Der erste Tag der neuen Schulwoche beginnt so, wie Sinas erster Schultag: Sie wartet vor einer Tür. 

Heute ist es die große, vermackelte Holztür des Lehrer*innenzimmers. Wie alle Schulräume befindet es sich im Altbau von Krahenstein. Der Altbau besitzt inklusive dem Dachgeschoss vier Stockwerke und das Lehrer*innenzimmer liegt ganz oben im Dachgeschoss. Annika meint, das sei ganz bewusst so angelegt. Denn so bringen  Schüler*innen der schwarzen Klasse, wenn sie nach oben gelangt sind, nur atemlose, stotternde Sätze heraus. Und stehen vor den Lehrkräften immer wie die letzten Deppen da. 

Sina sitzt. Und sie sitzt allein. Die Tür ist noch verschlossen und das ist auch kein Wunder. Es ist kurz vor Acht, der Unterricht beginnt in Krahenstein erst um viertel vor Neun. Niederlage hat sie auf Acht bestellt (wahrscheinlich, damit er das Gespräch schnell hinter sich hat), ist aber noch nirgends zu sehen. Gegenüber der hölzernen Tür ist ein schmaler, hoher Spiegel an der Wand angebracht. Eine ziemlich schlaue Idee, denkt Sina, so können die Lehrkräfte ein letztes Mal ihr Outfit checken, bevor sie in ihre Klasse hetzen. Dann erinnert sie sich an die paar Lehrkräfte, die sie bisher kennengelernt hat und zieht den Gedanken zurück. Hier checkt niemand irgendwas und als allerletztes das Outfit. Herr Niederlage trug in den letzten Tagen immer dieselbe schlabbrige Jeans, die mit einem Gürtel an seiner dürren Hüfte festgezurrt ist. Trotz allem zieht er sie andauernd hoch. Kein Wunder! Seine Hosentaschen sind vollgestopft wie bei einem Dreijährigen. Es würde Sina nicht überraschen, wenn er darin neben Stöcken und Steinchen auch jede Menge  verklebte Karamellbonbons und zwei tote Frösche herumtragen würde. 

Was ihn bewogen hat, ausgerechnet Lehrer zu werden, wird wohl immer sein Geheimnis bleiben. Er ist schüchtern, unsicher und nuschelt stark. Der scheint eine Menge zu wissen, jedoch hat er überhaubt keine Skills darin, dieses Wissen an andere weiterzugeben. Seine Fächer hier sind Deutsch, Englisch, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Und das ist ein Glück, denn da kann er nicht viel falsch machen. 

Pünktlichkeit ist auch nicht seine starke Seite. Sina schaut aufs Handy: 8:05 Uhr. Puh. Andererseits ist sie eh seit vier Uhr wach. Sie hat wenig geschlafen, aber ganz so schlimm wie in den Nächten vorher war es nicht. Betül schläft trotz des ständig piependen Handys wie ein Stein und Annika hat sich Oropax besorgt. Nachdem Sina in ihrem üblichen Halbstunden-Rhythmus tatsächlich jedesmal recht schnell wieder eingeschlafen ist, fand sie sich beim Handy-Alarm um vier direkt neben Kess, der steinernen Sphinx, am Boden liegen. Danach beschlosss sie, dass die Nacht für sie vorbei war. 

An das Erwachen in ungewöhnlichen Positionen und an seltsamen Orten hat sie sich inzwischen gewöhnt. Ein kurzer Kleidungs- und Frisur-Check heute morgen verlief ohne böse Überraschungen und sie konnte im Bad keinerlei blaue Flecken oder neue, unsichtbaren Stellen entdecken. 

Wenn Sina morgens in den Spiegel schaut, fällt ihr Blick als erstes auf ihre Haare. Bis zu der Nacht, in der sie sich den Kopf rasiert hat, reichten ihre Haare bis unter ihre Schulterblätter. Sie waren dunkelblond und irgendetwas zwischen wellig und wild (je nachdem, was sie gerade weniger gebrauchen konnte). Inzwischen reicht es wieder für eine Kurzhaarfrisur und Sina hat sie rabenschwarz gefärbt. Meistens trägt sie eine petrolfarbene Beanie-Mütze darüber, auch im Unterricht. Obwohl Sina eine Brille braucht, hat sie sie nie auf, und Kontaktlinsen sind ihr zu nervig. Lesen ist kein Problem, sie ist kurzsichtig. Und weiter entfernt (zum Beispiel auf der Tafel vorne) gibt es meistens wenig, was wirklich interessant ist. 

