Beffaná (St. 5, Kap. 8): Hausaufgaben

„Meister, wie kann ich es kontrollieren?“
„Was meinst du?“
„Diese Kräfte, sie kommen und gehen. Ich mache mir Sorgen, dass irgendetwas aus dem Ruder läuft. In dem Buch steht: ‚Wenn man sich in alltäglichen Dingen irrt, ist das kein Unglück. Aber wenn du dich in den Zaubereien irrst, kannst du viel Unheil anrichten‘.“
„In welchem Buch, Beffaná?“
„In dem Buch über Kaitus, den Zauberer.“
„Lesen ist eh überschätzt.“
„Aber ich hab auf dem Schulweg eine Katze fast auf den Mond geschossen, weil ich sie vor Sami in Sicherheit bringen wollte.“
„Es ist sehr schön auf dem Mond. Gute Pizza. Und du wiegst nur ein Sechstel.“
„Ich mach mir wirklich Sorgen!“
„Dann lass uns aufhören.“
„Was soll das? Ich weiß, es gibt einen Weg, diese Kräfte zu kontrollieren!“
„Andere würden dich darum beneiden. Warum denkst du als allererstes daran, wie du sie kontrollieren kannst?“
„Ich möchte niemandem weh tun!“
„Aber du tust immer jemandem weh. Es gibt Leute, die wollen, dass Mädchen nichts lernen außer hübsch auszusehen, Kochen und Kinder kriegen. Und wenn du sagst ‚Ist mir doch egal, was die denken! Ich werde trotzdem Nobelpreisträgerin!‘ Oder: ‚Ich will aber Flugzeuge bauen!‘ Oder: ‚Ich werde die beste Hexe der Welt!‘, dann tust den denen weh. Ist das etwa falsch? Du tust deinem Vater weh, wenn du ihn belügst. Ich weiß, du denkst, nicht solange er es nicht erfährt. Aber irgendwann, auch wenn’s erst in ein paar Jahren ist, dann wird er es erfahren und dann tut es ihm weh.“
„Aber sowas meine ich nicht! Ich meine, was wenn ich aus Versehen einen Laster umkippe und er auf jemanden drauffällt?“
„Dann verhinderst du das.“
„Vielleicht gelingt es mir nicht!“
„Warum nicht, wer aus Versehen einen Laster umkippen kann, sollte ihn doch auch stoppen können. Versuch doch erst mal, einen Laster kippeln zu lassen, bevor du dir diese ganzen Sorgen machst.“
„Ich hab schon die Zeit angehalten!“
„Quatsch mit Soße! Du hast ein bisschen was erstarren lassen für ein paar Sekunden. Die Zeit anhalten, das kommt erst viel später dran. Ich kenne da eine Zeitgeistkatze, die wäre ein guter Lehrer. Ist nur leider sonst ein ziemlicher Vollidiot.“
„Aber trotzdem, Krampus…“
„Jetzt stell dir mal vor, Peter Parker wäre einfach immer zuhause geblieben bei Onkel Ben und Tante Mary. Langweilige Geschichte, oder? ‚Spiderman wäscht das Geschirr ab!‘ ‚Spiderman räumt den Keller auf!‘ ‚Spiderman baut sein erstes Modellflugzeug!‘ Oder denk mal, Mozart hätte nicht Klavier geübt, damit die Nachbarn nicht gestört werden. Und jetzt, meine Damen und Herren, Wolfgang Amadeus Mozart, der traurigste Pferdepfleger von ganz Wien!“
„Okay, ich hab’s kapiert. Was schlägst du stattdessen vor?“
„Hausaufgaben, Beffaná, ich geb dir eine ganz einfache Hausaufgabe auf: Nimm dir etwas vor, eine simple Hexerei, und schau, ob’s funktioniert.“

Es ist jetzt vieles leichter für Beffaná. Seitdem Esmeralda Schniggenfittich mit im Boot ist, gibt es kein Problem mehr mit dem Unterricht beim Krampus. Esmeralda hat den ersten und den zweiten Abend mit Bravour gemeistert, denn sowohl am ersten wie auch am zweiten Morgen nach Esmeraldas Einsatz ist Anil, Beffanás Vater, heilfroh, seine Tochter einigermaßen erträglich gelaunt am Frühstückstisch vorzufinden.
„Du hattest gestern wieder eine Laune wie drei Tage Regenwetter!“ beklagt er sich und Beffaná fragt sich, wie es wohl anders sein sollte, wenn eine Wetterhexe einen aufmüpfigen Teenager spielt. Es ist sogar ganz nützlich, dass Esmeraldas Beffaná-Version eher zu den grummeligen Töchtern gehört, denn wer wenig sagt, kann sich nicht so schnell verplappern.

Auch die Stunden beim Krampus ändern sich. Beffaná erinnert sich. Nicht an alles, aber inzwischen erinnert sie sich am nächsten Tag an einzelne Gesprächsfetzen und Übungen, die sie zusammen mit ihm durchgeht. Es ist, als müsse sich ihr Gehirn erst daran gewöhnen, das Unmögliche zu akzeptieren und nicht in eine dunkle Ecke ihres Gedächtnisses einzusperren. Jetzt also Hausaufgaben. Oder besser Schulaufgaben. Eigentlich würde Beffaná ihre Fähigkeiten lieber zuerst in aller Stille ausprobieren, aber dann ergibt es sich, dass Joshua im Matheunterricht in Bedrängnis gerät und Beffaná, ohne groß darüber nachzudenken, mit drinhängt.

Eigentlich finden die meisten in der Klasse Mathe ganz okay, weil sie einen guten Lehrer haben, der auch schwierige Dinge gut und interessant erklären kann. Nur ist Herr Oberwittler schon seit einem Monat krank und darum wird seit kurzem eine Vertretung geschickt. Die Vertretung ist eine dusselige Kuh, wie Jessie es auf den Punkt gebracht hat, bevor sie selbst krank wurde. Frau Ferch ist launisch, permanent zu spät und zudem noch selbst ziemlich schlecht in Mathe. Das wissen alle, das weiß sie auch selbst, aber statt das Beste draus zu machen, spielt sie sich auf wie ein Oberst im Kasernenhof und verteilt andauernd Rüffel, Klassenbucheinträge und Strafaufgaben, wenn ihr jemand dumm kommt oder sie einfach nur schlecht geschlafen hat. Es heißt, sie stecke mitten in einem Scheidungskrieg und weil ihr Mann ebenfalls Lehrer an Beffanás Schule ist und eine absolute Oberpfeife, tut Frau Ferch Beffaná eigentlich sogar ein bisschen leid. Heute aber nicht. Heute ist Frau Ferch 10 Minuten zu spät und beschwert sich weitere 5 Minuten über den in ihren Worten „völlig unfähigen Hausmeister“. Dabei lässt sich der Hausmeister einfach nur nicht von ihr herumscheuchen, so wie die meisten anderen, und das ärgert Frau Ferch. Nach ihrer Tirade über den Hausmeister kontrolliert sie die Hausaufgaben. Einzeln. Bei allen in der Klasse. Das dauert noch mal zehn Minuten, aber Frau Ferch scheint das wichtiger zu sein, als richtiger Matheunterricht. Als sie bei den Jungs in der letzten Reihe ankommt, sieht Beffaná, dass Joshua genervt an die Decke glotzt und seinem Sitznachbarn etwas zuraunt. Beffaná muss gar nicht hören, was er sagt, um zu kapieren, was los ist. Sein Blick sagt in der internationalen Gebärdensprache der Hausaufgabenvergesser*innen „Kacke, jetzt hat sie mich.“

Vielleicht, denkt Beffaná, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, meine Hexenhausaufgaben zu erledigen. In Sachen „Joshua rasend verliebt in mich machen“ ist sie bisher auch beim Krampus noch kein Stück weiter gekommen, aber das hier könnte die Chance für einen billigen Punkt werden. Am besten wäre es natürlich, Joshua seine Hausaufgaben fertig zu hexen. Doch sie hat keine Ahnung, wie man sowas anstellen soll. Außerdem: Wie sollte er merken, dass sie ihn gerettet hat? Die Zeit drängt, Frau Ferch kommt gerade zu seinem Tisch.
‚Ich muss Zeit gewinnen!‘ denkt Beffaná und macht das Einzige, was sie inzwischen ganz gut hinbekommt.
„STOPP!“
Die ganze Klasse inklusive Frau Ferch erstarrt.
‚Also‘, denkt Beffaná, ‚wie kann ich ihm helfen, ohne dass die Klasse merkt, dass ich dieses neue, etwas ungewöhnliche Hobby habe, aber so, dass Joshua genau kapiert, dass ich es war, die ihm geholfen hat? Denn machen wir uns nichts vor, Jungs sind in diesen Sachen manchmal so blind, denen könntest du ICH LIEBE DICH auf ihren Teller schreiben und die fragen nur: Wer hat mein Essen geklaut?
Eine weitere Idee wäre natürlich, an Joshuas Platz zu gehen, ihm meine Hausaufgaben hinzulegen und wenn Frau Ferch kontrolliert, ist alles da. Es gibt nur zwei Probleme, denkt Beffaná. Erstens hab die Hausaufgaben selbst nicht, denn, wann soll ich die denn auch noch schaffen, und zweitens… merkt Beffaná, wie ihr langsam die Kraft ausgeht. Es muss jetzt schnell gehen. Verdammt. Verdammt. Verdammt! Wenigstens Schadensbegrenzung!
Beffaná schnappt sich das Heft von Lisa, der Ziege aus der vorletzten Reihe, und legt es auf Joshuas Tisch. Keine zwei Sekunden später erwacht die Klasse und Beffaná wirft sich schweißüberströmt auf ihren Platz. Frau Ferch geht zu Joshua, kontrolliert, nickt, geht weiter und Joshua glotzt ziemlich dämlich auf das Heft auf seinem Tisch. Dann überprüft er die Vorderseite und schaut – okay, wie dumm kann man eigentlich sein, Beffaná, ich dusselige Kuh! – und schaut dankbar lächelnd zu Lisa. Beffaná haut wütend mit der Faust auf ihren Tisch.
„Beffaná! Was ist denn los?“
Frau Ferch kommt auf sie zu.
„Hausaufgaben vergessen?“
„Ich…“ beginnt Beffaná, aber Frau Ferch unterbricht sie.
„Schnickschnack, das können wir ja viel besser überprüfen, wenn du uns einfach mal an der Tafel vorrechnest.“
„Was, jetzt?“
„Ich bestehe darauf.“

