Reihenhaus der Ghulfamilie, das sich von den Nachbarhäusern nur insofern unterscheidet, dass im Vorgarten ein großes schwarzes Schild mit der Aufschrift „Kluge Bestattungen“ steht. Es wurde in der Nachbarschaft schon viel darüber gelästert, was genau eine Kluge Bestattung von einer nicht so klugen Bestattung unterscheidet, aber Cynthia Kluge, die Mutter von Persephone und Medusa, ist in dieser Sache humorlos.
„Unser Nachname ist Kluge, also heißen wir ‚Kluge Bestattungen‘. Fertig.“
Eigentlich hatten Kluges Günter nur gebeten, an dem Abend kurz nach dem Rechten schauen, solange die Eltern weg sind, aber das, was er von draußen durch einen Spalt in der Jalousie sehen konnte, hatte ihn davon überzeugt, dass man die Sache so nicht weiterlaufen lassen konnte. Da Medusa Kluge mit ihrem Hang, Dinge zu versteinern, sowieso ein wenig mehr Aufsicht benötigt, als andere Kinder, hatte er beschlossen, dass die Kinder bis zur Rückkehr der Eltern Betreuung benötigen und Beffaná angerufen.
„Kannst du das nicht alleine?“ hatte sie gefragt, denn eigentlich wollte sie in die Wanne und dann ins Bett. Obwohl sie nicht zugeben wollte, vermisste sie offensichtlich Helena, das kleine Zicklein, das mit der Knusperhexe Nibbel weggegangen war. Günter hatte mehrmals mit ihr darüber reden wollen, aber sie hatte nur abgewunken.
„Alles okay“, hatte sie gesagt. „Das einzige, was zählt ist, dass es Helena gut geht.“
Heute Abend aber war Günter hartnäckig geblieben und hatte darauf bestanden, dass Beffaná vorbeikommt. Er hatte noch sein letztes Treffen mit den beiden Mädchen im Kopf und wollte auf jeden Fall vermeiden, dass er ohne erwachsene Verstärkung versteinert wurde.
„Okay“, hatte Beffaná gesagt. „Ich bin in einer halben Stunde bei Dir, wenn ich den Bus kriege. Godzilla muss im Garten bleiben und darf nicht aufstehen, die Spinnen haben Ruhezeit.“
Und auf Günters Frage, ob sie nicht den neuen, alten Besen nehmen könne, den Nibbel dagelassen hatte, hatte sie nur wortlos aufgelegt.
Jetzt steht Beffaná in Kluges Küche und macht sich schlecht gelaunt einen Tee, während Günter den Mädchen eine Märchen aus „1001 Ghul-Märchen“ vorliest.
„Hier steht… wunderschöne Frau… blabla…, allein in einer Hütte am Stadtrand… blabla… FRAẞ Menschen.“
„Das ist eine alte Auflage“, insistiert Persephone. „Heute sagen wir Aß.“
„Aber du isst doch eh kein Menschenfleisch!“ sagt Günter. „Du bist doch Vegetarierin!“
„Veganerin“, korrigiert Persephone. „Und trotzdem mag ich es nicht, wenn andere meine Leute mit Tieren gleichsetzen!“
„Okayokayokay!“, sagt Günter und dreht sich zu Medusa um. „Auch noch was zu meckern, oder kann weiter gehen?“
„Lies weiter“, sagt Medusa. „Persephone ist manchmal `n bisschen sehr woke. Ich mag FRAẞ.“
„Gut, sagt Günter. „Also weiter.
„Allein in einer Hütte, blabla, doch hin und wieder, wenn die Nacht hereinbrach, schlich sie sich aufs dem Haus und Aẞ Menschen. Je nach Laune und Wellenschlag waren das mal jüngere und mal ältere Menschen, mal dicke und mal dünnere, und es waren auch nicht besonders viele. Höchstens drei pro Monat. Und weil sie sorgfältig darauf achtete, nur garstige und einsame Menschen zu verspeisen, fiel das sehr lange niemandem auf, vielleicht tat sie dem einen oder der anderen sogar einen Gefallen.
Nun kam der Tag, als ein Kaufmann an ihre Tür klopfte, um ihr Datteln und Olivenöl zu verkaufen. Es war ein junger Mann mit gescheit blitzenden Augen und es stellte sich heraus ,dass er schon seit einigen Jahren durch das Land zog, um an Haustüren seine Waren feilzubieten. Die schöne Ghula wähnte eine praktische Gelegenheit, einen schnellen Bissen zu bekommen und bat den Kaufmann herein. Doch kaum hatte er an ihrem Tischchen im einzigen Raum der Hütte Platz genommen und damit begonnen, von seinem Leben, seinen Datteln und seinem hervorragenden Olivenöl zu erzählten, da verliebte sie sich in ihn. So etwas kommt übrigens andauernd vor und ist auch der Grund, warum die Ghulas und Ghuls inzwischen fast ausgestorben sind. Denn sie sind schnell fasziniert von ihren Opfern und verlieben sich andauernd in sie. Und was man liebt, will man nicht essen.