Früher – bevor  alles anfing – wurde Sina von ihrer Freundin Chrissie oft gesagt, sie habe klare, feine Gesichtszüge und einen schlanken Hals. Das gefiel ihr. Seit Sina zum ersten Mal mit Verbänden an den Unterarmen in die Schule kam, gab es wenig mit Chrissie und den anderen zu besprechen. Natürlich haben sie gefragt, aber… Es gibt Dinge, die sind zu weird, um darüber zu reden. Und zu wichtig, um es nicht zu tun. Das ist Kacke, ja. Und trotzdem ist es ist die Wahrheit. Es gibt kein Tutorial um damit klarzukommen und niemand hat Schuld, wenn Freundschaften daran zerbrechen. Eigentlich ist zerbrechen das falsche Wort. Sinas Freundschaften in der alten Klasse sind nicht zerbrochen. Es gab keinen Bruch, keinen Knall, keinen schlimmen Streit. Nach und nach, während Sina immer müder und gereizter wurde, sind ihre Verbindungen zu den anderen löchrig geworden wie ihre Arme. Und dann einfach eingeschlafen.  

Sina könnte das Schicksal verfluchen oder die Natur oder Gott. Doch wahrscheinlich ist das alles einfach so passiert. Purer Zufall. Das jedenfalls war die Vermutung der vierarmigen Therapeutin Aranea Appelbaum, die ihnen Krahenstein empfohlen hatte. Sina war noch zweimal alleine zu ihr hingegangen nach dem ersten Termin mit ihren Eltern. Die Therapeutin hatte Sina viele Fragen gestellt, sie einige Fragebögen ausfüllen lassen (die überhaupt keinen Sinn ergaben), und ihr Unmengen an Tee aufgenötigt, der nach duftendem Heu roch und auch so schmeckte. Über Krahenstein dagegen hatte sie ihr fast gar nichts erzählt, außer dass sie früher selbst die Schule besucht hatte. 

„Ich habe deinen Eltern alles gesagt“, meinte sie nur. Und: „Den Rest musst Du mit eigenen Augen sehen, um es zu verstehen. Über Krahenstein nur zu hören ist wie… wie ein erzähltes Mittagessen.“

Kann gut sein, dass die Therapeutin Sina für das, was gestern Abend passiert ist, sehr gelobt hätte. Sina hat gehandelt und Annika vor der dummen Döpfner gerettet. Damit ist sie endgültig Teil der Musketiere geworden und, hey: Das ist keine schlechte Bilanz für Sinas dritten Tag und ihr erstes Normalzeit-Break, denn so nennen sie in Krahenstein die sonntäglichen Meetings, in denen die Schüler*innen der Schwarzen Klasse die Sache, also ihre weirde Seite besprechen.

 Sina hat die ganze Geschichte Annikas ewige Dankbarkeit gebracht und – nicht so cool – das Gespräch mit Niederlage heute Morgen. 

Als Betül und Sina gestern Abend Kess zurück in den Schlaftrackt schoben, kam ihnen Annika bereits entgegen. Rote Augen, verquollenes Gesicht, große Fragezeichen auf der Stirn. 

„Es ist alles gut!“, hatte Betül verkündet und Annika in den Arm genommen. „Bedank dich bei der Heldin der Stunde und ihrem grandiosen Messertrick!“ 

Tatsächlich war der Abend nach Sinas Auftritt, bei der sie sich ein großes Messer in einen ihrer Arme gesteckt hatte, sehr schnell vorbei. Es schien nicht so, dass alle sonderlich erschrocken waren über das, was sie gesehen hatten. Beeindruckt waren sie davon, dass Sina die Regeln gebrochen hatte. Regeln, die auf keinem der Merkblätter standen, die Sina zur Einschulung bekommen hatte. Die aber trotzdem absolut heilig waren und deren Bruch, das sah Sina an den Gesichtern der anderen, Konsequenzen haben würde.

Annika drückte Sina fest an sich und dann, während sie alle sich zum Schlafen fertig machten, noch weitere vier oder fünfmal.