Nun wäre es wirklich gut, wenn Beffaná sich in ein Mathegenie verzaubern könnte. Aber sie kann es nicht. Und sie ist sich nicht mal sicher, ob sie die Klasse noch mal so lange erstarren lassen könnte, bis sie ihre Sachen gepackt hat und rausgerannt ist. Also schlurft sie nach vorne an die Tafel und fängt an. Frau Ferch sieht ihr belustigt zu, macht ein paarmal „Tse, Tse, tse“ und sagt dann:
„Lass dich nicht stören, Beffaná, ich bin mal gespannt, wo das noch hinführt?“
Beffaná hat eben schon geschwitzt, jetzt wird ihr heiß und kalt. Vor allem, als sie von vorne sieht, wie hinten Joshua mit Lisa tuschelt. Nach einer Minute stellt sich Frau Ferch neben sie und wischt mit dem Schwamm Beffanás bisherige Rechnungen beiseite.
„Ich glaube, du fängst besser noch mal an“, sagt sie. „Und der Rest der Klasse löst die Aufgaben 8c bis g im Buch. Bitte Beffaná, lass dich nicht stören!“
Dann setzt sie sich auf ihren Platz und schreibt im Klassenbuch herum.
„Zur Hölle mit…“, denkt Beffaná und will gerade erneut zu schreiben anfangen, als sie eine Idee hat.
„Könnte man vielleicht…?“, denkt sie. Sie verdeckt einen kleinen Teil der Tafel und konzentriert sich. Rechnen geht nicht. Aber malen schon. Das ist gut, denkt sie, das ist sehr gut. Beffaná linst zur Seite zum Pult von Frau Ferch, die immer noch im Klassenbuch schreibt, und konzentriert sich.
‚Zur Hölle, zur Hölle, zur Hölle…‘
Im Klassenbuch erscheint ein kleiner, roter Kreis. Frau Ferch scheint ihn erst gar nicht zu bemerken. Doch der Kreis wird größer, wird zu einem roten Rad, einem Feuerrad, einem lodernden Loch in der Erde, größer und größer wird der Feuerkreis im Klassenbuch und längst ist Frau Ferch erstarrt vor er Erscheinung vor ihr. Der Rest der Klasse schreibt und flüstert weiter, niemand scheint zu bemerken, was ihre Lehrerin gerade vor sich im Klassenbuch sieht. Das Höllenloch ist schon so groß wie ein Kinderkopf und da greift eine schwarze Kralle aus dem Loch nach der Nase von Frau Ferch. Die Lehrerin kreischt, springt panisch auf und rennt schreiend aus der Klasse.
‚Potzblitz!‘ denkt Beffaná, ‚Wieder was gelernt‘
Die Kralle macht ein Victory-Zeichen und verschwindet samt dem Feuerrad ohne eine Spur im Klassenbuch.

Beffaná (St. 5, Kap. 7): Das Versprechen der Esmeralda S.

Wie ein Häufchen Elend sitzt die alte Dame auf dem Barhocker eines Döner-Grills, rührt in ihrem Tee und starrt aus dem Fenster. Beffaná hat sie kurzerhand in den nächsten Laden bugsiert, in dem auch Hunde erlaubt sind. Es ist brechend voll, sie haben nur noch Plätze nebeneinander mit Blick aus dem Fenster bekommen. Beffaná ist sehr erschöpft. Das, was eben da draußen geschehen ist, kommt erst nach und nach in ihrem Kopf an. Zum Glück hat Sami sie wiedergefunden, nachdem alles wieder anfing, sich normal zu bewegen. Doch was heißt schon, normal. Gar nichts ist mehr normal.
„Es war nie… normal“, murmelt Frau Schniggenfittich. Offenbar hat Beffaná ihre letzten Gedanken laut ausgesprochen. Sami ist auf Beffanás Schoß gesprungen und funkelt die Alte an:
„Das war wirklich dumm!“ zischt er leise, damit niemand um sie herum aufmerksam wird auf den sprechenden Hund.
„Du hast kein Recht zu beurteilen, was dumm ist und was nicht!“ zischt Frau Schniggenfittich zurück. Dann sinkt sie in sich zusammen. „Aber ja. Es war dumm. Wir waren alle dumm, sehr, sehr lange.“
„Du wolltest ja nicht hören!“ schnauzt Sami etwas zu laut und ein Kind am Nachbartisch stupst mit offenem Mund seinen Vater an. Sami duckt sich in Beffanás Schoß.
„Der Krampus hat es schon lange geahnt.“ Der Hund hat sein Maul nicht bewegt, aber Beffaná versteht ihn laut und deutlich. „Jetzt hat er die Sache eben selbst in die Hand genommen!“
„Er will sie nur für seine ‚Mission‘ einspannen! Das hätte Lea niemals zugelassen!“
Auch Frau Schniggenfittichs Lippen bleiben geschlossen. Wie kann das sein, was ist das? Gedankenübertragung?
„Möglichst nicht“, ertönt Frau Schniggenfittichs Stimme jetzt in Beffanás Kopf. „Aber das lernst du noch. Eine geübte Hexe kann sehr genau entscheiden, was die anderen hören sollen und was nicht.“
„Sprecht wieder normal mit mir!“ flüstert Beffaná. „Oder ich lass den ganzen Laden hier erstarren und euch gleich mit!“ Obwohl sie keinem Schimmer hat, wie sie das noch mal hinkriegen soll.
„Und redet MIT mir und nicht über mich! Himmel, wann lernt ihr Erwachsenen das endlich?“
„Sorry“, murmelt Sami.
„Entschuldigung“, sagt Frau Schniggenfittich.
„Also, ganz von Anfang an“, sagt Beffaná. „Lea ist meine Mutter. Die meinten Sie doch?“
Frau Schniggenfittich nickt.
„WAS hätte meine Mutter niemals zugelassen?“
„Das alles“, sagt Frau Schniggenfittich. „Sie wollte, dass du ganz normal aufwächst. Ohne den ganzen Hokus-Pokus.“
„Hokuspokus!“ höhnt Sami mit unterdrückter Stimme. „Und das von einer Wetterhexe! Dein ganzer Berufsstand ist doch nix anderes als Hokuspokus mit Blitz und Donner!“
„Ich hab es Lea und Anil geschworen!“ ruft Frau Schniggenfittich.
„Hui, wie beeindruckend! GESCHWORDEN!“ erwidert Sami, erneut viel zu laut.
Das Kind am Nebentisch schaut wieder zu ihnen herüber.
„Papa, ich sag’s doch, der kleine süße Hund kann sprechen!“
„Hört endlich auf, ÜBER mich zu reden. Ich bin hier, direkt vor euch!“
Beffaná ist aufgesprungen und Sami muss sich mit einem halsbrecherischen Sprung auf den Tisch retten. Was für ein kurioser Anblick! Doch niemand achtet auf ihn. Niemand achtet auf irgendwas, denn wie bereits zuvor ist alles um sie herum wie zu Eis erstarrt.
„Beffaná, du solltest dir ein anderes Hobby suchen, das hier ist ein bisschen auffällig.“
Sami deutet mit dem Kopf auf die Straße vor dem Fenster. Während hier drin alles aussieht, als würde der ganze Laden Stop-Hexe spielen, geht draußen das normale Leben weiter. Die ersten Menschen bleiben vor dem Fenster stehen und schauen hinein.
„Esmeralda, könntest Du bitte…“ sagt Sami genervt und Frau Schniggenfittich hebt beiläufig einen Arm. Eine lässige Handbewegung und es beginnt draußen wie aus Kübeln zu regnen. Die Passanten nehmen Reißaus.
„Kontrollierst du das?“ fragt Sami Beffaná, „Oder sind das einfach Zufallstreffer?“
Beffaná kann sich vor Erschöpfung kaum auf ihrem Stuhl halten.
„Ich hab keine Ahnung. Es passiert einfach. Könnt ihr mir jetzt endlich erzählen, was los ist?“