Günter unterbricht. „Ist das so? Verlieben sich Ghuls häufig in Menschen“
„Guck mich nicht an, ich bin bloß adoptiert“, sagt Medusa. „Ich hab mich in Micha aus dem Kindergarten verliebt, aber ich durfte ihn nicht einladen, damit ich ihn nicht aus Versehen zu Stein mache. Und jetzt darf ich auch nicht mehr in den Kindergarten.“
„Aber das ist ja schrecklich!“ Sagt Günter. „Was machst du denn den ganzen Tag?“
„Mama bei den Leichen helfen. Ist schon okay. Und sie ist ganz froh, dass ich nicht heimlich nasche, wenn sie nicht hinguckt. So wie Persephone früher.“
Persephone funkelt Medusa böse an und zeigt ihr mehr oder weniger gut versteckt die Faust. Medusa legt drohend ihre Hand an die Brille.
„Schluss jetzt“, sagt Günter. „Also. Blabla… was man liebt, will man nicht essen…
Der Kaufmann kam von nun an immer wieder an ihre Tür und es dauerte nur einige wenige Wochen, dass er sie fragte, ob sie seine Frau werden wolle.
„Sehr gern“, sagte sie, „aber nur unter der Bedingung, dass ich das Kochen übernehme und du niemals fragst, welche Zutaten ich verwende.“
Dem Kaufmann sollte es nur Recht sein, dass sie ihm die lästige Pflicht des Kochens abnahm und er merkte bald, dass sich bereits kurz nach ihrer Hochzeit noch andere Dinge ins Positive wandten. Wann immer der Kaufmann, der mit seinem kleinen Warenbestand in die Hütte der schönen Ghula eingezogen war, Konkurrenz von einem anderen Hausierer bekam, so verschwand dieser Konkurrent recht schnell wieder von der Straße, ohne dass jemand wusste, wohin er gegangen war. Auch die Staatsbeamten, von denen fliegende Händler wie er sonst häufig gepiesackt wurden, ließen ihn ab jetzt in Ruhe und wurden in der Gegend niemals mehr gesehen. Das Geschäft des Kaufmanns florierte und schon bald konnte er mit seiner Frau in ein großes Haus mitten in der Stadt umziehen. Sie bekamen zwei liebreizende Töchter und der Kaufmann wähnte sich als der glücklichste Mann auf der ganzen Welt.
„Habt ihr irgendwo Eis?“
Beffaná steht mit ihrer Teetasse in der Tür zum Wohnzimmer. „Ich hab Hunger. Noch jemand?“
Die beiden Mädchen nicken begeistert
„Ist unten im Keller“ ruft Medusa und springt auf, um es zu holen. Auch Persephone steht auf.
„Ich hol nur kurz meine Tabletten“ sagt sie und rennt in Bad.
„Damit sie’s besser verträgt“, erklärt Beffaná, weil Günter sie ratlos anschaut. „Vegane Ghuls brauchen Einiges an Nahrungsergänzung und zusätzlich Medikamente, um nicht-menschliche Nahrung zu vertragen.“
„Ah okay. Ganz schön kompliziert.“
„Stimmt“, sagt Beffaná. „Aber glaub mir, Menschenfleisch organisieren ist auch nicht gerade einfach. Ghuls haben’s ganz schön schwer heutzutage.“
Günter nickt.