Endlich kommt Niederlage um die Ecke, aber er ist nicht allein. An seiner Seite trottet Betül, und sie sieht nicht besonders glücklich darüber aus. Als sie vor Sina stehen bleiben, macht Betül hinter Niederlages Rücken eine Handbewegung, die irgend etwas wie Nicht-mein-Idee! bedeutet und gemeinsam gehen die drei den Gang herunter bis zu einem Treppchen, das in das kleine Türmchen von Krahenstein führt. Niemand stört hier und da Niederlage kein eigenes Büro hat, scheint das hier sein Ort für vertrauliche Unterredungen zu sein.

„Hätt ich gewusst, dass Betül mitkommt, hätten wir auch gemeinsam gehen können“, sagt Sina, doch sofort winkt Niederlage ab.

„Das war eine sehr spontane Idee“, sagt er und zu Sinas Überraschung stottert er nicht. In kleinen Gruppen klappt das Sprechen besser.

„Ich möchte, dass Betül dir die… die Regeln erklärt…“

„Okay“, denkt Sina, „ein bisschen Stottern ist noch da.“

„I-Ich denke, es macht mehr Eindruck, wenn du sie von ihr hörst.“

Betül beginnt: 

„Es gibt ein paar Regeln. Keine Ahnung. Ist einfach so.Und sie funktionieren im Prinzip ganz gut, solange sich alle(!), auch Frau Döpfner…“ 

…sie schaut kurz zu Niederlage…

„… alle(!), auch DU daran halten. 

Erstens: Es gibt die Normalzeit und die Meetings. In den Meetings wird über… die Sache gesprochen. In der Normalzeit nicht.

Zweite Regel: Wenn jemand nicht über ihre… Sache sprechen will, dann ist das okay. Kapiert?!“

Betüls Blick geht zu Sina, dann rüber zu Niederlage. Der nickt und macht fast verschämt eine Weiter-weiter-Handbewegung. 

„Dritte Regel: Du bist nicht allein. Das bedeutet auch, dass du Rücksicht nehmen musst. Wir haben alle ähnliche Dinge erlebt wie du, Sina. Und es gibt gute Gründe, warum wir die Meetings nur einmal in der Woche haben. Es ist hart für uns alle, verstehst du? Du bist neu, aber irgendwann waren wir alle neu und es ging uns allen so wie dir. Die Normalzeit soll uns beschützen, damit wir nicht wahnsinnig werden. Und …Einigen… sind selbst die wöchentlichen Meetings zu viel.“

„So wie Annika…“ murmelt Sina und Betül nickt.

„Vierte Regel: Nicht fragen. Wenn jemand über die Sache sprechen will, dann kommt sie von sich aus zu den anderen und erzählt es freiwillig.“

Hier unterbricht Sina:

„Okay, verstanden. Trotzdem will ich wissen, was hier los ist! Seit drei Tagen sagt mir niemand, was es bedeutet, Teil der Schwarzen Klasse zu sein. Auch du nicht, Betül! Was ist los mit DIR? Was ist mit den anderen? Ich will gar keine Details oder so. Aber ganz generell: Sind wir alle gleich… anders, oder ist jede anders anders? Was war das mit Ben gestern Abend? Das ist doch total verrückt! 

Dass die Lehrer*innen ihm raten, sich von allen abzukapseln! Um dann WAS GENAU zu werden?! Ein Spiegelgeist? Und… das klingt jetzt vielleicht dumm, aber: Was sind eigentlich Musketiere?“

Niederlage schaut etwas verwirrt in Betüls Richtung, dann nickt er.

„I-ich habe Betül gebeten, dir ein paar grundsätzliche Dinge zu erzählen. Ich, wir sind etwas v-verwirrt, denn dieses Gespräch hätten eigentlich deine Eltern mit dir f-führen sollen. Haben sie das nicht, Sina?“

Sina schüttelt den Kopf.

„Nein, Herr, N… Sieg. Ich weiß nur, dass ich hier Hilfe bekommen soll wegen meiner… Sache. Dass es hier Lehrer*innen gibt, die mir helfen können…“ 

Sie denkt plötzlich daran, was Grimm ihr erzählt hat. Dass Grimm hier ist, um Niederlage zu kontrollieren, weil er noch neu ist in dem Job, und, hell yeah, das ist er wirklich. Er steht wie ein kleines Häufchen Elend vor Sina und sieht überhaupt nicht wie ein Lehrer aus. Und schon gar nicht, als könne er ihr helfen.