Esmeralda Schniggenfittich ist, besser war eine alte Freundin ihrer Mutter, das erfährt Beffaná eine halbe Stunde später, als sie alle zusammen in Frau Schniggenfittichs „Guter Stube“ sitzen, wie sie es nennt. Überall steht sehr häßlicher Deko-Krimskrams herum, auf den sich Beffaná zunächst keinen Reim machen kann. Dann bemerkt sie, dass alle Figürchen, Bilder, Tassen, Deckchen, Aschenbecher und Dosen irgendetwas mit blauem Himmel und Sonne zu tun haben.
„Immer wenn ich rausgehe, ziehen Wolken auf“, sagt Frau Schniggenfittich, „da kann ich nichts tun. Du hättest mal meinen Mallorca-Urlaub erleben müssen. Eigentlich ein Riesenspaß, aber ich glaube, für die anderen nicht so wirklich. Und machmal würd ich ja auch gerne mal am Strand liegen und mir die Sonne auf den Pelz scheinen lassen.“
Dann kommen sie wieder zum Thema.
„Deine Mutter, Beffaná, wollte das alles von Dir fernhalten. Und kurz bevor sie dann gestorben ist, hat sie mich gebeten, dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt.“
Beffaná erinnert sich an sie. Ganz schwach. Obwohl sie damals schon zur Schule ging, in die erste Klasse. Sie hat sich häufig gefragt, warum sie eigentlich nur noch so wenig von damals weiß. Beffaná fragt sich, warum sie vorher nie mehr als ein paar Worte mit Frau Schniggenfittich gewechselt hat, wenn sie und ihre Mutter doch Freundinnen gewesen sind.
„Das ist kompliziert“, sagt Frau Schniggenfittich. Offenbar hat sie wieder Gedanken gelesen. „Und nenn mich doch Esmeralda.“
Draußen ist es inzwischen dunkel geworden und aus ein paar Wohnungen im Nachbarhaus funkelt die Weihnachtsbeleuchtung in die schwach beleuchtete Gute Stube von Esmeralda Schniggenfittich.
„Beffaná“, sagt Sami vorsichtig. „Ich weiß, dass ich bei dir was gutzumachen habe, aber es ist dunkel. Und noch einen Abend kannst du wirklich nicht schwänzen.“
Bevor Beffaná antworten kann, setzt sich ein großer Rabe auf dem Sims von Esmeraldas Wohnzimmerfenster. Und dann noch einer. Beide schauen stumm direkt zu ihnen ins Zimmer.
„Der Krampus sagt, es ist Zeit“, murmelt Sami.
„Ich hab’s versucht zu verhindern!“ stöhnt Esmeralda. „Als ich gemerkt hab, dass sie dich beobachten, also, dass er dich beobachtet“, sie deutet auf Sami, „da hab ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, damit sie dich in Ruhe lassen. Ich hab es schließlich geschworen. Aber Krampus meint, es sei deine Entscheidung. Und da hat er irgendwie Recht. Ein Schwur darf niemals stärker sein als die freie Entscheidung einer Hexe.“
Einer Hexe… „Das ist alles so kompliziert“, ruft Beffaná. „Kann er mich denn zwingen, zu kommen?“
Sami lacht: „So ein Quatsch! In dieser Sache kann niemand zu irgendwas gezwungen werden. Aber Du hast Dich ja schon entschieden! Überleg doch mal! Was willst du tun? Nach oben gehen, Abendbrot essen und ins Bett. Oder willst du in den Wald, den Unterricht fortsetzen?“
Esmeralda schaut Beffaná eindringlich an und nickt dann schließlich.
„Er hat schon Recht. Zwingen kann dich langfristig niemand. Wobei…“, sie deutet auf ihr Fenster, an dem sich inzwischen mindestens zehn Raben dicht an dicht auf dem Sims draußen drängen, „Wobei sowas wie da draußen auch wirklich eine ganz billige Masche ist. Es ist deine Entscheidung Beffaná.“
„Ich möchte gehen“, sagt Beffaná. „Ich weiß nicht, warum, aber es fühlt sich so an, als müsste ich es tun. Und dann will ich es auch. Aber nur unter der Bedingung, Sami, dass ihr, dass du mich nie wieder anlügt und keine billigen Tricks mehr veranstaltet.“
Sami nickt. „Versprochen. Das Problem ist nur: Wie kriegen wir es sonst hin? Dein Vater wird dich kaum heute Abend gehen lassen.“
„Lasst mich das erledigen“, sagt Esmeralda. „Schauspielerin und Verwandlung sind zwar nicht meine großen Stärken, wie wir heute wieder gesehen haben, aber einen Abend einen muffeligen Teenager spielen, das krieg ich schon irgendwie hin.“
„Ja genau!“ ruft Beffaná. „Warum eigentlich? Warum hast du diese ganze Jessie-Nummer abgezogen?“
„Wegen des Buches“, sagt Esmeralda. „Weil ich wissen wollte, ob du es schon gelesen hast. Denn das ist wirklich wichtig, Beffaná. Lies es!“
„Also SOLLTE ich es klauen?“
„Es kam zumindest nicht ganz ungelegen…“
„Aber der Zettel!“ ruft Beffaná. „Von Joshua! Den hab ich doch von Dir! Warum hast du da mitgespielt?“
„Weil ich dachte, er ist von Joshua“, murmelt Esmeralda. „Ich bin doch selbst drauf reingefallen. Auf den da.“ Sie deutet auf Sami.
„Ich hab’s doch jetzt versprochen!“ bellt Sami. „Es kommt nicht wieder vor!“

Und damit nimmt der seltsamste Tag im bisherigen Leben der Beffaná Lea Grimm ein höchst seltsames Ende. Während sie zusammen mit Sami zur Busstation eilt, springt eine einigermaßen passabel ähnliche Doppelgängerin die Treppen hinauf und erzählt Anil Grimm oben im achten Stock von einem unbeschwerten Advents-Shopping-Tag mit Jessie, jener Jessie, die sich eigentlich seit Tagen mit einer seltsamen Form der Windpocken zu Hause zu Tode langweilt und sich wirklich schwer wundert, warum sie niemanden ihrer Klassenkameraden telefonisch erreicht. Und erst weit nach Mitternacht, um halb drei Uhr morgens, wird Doppelgänger-Beffaná, die im unbequemen Bett einer Teenagern kein Augen zubekommt, von der echten Beffaná abgelöst und darf hinunterschleichen zu ihrem geliebten Wasserbett. Die junge Beffaná aber, die sich wie immer an kaum etwas von ihrem Besuch beim Krampus erinnern kann, sprüht noch vor Energie. Also setzt sie sich mit Sami vor ihr Bett und fängt an, die Geschichte von Kaitus, dem Zauberer zu lesen. Die Geschichte eines jungen Tunichtguts und Unruhestifters, der erst nach und nach lernt, mit seinen Zauberkräften umzugehen. Und, Potzblitz, plötzlich wundert sich Beffaná gar nicht mehr darüber, wie leicht es ihr fällt, die siebte Weidenblüte ihres Adventskalenders zu öffnen, während Sami nur staunend daneben steht und die Ohren in die Luft stellt.

Beffaná (St. 5, Kap. 6): Stadt, Land, Fluss

Das fühlt sich nass an. Irgendetwas verschluckt Beffanás Hand, sehr leise, sehr langsam, sehr glitschig. Nicht so tragisch, denkt sie, ich hab noch mindestens eine andere. Dann wacht sie auf. Dämmerung. Was ist mit ihrer Hand? Warum liegt da ein faulender Finger auf dem Nachttisch?
„Beffaná! Wach auf!“
„Was?“
„Es ist Zeit, Beffaná!“
Sami beginnt erneut, an ihrer Hand zu lecken. Sami, richtig. Ich bin böse auf Sami. Warum bin ich böse auf Sami? Weil er mir nicht die Wahrheit sagt, genau! Weil er ein doppeltes Spiel spielt. Weil er für den Krampus arbeitet. Was nicht wirklich schlimmm ist, nur hätte er es mir sagen müssen. Er ist ein Verräter!
„Du bist ein Verräter!“ Beffaná zieht ihren Arm zurück. „Und du hast meine ganze Hand vollbesabbert!“
Sofort lässt Sami von ihr ab und trippelt ein paar Hundeschritte zurück.
„Was hast du denn auf einmal?“
„Ich bin müde!“ brummt Beffaná. „Und du hast mir nicht die Wahrheit erzählt. Du steckst hinter dem Brief. Und Jacobs Übernachtung. Und der Bulldogge! Was ist das? Hundemagie? Ich hätte sofort ahnen müssen, dass du hinter all dem steckt!“
„Naja“. Sami leckt seine Lefzen. „Du kannst mit mir sprechen. Ist doch eigentlich Hinweis genug, dass ich kein x-beliebiger Kläffer bin…“
„Ich dachte, wir hätten uns angefreundet!“ ruft Beffaná und hält sich schnell die Hand vor den Mund. Bestimmt ist ihr Vater irgendwo ganz in der Nähe.
„Haben wir doch auch!“ knurrt Sami. „Ich hab nur dafür gesorgt, dass du dein Versprechen einlöst.“
„Weil du für ihn arbeitest!“
„Weil ich nicht will, dass du Ärger bekommst! Der Krampus kann manchmal ungemütlich werden, wenn man wortbrüchig wird.“
„Ich wollte kein Versprechen brechen, es ist nur nicht so richtig einfach für ein Schulmädchen, nachts alleine zum Haus eines Fremden zu marschieren, um Unterricht in was auch immer zu bekommen!“
„In Hexerei, Beffaná! Er bringt dir das Hexenhandwerk bei!“
„Ich will einfach nur lernen, wie andere anfangen mich zu mögen!“
„Du willst lernen, wie du einen bestimmten jungen Mann gegen seinen Willen verliebt in dich machen kannst, das willst du, Beffaná! Das nennt man Hexerei, sag’s doch endlich, wie es ist! Und ich helfe dir dabei!“
„Du machst irgendwelche Dinge mit meiner Familie, die ich dir niemals erlaubt habe. Das ist nicht in Ordnung!“ ruft Beffaná und bevor Sami etwas erwidern kann, klopft es an ihrer Zimmertür.
„Alles in Ordnung, Beffaná?“ hört sie die Stimme ihres Vaters. „Hast du endlich ausgeschlafen? Es ist gleich schon wieder Abend…“
„Komm ruhig rein, Papa“, sagt Beffaná und Sami schafft es erst im allerletzten Augenblick, unter ihr Bett zu springen.
„Puh, ganz schön stickig hier“, meint ihr Vater und macht ihr Fenster auf. „Du hast fast 12 Stunden geschlafen, Große. Ihr habt wohl wirklich durchgemacht, gestern.“
„Hab ich doch gesagt.“
„Kommst du zum Abendbrot“ fragt ihr Vater und grinst sie dabei fast unsicher an. „Oder gibt’s heute Nacht gleich wieder die nächste Jessie-Verabredung?“
Beffaná ist plötzlich unschlüssig. ‚Natürlich nicht!‘ denkt sie. ‚Ich lass mir von einem Zwerg und einem sprechenden Bettvorleger doch keine Vorschriften machen, wie ich meine Abende verbringe!‘ Andererseits spürt sie, dass irgendetwas wirklich dringend wieder zurück in das graue Haus in der Senke mitten im Wald zurück will, um mehr… zu lernen. Hatte Sami nicht Recht? Geht es nicht genau darum? Ist es nicht das, wie Sami es genannt hat? Hexerei? Magie? Vielleicht. Wahrscheinlich. So wahrscheinlich so eine Sache eben sein kann und wäre sie nicht selbst Zeugin geworden, wie ein Hund ganz selbstverständlich mit ihr spricht und ihr eigener Vater sich auf ein Date mit einer Bulldogge freut, hätte sie all das nicht selbst erlebt, käme es ihr vollkommen absurd vor. Doch so oder so! Das ist noch lange kein Grund, sie auf solch hinterhältige Weise zu manipulieren! Das müssen sie lernen! Der Hund, der Zwerg und wer auch immer noch in der Sache mit drinsteckt.
„Keine Sorge, ich bleib heute Abend zuhause“, sagt Beffaná und funkelt in Richtung ihres Bettes. Ihr Vater scheint ihrem Blick gefolgt zu sein, denn plötzlich verzieht sich sein Gesicht.
„Was ist das denn?! Das sieht ja aus wie ein… Finger!“
„Ach…!“ stammelt sie. „Ach Papa, noch von Halloween! Du weißt doch, ich bin doch als…“
„…als Robin Hood gegangen, ich weiß“, sagt ihr Vater. „Und?“
„Und das…, das ist der Finger des Sheriffs von Nottingham. Hab ich ihm im Kampf abgeschlagen!“
„Die Geschichte kenn ich irgendwie anders“, sagt ihr Vater, aber er hat schon wieder sein Interesse verloren. „Was ist jetzt, kommst du?“