“Was meinst du, hat das wohl auch was mit der Paartherapie zu tun, die Kluges gerade machen.“
„Man hört ja“, sagt Beffaná, „sie gehen gar nicht zur Paartherapie, sondern zum Tangokurs, Und Cynthia will das geheim halten wegen ihres seriösen Images als Bestattungsunternehmerin.“
„Wie? Du meinst, die haben mich angelogen und gehen statt zur Therapie zum Tanzen?“
„Ist auch irgendwie Therapie“, sagt Beffaná. „Vielleicht müssen sie einfach mal raus.“
Als die Mädchen zurück sind und alle eine Schüssel mit Eis vor sich stehen haben, liest Günter weiter:
„Eines Tages, als der Kaufmanns mit seinen Töchtern bereits beim Essen saß, fand er einen Finger in seiner Suppe… Args!“
„Lies weiter“, ruft Medusa. „Das ist die beste Stelle!“
„Hm. Finger in der Suppe… Und wie um gleich jeden Zweifel an der Herkunft des Fingers im Keim zu ersticken, hing an dem Finger noch der Siegelring seines größten Widersachers, des Ölhändlers Ahmed Ibn Texaco. Der Kaufmann lief in die Küche zu seiner Frau und rief:
„Du liebe, gute Frau, hier, witzige Geschichte: Der Finger meines Erzfeindes war in meiner Suppe und jetzt frage ich mich, ob ich kurz rüberflitzen und ihm Bescheid sagen sollte. Denn ja, er ist mein Feind und ich hasse ihn, aber so einen Finger braucht man doch recht häufig, zumal noch sein Siegelring dranhängt.“
Seine Frau schaute ihn lange und durchdringend an und sagte dann:
„Du brauchst nicht hinüberzugehen, lieber Mann, denn Ibn Texaco liegt bei uns im Keller in der Kühlung.“
„Willst du mal unsere Kühlung sehen, Günter?“ fragt Medusa. „Ist aber gerade niemand drin. Oder ich zeig dir die Truhe, wenn wir das Eis zurück bringen. Da ist noch Hein Stück von dem Herrn Sauer von letzter Woche drin. Mama sagt, das ist unser Sauer-Braten.“
„Ich verzichte“, sagt Günter und liest weiter.
„Jetzt, nachdem ihr Mann den Ring in der Suppe gefunden hatte, erzählte seine Rau ihm alles. Von ihren nicht mehrheitsfähigen Ernährungsgewohnheiten, wie sie jahrelang versucht hatte, nur Bösewichter und Rivalen ihres Mannes aufzufr… essen, und wie schwer es in einer Stadtgesellschaft voller feinfühliger Hipster war, sich selbst und seine Töchter mit ausreichend Menschenfleisch zu versorgen. Der Kaufmann brauchte sehr lange, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, mit einer Menschenfresserin …“
„Bitte!“ räuspert sich Persephone.
„Mit einer Menschen-ESSERIN verheiratet und zwei Menschenfr… esserkinder bekommen zu haben. Und beim Abendessen, als er sich gerade wieder gefangen hatte, stieg die bohrende Frage in ihm auf, was er ohne sein Wissen die letzten Jahre über von seiner Frau zu Essen bekomme hatte. Doch sie beruhigte ihn, es sei ganz normales Nicht-Ghul-Essen gewesen bis zu dem Tag, als sie ihre und seine Suppenportion verwechselt hatte und der Schwindel aufgeflogen sei.
„Aber!“ rief der Kaufmann, „der Ring! Wie konntest Du so unvorsichtig sein und den Siegelring von Ibn Texaco mitkochen! Eine unserer Töchter hätte sich daran verschlucken können! Sie hätten daran sterben können!“
Darauf wusste die schönen Ghula nichts zum sagen, denn sie fühlte sich schrecklich wegen ihrer Unachtsamkeit. In der Nacht schlich sie aus dem Haus, um ihren Kummer mit dem Blut eines lokalen Waffenfabrikanten zu ertränken, doch der furchtbare Kerl hatte eine Pistole unter dem Kopfkissen und schoß… ALSO!“
Günter bricht ab.
„Das ist ja eine ganz furchtbare Geschichte!“
„Sie ist eben schon sehr alt“, sagt Persephone. „Junge Ghuls sollen lernen, dass man Menschen sehr sorgfältig zubereiten muss, damit man keine Ringe oder andere gefährliche Sache mitkocht. Guck hier, das Ende:
„Gibt acht auf unsere Töchter“, keuchte sie, bevor sie ihr junges Leben aushauchte. „Und denk immer daran, sie brauchen Menschenfleisch. Am besten fein püriert, damit sowas wie mit dem Ring nicht wieder passiert.“
„Beffaná!“ kräht Günter. „Hast du gewusst, was für grauselige Geschichten Ghuls ihren Kindern erzählen.
„Nein“, sagt Beffaná. Sie hat, sehr ungewöhnlich für sie, ein Handy in der Hand, um ein Fotos von Günter und den beiden Mädchen auf dem Sofa zu machen.
“Was soll’n das werden, Beffaná?“
„Nichts. Ich hab nur gerade gedacht, wie gut du das alles machst und dass ich heute überhaupt nichts tun musste außer Eis essen.“
„Tut mir leid“, ruft Günter. „Willst du auch noch eine Geschichte vorlesen?
„Nein!“ sagt Beffaná. Klingt sie fröhlich, oder tut sie bloß so?
„Alles gut, Potzblitz. Alles gut.