„…Aber hier redet niemand darüber, es gibt dauernd diese Normalzeit und alle tun so, als seien sie ganz gewöhnliche Leute. Dabei sind wir alle offensichtlich totale Freaks und ich werde noch wahnsinnig, weil niemand mir die Wahrheit sagt!“

Niederlage nickt vor sich hin.

„I-ich hab mir sowas schon gedacht. Betül hat sich bereit… also sie sagt, dass sie dir das gerne erklärt. U-und wenn du noch Fragen hast, dann kommst du zu mir. U-und Dorothea, also Frau Döpfner sage ich, dass hiermit das Einzelgespräch erledigt ist und du dich bei mir e-entschuldigt hast. Ist das…, also kann ich das so machen?“

„Ja“, sagt Sina, und hakt sich bei Betül ein. „Wir kriegen das hin.“ 

„Ich bin seit zwei Jahren hier“, sagt Betül, nachdem sie aus dem Hauptgebäude der Schule in den Wald auf den Pfad runter in die Stadt gegangen sind. 

„Es begann an meinen Füßen. Ich hatte gerade eine Lehre angefangen. Schreinerin. Schule war noch nie meine Sache und ich habe schon immer lieber Dinge repariert oder neu gebaut. Aber… das hier hat alles geändert.“ 

Betül schaut sich kurz um, ob hinter oder vor ihnen auf dem Waldweg jemand zu sehen und und schlägt ihre pinkfarbene Bomberjacke zurück. Dann zieht sie ihren Pullover hoch (übrigens ein grün-weiß-gestreiftes Shirt mit großen Mickeymäusen auf der Brust) und unter dem Pullover ist, wie Sina bereits weiß, überhaupt nichts. Gegen das klaffende Loch, das einmal Betüls Brust war, ist all das, was Sina bisher vorweisen kann, maximal Kindergarten-Klasse.

„Es wird nicht nur größer“ sagt Betül“, es ist auch irgendwie… ansteckend. Wenn ich tagsüber ein Shirt drüber ziehe, den wird das Shirt irgendwann farblos und nach einiger Zeit verschwindet es auch.“

„Bei mir ist das nicht so“, sagt Sina.

„Ich weiß. Wir sind eben unterschiedlich. Ich bin… was anderes als du, Sina. Kannst du das hier?“

Betül schaut sich noch einmal um, schließt die Augen und beginnt… zu schweben! Nur ganz leicht. Die Lücke zwischen ihren Schuhsolen und dem Boden ist vielleicht zehn Zentimeter groß. Aber unverkennbar schwebt Betül über der Erde.

„Dank Niederlage und auch wegen der Meetings weiß ich inzwischen, was ich bin“, sagt Betül. „Ich kenne mein doom…“

„Und das bedeutet was?“

„Meine Bestimmung. Was ich bin. Oder, besser: Was ich werde. Sagt dir der Name „Klopfmänner etwas?“

„Nie gehört.“

„Dass ist der offizielle Name. Klopfmenschen wäre wohl eher angebracht. Ich bin, besser: ich werde ein Klopfmensch. Wir alle hier werden gerade etwas. Darum sind wir hier. Niederlage und ein paar andere Lehrer*innen helfen uns dabei, diese  Transformation zu überstehen, ohne dass jemandem etwas Schlimmes geschieht. Das ist es, was deine Eltern mit dir klären sollten, bevor du nach Krahenstein kommst. Haben sie das nicht getan?“

„Mit keinem Wort“, murmelt Sina. „Ich weiß nur, dass mir hier geholfen wird. Das hat Aranea Appelbaum uns so erklärt.“

„Dann hat Appelbaum entweder etwas sehr wichtiges vergessen euch zu sagen. Oder…“

„Oder was?“

„Ich kenne Aranea Appelbaum. Fast alle in der Schwarzen Klasse kennen sie. Und wer von uns noch Eltern hat, hatte nach dem Treffen mit ihr dieses… Gespräch mit ihren Eltern. Hast du einen Bruder oder eine Schwester?“

„Nein, warum?“

„Weil die Sache alle Kinder einer Familie betrifft. Keine Ahnung, Sina. Rede mit deinen Eltern. Sie wissen mehr, als sie dir erzählt haben.“ 

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