Nach dem Essen spielen sie eine Runde Stadt-Land-Fluss. Weil Jacob keine Chance gegen den beiden anderen hat, spielt er Schiedsrichter. Er darf die Buchstaben auswählen und bekommt den Atlas mit dem langen Index am Ende in die Hand. Lesen ist kein Problem, im Gegenteil. Er ist verdammt schnell im Nachschauen. Es gelten nur Länder, Städte und Flüsse, die hinten im Index stehen. Die weiteren Kategorien sind „Krankheit“ und „Dinosaurier-Art“. Dinosaurier lassen sich im Streitfall in Jacobs dickem Dinosaurierbuch nachschlagen, um die Krankheiten gibt’s natürlich dauernd Streit. Beffaná hat nach vier Runden eigentlich schon keine Lust mehr. Ihr Vater gewinnt immer, auch wenn es bei M ziemlich knapp war. Beffaná war ziemlich stolz auf Maiasaura und Malaria, aber die hatte ihr Vater auch. Und bei Fluss hatte sie einen Blackout. Mississippi, Main. Es wäre so einfach gewesen. Ihr Vater hat Mekong. Das war der Sieg.
„Noch eine Runde?“ fragt ihr Vater. Jacob nickt begeistert, er findet die Schiedsrichter-Rolle super, weil er über Sieg und Niederlage entscheiden kann. Beffaná schüttelt den Kopf, da hört sie plötzlich ein Bellen aus ihrem Zimmer.
„Was war das denn?“ fragt ihr Vater. Zum Glück ist sie geistesgegenwärtig genug für eine Antwort.
„Das Fenster!“ sagt sie. „Das Fenster in meinem Zimmer ist auf, und auf der Straße hat bestimmt ein Hund gebellt, Warte, ich mach es zu.“
Sie läuft in ihr Zimmer, schließt die Tür hinter sich und zischt Sami an:
„Entweder du bist still, oder du schläft draußen!“
„Beffaná, es ist schon acht Uhr!“
„Ich. Gehe. Heute. Nicht. Basta.“ sagt sie. „Also: Ruhe oder draußen?“
Sie hält eine Hand aus dem Fenster. „2 Grad Celsius. Maximal. Deine Entscheidung.“

„Ich höre nichts!“
„Ruhe.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“

Irgendwie erleichtert setzt Beffaná sich wieder an den Küchentisch. ‚Richtige Entscheidung‘, denkt sie.
„Na los“. Sie guckt zu Jacob. „Nächste Runde.“
Jacob schließt die Augen, zählt stumm herunter.
„X!“
„Noch mal“, sagt ihr Vater.
„Nein“, sagt Beffaná. „Machen wir.“
„Wirklich?“
„Los.“
Es ist seltsam. Und ganz einfach.
„Fertig“, sagt Beffaná nur ein paar Sekunden später. „Stift runter.“
„Nie im Leben!“ ruft ihr Vater. „Los, zeig her!“
Er reißt seiner Tochter ihren Zettel aus der Hand.
„Xiamen“, liest er vor. „Was soll das sein?“
„Stadt in China. Jacob, schlag’s nach.“
Jacob schlägt nach. „Stimmt“, sagt er. „Gibt’s“.
„Alle Achtung…“ Ihr Vater klopft bewundernd auf den Tisch.
„Land… Es gibt kein Land mit X. Was soll das hier heißen?“
„Xizang“, sagt Beffaná mechanisch. „Chinesischer Name für Tibet. Politisch brisant, steht aber im Atlas.“
„Stimmt.“ Jacob hält seinem Vater den Atlas unter die Nase.“
„Heilige Scheiße…“ sagt ihr Vater.
Und so geht es weiter.
„Xiliao He. Fluss. Xenotarsosaurus. Dino. Xenophobie. Krankheit.“
„Was ist Xenophobie?“ fragt Jacob.
„Die Angst vor dem Fremden“, murmelt sein Vater und schaut Beffaná nachdenklich an.
„Donnerwetter, Beffaná. Gib’s zu. Du warst vorbereitet!“
Und sie lacht. „Stimmt.“ Doch das Lachen fällt ihr schwer. Denn es stimmt nicht. Sie ist bisher noch nie bis X gekommen.

Die Nacht ist furchtbar. Beffaná schläft schlecht und auch Sami neben ihrem Bett wirft sich unruhig hin und her. Beffaná träumt, dass Wesen auf ihrer Fensterbank sitzen und traurig zu ihr ins Zimmer starren. Einmal hört sie sogar ein Klopfen an der Scheibe, aber als sie hinschaut, erkennt sie nichts. Sie zieht sich die Decke über den Kopf. Gerne würde sie jetzt Sami zu sich ins Bett holen. Aber der sture Hund hat sich weder bei ihr entschuldigt, noch sieht er überhaupt ein, dass er einen Fehler gemacht hat.

Doch es geht vorbei. Die Sonne geht auf, es ist ein strahlender, kalter Morgen. Nikolaustag, wie Beffaná erst bemerkt, als sie aufsteht und Jacob im Flur jubeln hört. „Ja guck sich das einer an!“ ruft ihr Vater etwas zu offensichtlich überrascht.
„Da habt ihr vergessen, die Schuhe zu putzen und sie vor die Tür zu stellen, und trotzdem hat da jemand was hineingelegt. Wie kann das denn sein?“
Jacob strahlt: „Weil der Nikolaus kein miesepetriger Vollidiot ist, sondern ’ne richtig coole Sau, oder Beffaná“
„Ghetoo-Faust drauf, kleiner Bruder“, sagt sie und freut sich, eine Rolle ihrer Lieblings-Chips-Sorte in einem ihrer hohen Stiefel zu finden. Und was ist in dem Karton daneben? Beffaná nimm den Deckel ab und fühlt unter dem Papier. Es ist weich, aus Stoff. Neue Winterstiefel? Oder eine Jacke?
„Ein Hut“, sagt ihr Vater. „Der hat Eurer Mutter gehört, Große. Und jetzt ist es deiner.“
Beffaná ist sprachlos. Es sind nur ein paar wenige Dinge, über die ihr Vater freiwillig niemals spricht. Aber das hier gehört definitiv dazu. ‚Eure Mutter…‘
Der Hut ist… groß. Ziemlich cool, ziemlich auffällig. Kann man sowas in der Schule tragen? Beffaná fallen ein paar ältere Mädchen ein, die sie nur vom Sehen kennt, die könnten das. Aber sie? Warum nicht?! Es ist der Hut ihrer Mutter! Sie schnuppert. Hm, wahrscheinlich Mottenkugeln. Was hat sie gedacht? Dass sie Parfüm riecht? Oder ein bestimmtes Shampoo?

Das Telefon klingelt. Es ist Jessie. Ihr Vater gibt den Hörer weiter: „Jessie fragt, ob du heute Zeit hast. Von mir aus schon. Und jetzt gibt’s Frühstück.“

Die Mädchen treffen sich nachmittags in der Stadt. Es ist verkaufsoffener Sonntag, die Menschenmassen wälzen sich an den Schaufenstern vorbei und Beffaná hat höllisch Angst, dass Sami unter die Räder gerät. Sie hat beschlossen ihn mitzunehmen. Der Hund war den ganzen Tag gestern nicht draußen und Jessie nicht von ihm zu erzählen, hätte sowieso höchstens 5 Minuten funktioniert. Jessie ist ziemlich still. Als Beffaná fragt, was die letzte Tage bei ihr los war, sagt sie nur „Erkältung“. Und auf die Geschichten aus der Schule hat sie anscheinend auch keine große Lust. Irgendetwas an ihr ist seltsam, dabei hatte sie doch angerufen, um sich zu verabreden. Schließlich rückt sie mit der Sprache heraus:
„Dein Vater sagt, du hast ein neues Buch bekommen?“
„Was für ein Buch?“ fragt Beffaná.
„Sag du’s mir.“ Jessie bleibt vor einem Schaufenster stehen. „Hat du Geheimnisse vor mir?“
Sie ist wirklich komisch. Kaum wiederzukennen.
„Wann hast du denn mit meinem Vater gesprochen?“ fragt Beffaná.
„Ich hab irgendwann letztens angerufen, du warst nicht da und da hat er es mir erzählt.“
Sami drückt sich eng an Beffanás Bein, als wären sie wieder die besten Freunde.
„Das wüsste ich!“ sagt Beffaná. „Ich versuche seit Tagen, Dich zu erreichen und dann rufst du an und Papa erzählt mir nichts davon?“
„Hat er wohl vergessen?“
„Wann soll das denn gewesen sein?“
„Ähm. Gestern? Gestern morgen irgendwann.“
„Das kann nicht sein!“ ruft Beffaná. Was wird hier denn gespielt? „Gestern morgen hab ich geschlafen und du auch! Offiziell zumindest! Hättest du wirklich angerufen, dann hätte ich jetzt Hausarrest bis Ostern! Ich hab dich nämlich als Ausrede benutzt, warum ich vorgestern Nacht nicht zuhause war. Mein Vater denkt, ich war bis gestern morgen bei Dir! Hättest du gestern morgen angerufen, dann wär die ganze Sache aufgeflogen! Und außerdem hätte mein Vater dieses Buch niemals erwähnt! Das ist anscheinend ein wunder Punkt bei ihm. Auch wenn ich nicht verstehe, warum? Es ist einfach nur ein Kinderbuch. Mit seinem Namen drauf. Und wenn du’s schon wissen willst, ich hab’s unserer völlig duschgeknallten Nachbarin geklaut!“
Jessie schaut sie ausdruckslos an. Sie ist wie versteinert.
„Sag was, Jessie! Warum lügst du mich an?“ Da fällt Beffaná etwas ein. Sie schaut zu Sami herunter. „Ist das wieder eins deiner Spielchen?“
Der Hund klemmt die Ohren ein. Schon klar, hier draußen wird er kaum anfangen zu reden. Aber was auch immer hier läuft, Beffaná wird es jetzt wirklich zu bunt.
„WAS IST HIGER LOS?! ICH WILL ES JETZT WISSEN! JETZT! DIE GANZE WAHRHEIT“ schreit sie, viel lauter, als sie es eigentlich geplant hat. Und da geschieht es. Jessie verschwindet. Nein, sie löst sich nicht in Luft auf, im Gegenteil, sie ist mehr da, als vorher. Nur ist sie nicht Jessie. Vor Beffaná steht zitternd und schwer atmend Frau Schniggenfittich, ihre Nachbarin, und dann rennt sie los. Rennt los, schneller als Beffaná jemals jemanden hat rennen sehen. In zwei Sekunden ist sie schon auf der Mitte des Kirchplatzes, wie ein Irrwisch umkurvt sie die staunenden Fußgänger im Zickzack und ist schon fast um die nächste Ecke, als Beffaná endlich die Verfolgung aufnimmt. Sie achtet nicht mehr Sami oder andere Fußgänger, sondern folgt im Laufschritt der Schniggendfittich über den Platz. Doch die wird immer schneller. Beffaná weiß, dass sie sie gleich endgültig verlieren wird. Sie ist nicht weinmal halb so schnell wie die sausende Alte. Doch so schnell gibt sie sich nicht geschlagen. Nicht jetzt, wo sie womöglich viele Antworten bekommen kann auf Dinge, die sie immer noch nicht versteht.
„STOPP!“ dröhnt Beffaná, als Frau Schniggenfittich gerade um eine Ecke saust und wie vom Donner gerührt erstarrt die ganze Welt um Beffaná herum. Die Menschen vor ihr, die quengelnden Kinder, der Leierkastenmann, der ein paar Meter weiter steht, und sogar ein Luftballon, der gerade einem dicken Kind mit einem viel zu großen Softeis in der Hand entwischt ist, hängt nun in der Luft wie ein vergessener Zaubertrick. Beffana geht langsam auf die Seitengasse zu, in der die Alte verschwunden ist. Und dort sieht sie sie. Im vollen Lauf erstarrt vor einer Metzgerei. „Potzblitz!“

Beffaná (St. 5, Kap. 5): Doppeltes Spiel

Beffaná denkt nach. Sie hat keine Lust sich mit Sami zu unterhalten und der Hund trottet mit hängenden Ohren auf dem Rückweg von der Schule neben ihr her. Zwischendurch bleibt Beffaná stehen, hebt eine alte Kastanie vom Straßenrand auf und betrachtet sie lange.
„Was ist damit?“ fragt Sami. „Riecht nicht sehr besonders, finde ich.“
„Nein“, sagt Beffaná. „Ich weiß es nicht. Es ist nur ein Gefühl.“
Sie riecht an der Kastanie, reibt daran herum, grübelt, und wirft sie schließlich schulterzuckend in einem großen Bogen weg. Erst, als die Kastanie ihre Hand verlassen hat, merkt sie, dass das eine wirklich dämliche Idee war. Die Flugbahn der Kastanie endet direkt auf der großen Straße, auf der an einem Freitagnachmittag dichter Verkehr herrscht.
‚Verdammt!‘ denkt sie, ‚Nicht auf die Straße! Flieg noch ein bisschen weiter… Bitte…!‘
Und sie hat Glück, das Geschoss bleibt länger in der Luft, als sie gedacht hat und landet knapp hinter der Straße in der Böschung. Fast könnte man denken, die Kastanie habe einen kurzen Hopser in der Luft gemacht, um nicht auf einem der fahrenden Autos zu landen.

„Ist was?“ fragt Sami.
„Ich frage mich“, sagt Beffaná, „wie er das gemacht hat. Mit Papa. Ist das echte Zauberei?“
Ihr Vater war erst spät in der Nacht nach Hause gekommen, sogar noch später als Beffaná und Sami. Sie konnte ihn aus ihrem Bett hören, wie er sich kichernd verabschiedete. Und heute Morgen hatten sie beide fast kein Wort verloren, beide tief in ihren Gedanken versunken.
„Du meinst den Krampus?“ sagt Sami.
„Ist doch praktisch, dass Jacob und Papa diese verrückten Verabredungen hatten.“
„Finde ich auch“, sagt Sami. „Spielen wir Stadt, Land, Fluss?“
„Du hast beim letzten Mal nicht ein einziges Land mit F gewusst! Das macht keinen Spaß!“
„Ich kann schließlich nicht alle blöden Menschenländer kennen!“ Sami schnaubt. „In Flüssen bin ich besser.“
„FINNLAND, Sami! Dir ist FINNLAND nicht eingefallen!“
„Finnland, irgendwas war damit, oder?“
„Du bist ein FINNISCHER Spitz, Du Eumel! Deine Rasse wurde nach Finnland benannt!“
„Das sind doch alles nur Menschennamen!“ bellt Sami. „Wir Hunde nennen uns ganz anders!“
„Wie denn?“
„Suomenpystykorva!“
„Ja, du Held! Das heißt ‚Finnischer Spitz‘! Auf Finnisch!“
„Ich kann Flüsse trotzdem besser“, mault Sami.
„Okay, dann los. Flüsse mit R.“
„Easy: Rinnsal, rauschender Bach, reißender Strom, Rumpelfluss, Rudolf, Renate…“
„Rudolf? Hä? Und was soll das sein, ein Rumpelfluss?“
„Na, ein Fluss! Der rumpelt!“
„Gibt’s doch gar nicht!“
„Sagt wer? Als würdest du alle Flüsse kennen!“
„Ich kann’s dir gleich im Atlas zeigen, wenn Du Wert drauf legst!“
„In einem Menschenatlas, vielleicht! Ja, Kunststück! Unsere Hundeatlas-Dingsis sind voller Rumpelflüsse und Renates! Bei uns heißt jeder zweite Fluss Renate!“
„Aber das macht doch überhaupt keinen Sinn!“
„Hä? Und du bist in ein Arschloch verliebt, dass dich grad mal mit dem Hintern anguckt! Das macht auch keinen Sinn!“
Das hat gegessen.
Beffaná tritt mit voller Wucht vor einen Stein, der mit Karacho mitten auf die Straße fliegt. Zum Glück ist grad kein Auto da, denn der hätte genau gepasst.

Zuhause wird weiterhin geschwiegen. Inzwischen ist Jacob zurück von seiner Übernachtungsparty, doch statt wie sonst alles haarklein zu erzählen, schleicht er übellaunig in der Wohnung herum. Ähnlich ihr Vater. Der stellt den Kindern nur das Essen hin und verzieht sich schnell in sein Arbeitszimmer, das eigentlich sein Schlafzimmer ist. Beffaná hatte heute keine Lust auf das Versteckspiel mit Sami in der Wohnung und hat ihn draußen vor dem Haus gelassen. Nur bis zur Schlafenszeit, verspricht sie, und stellt ihm eine Dose Hundefutter hinter’s Haus, die sie auf dem Rückweg in einem Supermarkt gekauft hat. Zwischendurch versucht Beffaná ihre Freundin Jessie zu erreichen, aber bei ihr zuhause geht niemand ans Telefon.
‚Es ist wie verhext. Und alles Mist!‘ denkt sie und irgendwie freut sie sich, dass sie heute Abend wieder hier raus und in das Haus vom Krampus gehen kann. Doch Halt! Das ist vollkommener Blödsinn. Sie kann auch heute Abend nicht so einfach raus und eigentlich will sie ja auch gar nicht, denkt sie, sie hat bis jetzt nicht so richtig verstanden, was sie da gemacht hat, gestern, und warum. Und: Schickt ihr der Krampus, denn sie ist überzeugt davon, dass es der Krampus war, schickt er ihr heute wieder einen riesenhaften Köter, der ihren Vater zu Gottweißwas mitnimmt? Nein, das tut er nicht. Die Wohnungsklingel bleibt tatsächlich bis zum Abend stumm. Und als sie zum Abendessen in die Küche kommt, lächelt ihr Vater sie milde an.
„Ist schon okay“, sagt er. „Du darfst.“
„Ach ja?“ Wär ziemlich hilfreich, denkt sie, wenn man wüsste, wovon Papa eigentlich redet.
„Klar.“ Ihr Vater steht von seinem Stuhl auf und nimmt Beffaná in den Arm. „Ich weiß ja, wenn du bei Jessie bist, ,uns ich mir keine Sorgen machen. Ich hab mich ehrlich gesagt schon ein bisschen gewundert, dass ihr in letzter Zeit so wenig zusammen unternehmt.“
„Ach… ja…“ Beffana´ schaut wohl ein bisschen dämlich au der Wäsche, jedenfalls fuchtelt Jacob hinter Papas Rüchen mit beiden Händen hektisch in Richtung der Küchenablage, beziehungsweise, eines Zettels, der dort liegt.“
„Was… ähm…“ stammelt Beffaná. „Ich meine, warum, ähm… darf ich denn jetzt, also…“
„Ich muss dir danken“, sagt ihr Vater. Er sagt es fast ein bisschen feierlich. „Wirklich, Dein Brief hat mir die Augen geöffnet. Schließlich ist die ganze Situation für dich nicht einfach. Das verstehe ich. Verstehe ich jetzt besser, meine ich. Manchmal vergisst man als Erwachsener, was es bedeutet, reifer, nun, irgendwie, also, was es bedeutet, groß zu werden. Verstehst du? Eines Morgens aufzuwachen und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Mit diesem neuen Hunger auf… wie soll ich sagen, auf Leben, und Erfahrungen, und, nun ja, wahrscheinlich auch auf eigene Fehler. Ergibt das Sinn? Du hast das einfach so viel besser formuliert in Deinem Brief. Er hat mich sehr nachdenklich gemacht, aber auch sehr stolz…“
Hinter seinem Rücken steckt Jacob sich einen Finger in den Hals und tut so, als würde er sich selbst nach Art eines Samurais erdolchen. Beffana´ verkneift sich irgendwie ein Lachen, aber als Jacob anfängt, leise Furzgeräusche zu machen, springst Beffaná schnell auf und dreht ihr Gesicht von ihrem Vater weg.
„Danke, Papa, kann ich, also darf ich meinen Brief noch mal kurz mitnehmen, ich wollte das noch, also ich wollte da noch über was wichtiges Nachdenken.“
„Na klar, meine Grüße“, sagt ihr Vater. „Aber beeil Dich, du wolltest doch um halb acht bei Jessie sein.“
„Ja, nee, ist klar…“
Jacob ist gerade dabei, sich zum dritten Mal hinter dem Rücken ihres Vaters zu erhängen und guckt dabei wie Spongebob, wenn der einen Amboss auf den Kopf bekommt.
Beffaná schafft es gerade noch in ihr Zimmer, bevor sie losprustet.

Der Brief ist furchtbar!
„Was für eine schwülstige Kacke!“ flucht Beffaná. Was auch immer der Krampus beim Schreiben genommen hat, er muss dringend damit aufhören! Okay, es scheint bei ihrem Vater irgendeinen Nerv getroffen zu haben, aber ‚erwachende Knospe meiner Jugend‘?! Der hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun! Und sind das neben ihrer Unterschrift (die übrigens wirklich aussieht wie ihre) echte Tränen? Beffaná befühlt das Papier und riecht schließlich daran. Und da…: Das kann doch nicht wahr sein! HUNDEFUTTER! ‚Du mieses Stück Fell!‘ schnaubt sie, ’na warte!‘ In Windeseile zieht Beffaná sich an, packt zur Tarnung einen Rucksack mit Zahnbürste und Schlafzeug ein und stürmt mit einem „Tschüß Papa, bis Morgen!“ zur Tür.

Ihre Wut macht Beffaná irgendwie widerstandsfähig gegen die seltsame, geistige Vernebelung von gestern. Mit Sami auf dem Schoß sitzt sie im Bus in Richtung Endstation, nachdem sie ihn am verabredeten Treffpunkt hinter’m Haus abgeholt hat. Sie hat noch nicht entschieden, wie sie ihn mit ihrer Entdeckung konfrontieren soll. Dass er hinter dem ganzen Hokuspokus steckt. Aber es ist ja auch ganz logisch! Nur ein Hund kommt doch auf die hanebüchene Idee, ihren Vater mit einer Bulldogge zu verabreden! Aber wie hat er das gemacht? Hat er Zauberkräfte? Oder ist er ein Hypnotiseur ? Das kann nicht sein, Sami hat ihrn Vater ja nie angeschaut. Er ist nicht mal in seiner Nähe gekommen. Wahrscheinlich hat der Krampus ihm ein paar seiner Tricks beigebracht, um Beffaná immer wieder in den Wald zu locken. Sami auf ihrem Schoß scheint zwar zu merken, dass irgendwas nicht stimmt, aber hier im Bus kann er nicht fragen. Und dann im Wald tut Beffaná so, als wäre sie in Gedanken. Beim Krampus angekommen, überfällt sie allerdings augenblicklich ein ähnliches Gefühl wie beim ersten Mal. Eigentlich, hatte sie sich im Bus überlegt, wollte sie die beiden, den Krampus und Sami, sofort zur Rede stellen, ihnen sagen, wie schäbig sie es findet, dass Sami ein doppeltes Spiel mit ihr spielt. Aber dieses Vorsatz verfliegt, sobald der Krampus die Haustür geöffnet hat. Tiefe, warme Schwärze, Flüstern, die Augen des Krampus, das ist alles, an das sich Beffaná erinnert und, vielleicht, vielleicht ein leises Gemurmel um sie herum. Andere Stimmen? Andere Menschen? Sami kann es nicht sein, ihn haben sie in der Küche zurückgelassen, dem einzigen Raum in diesem Haus, den Beffaná bisher bei Tageslicht gesehen hat. Irgendwann, in einer Pause, oder auch am Schluss des Treffens, da ist sie sich im Nachhinein nicht sicher, wird Beffaná Zeugin, wie der Krampus in der Küche seltsam aussehendes Wesen empfängt. Nicht Menschen. Wesen. Geflügelte. Behufte, Gehörnte. Wesen mit zwei Köpfen und zum Schluss etwas, das aussieht, wie Beffaná sich in etwa einen Zombie vorstellt. Er trägt viel zu weite Kleidung, die um seinen völlig abgemagerten Körper schlackert, und irgendwann, doch das muss eine Täuschung sein, verliert er einen Finger auf dem Boden. Beffaná versteht nichts von dem, was der Krampus mit den Wesen bespricht. Doch es wirkt, als würden sie ihm Bericht erstatten und mit neuen Aufträgen wieder fortgeschickt und als sie sich anstrengt, mehr zu verstehen oder durch den Nebel ihres Geistes zu sehen, da sitzt sie schon mit Sami im Bus. Dieses Mal ist es bereits morgens. Die Sonne kriecht hinter den Wipfeln des Waldes in ihrem Rücken hervor und Beffaná ist so müde, dass sie während der Fahrt mehrmals einnickt. Erst zuhause im achten Stock, kommt sie wieder einigermaßen zu sich, gerade genug, um ihren erstaunten Vater zu begrüßen, der noch im Schlafanzug an der Kaffeemaschine steht.
„Beffaná! Du bist aber früh!“
„Wir haben die ganze Nacht gequatscht“, sagt Beffaná, und das ist streng genommen nicht einmal gelogen. „Sei mir nicht böse, Papa, aber ich muss dringend noch ein bisschen Schlaf nachholen.
„Ist ja Samstag“, sagt ihr Vater. „Ab ins Bett mit Dir!“
Benommen taumelt Beffaná in ihr Zimmer. Sami! Richtig, sie hat ihn mit nach oben genommen und irgendwie ins Zimmer geschmuggelt. Jedenfalls steht er erbost vor dem Adventsstrauch und funkelt ihn böse an.
„Es geht nicht, Beffaná! Ich hab mir ganz genau den Spruch gemerkt, aber ich kann’s nicht!“
„Der Spruch ist egal“, murmelt Beffaná. Wollte sie den Hund nicht eigentlich zur Rede stellen? Ja, vielleicht. Nachdem sie ein bisschen geschlafen hat.
„Wie, der Spruch ist egal?“ fragt Sami.
„Ich kann sagen, was ich will. Mit dem Spruch ist es nur schöner. Hier, Bonsai, mach die Blüte auf, du Strauch! Potz-dings.“
Und während sich 5 Weidenkätzchen öffnen, legt Beffaná den Finger eines Zombies auf den Nachttisch und schläft sofort ein.

Beffaná (St. 5, Kap. 4): Das Versprechen

Beffaná erwacht von den typischen Morgengeräuschen ihres Vaters in der Küche und sie hört, wie er sich mit Jacob unterhält. Beffaná schaut auf die Uhr, es ist schon kurz vor sieben. Noch immer halb schlafend tastet sie neben ihrem Bett herum, bis sie das Fell des kleinen Hundes berührt. „Kein Traum“, denkt sie. Und obwohl der Abend gestern, die Diskussion mit ihrem Vater vor allem, ziemlich heftig gewesen war, ist sie doch froh, dass es jetzt einen Sami in ihrem Leben gibt.
„Aufstehen!“ flüstert sie. „Wir müssen raus!“.
Sami hat sich noch nicht einmal richtig geschüttelt, da hat Beffaná ihn schon auf den Arm genommen und schleicht auf Zehenspitzen mit ihm zur Haustür. Zweimal stoppt sie, um sicherzugehen, dass Jacob und ihr Vater in der Küche nichts bemerken.
„Ich hol dich gleich hier ab“, flüstert sie. „Versteck dich inzwischen… hm, es darf dich niemand sehen…“
„Bei der Haustür, in der Ecke hinter den Briefkästen“, schlägt Sami vor.
„Perfekt!“ sagt Beffaná und wundert sich, wie gut der Hund sich auskennt. Hat er sie auch zuhause observiert? Offensichtlich.
„Bis gleich, flüstert sie, schließt die Wohnungstür hinter sich und geht in die Küche.
„Guten Morgen. Papa, warum hast du mich nicht geweckt?“
„Ich dachte, ich lass Dich schlafen. Es war so spät heute Nacht. Ich schreib Dir eine Entschuldigung für die ersten beiden Stunden.“
Jeden anderen Tag gerne, denkt Beffaná, aber heute nicht.
„Das geht nicht, Papa, wir schreiben eine Arbeit.“
„Sei doch froh, dann musst du nicht mitschreiben.“
„Nein, Papa, ich muss pünktlich sein, wirklich.“
Jacob rollt mit den Augen. „Papa! Dummkopf! Sie will zu Joshua!“
Doch diesmal bekommt er von seiner Schwester und seinem Vater nur einen bösen Blick und zieht maulend ins Bad ab.
„Um ehrlich zu sein“, sagt Beffaná, „muss ich heute sogar früher los. Will noch was fragen vorher. Wegen der Arbeit.“
„Okay, wie du meinst“. Beffaná ist erleichtert und wundert sich, wie leicht sich eine Lüge anfühlen kann. ‚Um ehrlich zu sein‘?! Wenn der wüsste.
„Nimm wenigstens noch einen Schluck Tee“ sagt ihr Vater, doch sie winkt ab.
„Keinen Durst. Aber ich nehm‘ mir einen Müsliriegel für die Busfahrt. Bis heute Nachmittag!“
„Pünktlich!“ sagt ihr Vater. „Verspricht es.“
„Pünktlich.“ sagt Beffaná.

Der Schulweg dauert lang, denn Beffaná nimmt nicht den Bus, sondern geht zu Fuß. So kann sie neben Sami laufen. Der kaut misstrauisch auf seiner Hälfte des Müsliriegels herum.
„Schmeckt komisch“, mault er.
„Lass mich raten“, sagt Beffaná. „Zu wenig Katzenaroma?“
„Nein, zu süß.“
Der Schulweg macht zusammen mit Sami viel mehr Spaß, als alleine im Bus zu sitzen. Beffaná versucht mit ihm zusammen Stadt-Land-Fluss ohne Aufschreiben zu spielen, aber Geografie ist absolut nicht Samis Stärke. Beffaná gewinnt jedes Mal haushoch.

Später in der Schule ist es dafür umso furchtbarer. Alle starren sie an, zumindest hat Beffaná das Gefühl. Welche Eltern hat ihr Vater gestern alles angerufen? Tuscheln sie? Jessie, ihre einzige richtige Freundin in der Klasse, fehlt heute. Und Joshua? Beachtet sie nicht. Guckt sie nicht einmal an in den ersten beiden Stunden. In der Pause wird es Beffaná zu blöd und sie geht zu ihm hin.
„Entschuldige, dass mein Vater gestern bei euch angerufen hat“, sagt sie.
„Hat er?“ fragt Joshua. Ist es ihm wirklich egal, oder tut er nur so?
„Weil er mich gesucht hat!“ sagt Beffaná.
„Okay. Und was hat das mit mir zu tun?“
„Haben’s deine Eltern gar nicht erzählt?“ fragt sie, aber er zuckt nur mit den Schultern. „Kann sein. Eltern, oder?“
Das wars. Beffaná überlegt noch, was sie antworten soll, als Joshua sich schon halb abwendet und in seinem Rucksack wühlt. Sie steht noch einige Sekunden vor ihm, dann wird es Beffaná zu blöd und sie stampft zu ihrem Platz. Doch vorher, schon während sie sich umdreht, schnappt sie sich den Bleistift, auf dem Joshua während des Unterrichts immer herumkaut, und steckt ihn schnell in ihre Tasche.

Der Schultag zieht sich ewig hin und Beffaná ist froh, als sie von Sami am Schultor begrüßt wird. Auf dem Rückweg besprechen sie, wie des weitergehen soll.
„Ich kann heute Abend nicht zum Krampus“, sagt Beffaná. „Du hättest meinen Vater heute Nacht erleben sollen. Wenn sowas noch mal passiert, dann… ich weiß nicht. Wird’s schlimm.“
„Aber du musst“, sagt Sami. Er bleibt mitten auf dem Bürgersteig stehen und schaut sie an. Ernst? Traurig? Herausfordernd? Im Lesen von Samis Hundemimik ist Beffaná noch nicht besonders gut.
„Du hast es versprochen, Beffaná!“
„Nichts hab ich versprochen!“ ruft sie. „Er hat gesagt ‚Seid pünktlich!‘. Ich hab weder ja noch nein gesagt.“
„Doch“, sagt Sami. „Und ob! Nach dem Abendessen!“
„Abendessen? Aber wir waren doch nur kurz…“ Beffaná stutzt. Nein, waren sie nicht. Sie war erst nach Mitternacht zuhause. Sie erinnert sich jetzt, wie sie den Fahrer des Nachtbusses überredet hat, Sami mitnehmen zu dürfen, obwohl sie kein Geld mehr für eine Fahrkarte für ihn hatte.
„Aber, was haben wir denn die ganze Zeit gemacht?“
Sami schüttelt sich. „Das weiß ich nicht, nicht mein Revier. Ich war in der Küche.“
Beffaná stapft eine Weile schweigend vor sich hin, dann fällt ihr etwas ein.
„Sami, du wolltest gar nicht mit mir mitkommen, oder? Ich weiß noch, dass Du gejault hast, als der Krampus sagte, Du sollst mit mir mitgehen.“
„Ich weiß nicht“, sagt Sami. „Daran erinnere ich mich nicht.“
„Doch, doch! Er hat dir einen Hundekuchen gegeben und danach warst du plötzlich total happy, mit mir mitzugehen.“
Sami schüttelt sich kurz, läuft aber weiter ungerührt neben Beffaná her.
„Ich bin auch total happy“ sagt er. Dann bleibt er doch stehen.
„Weißt du Beffaná, der Krampus ist ein komischer Kerl. Und irgendwas in seinem Haus ist mega-seltsam, das stimmt. Aber er ist okay. Und du hast ihm gestern fest versprochen, wiederzukommen. Du hast sogar was unterschrieben, glaub ich.
„Ich habe WAS?!“
„Beffaná, du wolltest doch, dass dieser Junge auf dem Foto dich mag!“ bellt Sami. „Der Krampus sorgt dafür, glaub mir! Er bringt dir die richtigen Tricks bei! Und im Gegenzug machst du ein paar Besorgungen für Ihn in der Stadt. Genau wie ich. Das ist alles. Er ist schon häufig betrogen worden. Er will nur sichergehen, dass sich die Menschen an ihr Versprechen halten.“
Beffaná ist unruhig. Auf keinen Fall darf es passieren, dass ihr Vater sich noch einmal solche Sorgen um sie macht. Wie soll sie abends noch mal rausgehen? Und warum eigentlich? Dann hat sie’s halt versprochen, soll er doch versuchen, sie zu zwingen! Und ja, irgendwie ist sie schon neugierig, was genau der Krampus für Tricks kennt, damit andere Menschen anfangen, einen zu mögen. Aber es geht eben nicht.

Doch – es ist ganz einfach. Kurz nachdem Beffaná zuhause ist und Sami in einem unbeobachteten Moment in ihr Zimmer geschmuggelt hat, klingelt es und Jacob wird zu einer Übernachtungsparty abgeholt.
„An einem Donnerstagabend?“ wundert sie sich, aber ihr Vater zuckt mit den Schultern. „Wird von der Schule organisiert. Du weißt schon: Adventsnacht oder sowas. Das steht doch schon ewig fest. Jacob redet schließlich seit Tagen von nichts anderem, denk doch mal nach!“
Beffaná versucht es, aber sie erinnert sich absolut nicht. Und dann, nach dem Abendbrot, wird es noch seltsamer. Ihr Vater zieht seinen Mantel an und kommt in ihr Zimmer. Gerade noch schafft es Beffaná, Sami unter ihrem Bett zu verstecken, als ihr Vater in der Zimmertür steht.
„Beffaná, ich gehe noch mal raus. Es wird spät werden heute Abend. Geh bitte rechtzeitig ins Bett, okay? Und versprichst du mir, dass du heute mal nicht abhaust?“
Dabei zwinkert er ihr zu. Er hat ihr noch nie zugezwinkert!
„Wohin gehst du denn?“ fragt sie. Beffaná ist vollkommen verwirrt.
„Dürfen Erwachsene denn keine Geheimnisse haben?“ fragt ihr Vater, zwinkert ihr noch einmal zu und geht in Richtung Wohnungstür, als es bereits klingelt.
Beffaná lugt in den Eingangsflur, um zu sehen, mit wem sein Vater wohl verabredet ist. Doch sie traut ihren Augen kaum und kann nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken! In der Tür steht eine riesengroße Bulldogge, die regungslos wartet, bis ihr Vater sich seine Jacke angezogen und den Schlüssel eingesteckt hat. Ihr Vater dreht sich noch einmal um, winkt Beffaná zum Abschied und sie hört noch ein „Gut siehst du heute Abend aus…“ bevor die Wohnungstür sich hinter ihnen schließt.

Beffaná rennt in ihr Zimmer, um Sami alles zu erzählen, doch der steht schon schwanzwedelnd vor ihrem Bett.
„Wollen wir los? Wir sollten nicht zu spät zum Krampus kommen.“
Ab dem Zeitpunkt, wo Beffaná und Sami das Haus verlassen haben, verschwimmt alles um sie herum. Beffaná nimmt schemenhaft den Bus wahr, und wie sie bis zum Waldrand fahren. Sie laufen kurz – oder auch lang? – über dunkle Waldwege und kommen endlich bei dem grauen Haus in der Senke unter den Buchen an. Der Krampus begrüßt sie fast geschäftsmäßig, sperrt den handzahmen Sami in der Küche ein und führt Beffaná… Tja, sie weiß es nicht. Da sind nur Dunkelheit und Flüstern und die bohrenden Augen des Krampus. Zwischendurch eine kurze Pause in der Küche, in der sie vor sich hinstarrt und den kleinen Spitz hinter den Ohren krault. Irgendwann, Ewigkeiten später, ein Abschied, wieder Wald, Nachtbus und die Treppe hoch schleichen bis in den achten Stock. Kurz glaubt Beffaná ein Atmen hinter Frau Schniggenfittichs Tür zu hören, aber sie ist sich nicht sicher und irgendwie ist es ihr auf seltsame Weise vollkommen gleichgültig. Erst als sie mit Sami in ihren Zimmer steht, die Tür hinter sich geschlossen hat und der Hund erwartungsvoll vor der Vase mit den Weidenzweigen hin- und herhopst, kommt Beffaná wieder ganz zu sich.
„Beffaná“, sagt Sami, „Du darfst die vierte Blüte öffnen. Es ist halb eins!“
„Potzblitz…“ murmelt Beffaná. „Potzblitz, Potzlitz, Potzblitz…“

Beffaná (St. 5, Kap. 3): Krampus

Endlich erreichen sie den achten Stock.
„Du musst jetzt leise sein“, flüstert Beffaná. „Keinen Mucks, bis wir in meinem Zimmer sind.“
Sie kann Sami im Dunkeln hinter sich kaum erkennen, aber sie hört, wie er hechelt und an der Tür herumschnüffelt. Vorsichtig dreht sie den Schlüssel im Schloss herum.
„Komm herein und dann links den Flur herunter, es ist die letzte Tür rechts.“
Der kleine Hund flitzt zwischen ihren Beinen hindurch und verschwindet im Dunkeln, als sie noch leise ihre Schuhe auszieht.
„Beffaná!“
In der Küche geht das Licht an und ihr Vater steht in der Tür.
„Wo warst du?“
„Weg“. Irgendwie dämmert es Beffaná erst jetzt, was eigentlich passiert ist.
„Ich bin fast umgekommen vor Sorge!“ Ihr Vater muss unglaublich böse sein, aber er ist auch sehr erleichtert. Er nimmt Beffaná in die Arme und drückt sie so fest an sich, dass sie fast keine Luft mehr bekommt.
„Ich dachte, du bist vielleicht wieder spazieren…“ stammelt sie.
„Wir wollten doch reden! Ich hab den ganzen Abend gewartet.“
„Wir können ja reden“, sagt Beffana unsicher.
„Es ist halb eins!“ zischt ihr Vater. „Ich, ich hab schon bei der Polizei angerufen!“
„Bei der Polizei? Oh Mist, das tut mir leid…“
„Setz dich hier hin und rühr dich nicht vom Fleck! Ich sag da kurz Bescheid, dass du wieder da… Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt? Brauchst du irgendwas?“
Ihr Vater nimmt sie noch mal in den Arm. Beffaná kommen die Tränen.
„Nein, Papa, ich mein, ich brauch nix, alles in Ordnung, mir geht’s gut!“
Eine Minute lang hält ihr Vater sie fest an sich gedrückt, dann schiebt er sie ein Stück von sich weg und mustert sie von unten bis oben.
„Bist du sicher?“
„Ja! Alles picobello! Knorkissimo! Ehrlich!“
„Okay. Hinsetzen. Nicht bewegen. Bin gleich wieder da.“

Beffaná setzt sich an den Küchentisch. Die Reste vom Abendbrot sind nicht abgeräumt, auch ihr Teller steht noch an seinem Platz, unberührt, mit einem sauberen Messer rechts und einer Tasse Tee daneben. Sie nippt. Kalter Kräutertee. Ihre Lieblingsorte. Sie hört ihren Vater im Wohnzimmer telefonieren. Laut, erleichtert. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Halb eins! Sie hat vollkommen die Zeit vergessen! Klar, irgendwie hatte sie schon geahnt, dass es ganz schön spät ist, aber so spät? Ihr Vater kommt zurück in die Küche.
„Alles in Ordnung. Der Polizist war ganz nett. Meinte, dass passiert ziemlich häufig in deinem Alter.
„Papa, das hat doch nix mit meinem Alter zu tun!“
„Dieser Joshua, hab ich Recht? Seine Eltern meinten, dass er bis zehn beim Training war.“
„Beim Training?! Papa, du hast Joshuas Eltern angerufen?“
„Beffaná, ich hab die ganze Welt angerufen! Ich hab mir Sorgen gemacht!“
„Ich war nicht bei Joshua! Ich weiß überhaupt nicht, wo der wohnt!“
Ihr Vater rennt wie angestochen in der Küche hin und her. Zwischendurch beugt er sich runter zu seiner Tochter, drückt sie einmal fest, dann rennt er weiter.
„Du kannst es mir doch sagen! Wir haben doch sonst keine Geheimnisse!“
Pff. Ja, nee, denkt Beffaná. Sagt der Vater, der halbe Tage und Nächte verschwindet, um ‚Spazieren‘ zu gehen. Sagt der Vater, der immer sofort durchdreht, wenn ich frage, wie Mama so gewesen ist.
„Beffana! Sag doch was!“
„Es war gar nix! Überhaupt nix! Ich war im Wald, das ist alles! Und jetzt bin ich wieder da!“
„Wie, im Wald?“ Ihr Vater setzt sich auf den Platz ihr gegenüber, wo sonst immer Jacob sitzt. Vor ihm steht noch ein halb ausgetrunkenes Apfelsaftglas vom Abendbrot.
„Ich hab im Bus nicht aufgepasst und bin bis zur Endstation gefahren. Und weil der Bus zurück erst ’ne halbe Stunde später ging, bin ich im Wald spazieren gegangen.“
„Beffaná, das ist 16 Stunden her! Du bist doch nicht 16 Stunden durch den Wald gelaufen!“
„Na doch, irgendwie schon.“
„Es ist Dezember, es ist doch schweinekalt im Wald!“
„Die Busfahrerin hat mir heißen Kaffee spendiert…“
Ihr Vater springt wieder auf.
„Moment, die Busfahrerin hat dir Kaffee spendiert und dich in den Wald abmarschieren lassen? Welche Linie war das? Das ist doch unmöglich!“
„Nein, Papa, so war das nicht. Sie ist auf’s Klo gegangen und ich hatte keine Lust mehr, rumzusitzen, und da sind wir losgezogen in den Wald.“
„Also doch! Wir!“ ruft ihr Vater. Hinten, in Jacobs Zimmer geht ein Licht an.
„Ja, wir! Ich und die Kaffeekanne.
Es gibt eine wichtige Sache, die Beffanás Vater ein bisschen zu streng sieht. Die Sache mit den Haustieren nämlich. Haustiere sind ein No-Go. Beffanás Vater ist ein absoluter Haustiergegner und lässt überhaupt nicht mit sich diskutieren in diesem Punkt. Haustiere, sagt er, sind Gefangene. Immer. Beffaná kennt zwar hundert Beispiele, wo Haustiere überhaupt nicht den Eindruck machen, Gefangene zu sein. Im, Gegenteil. Wo Haustiere total Happy zu sein scheinen. Aber ihr Vater bleibt vollkommen stur. Wenn Tiere in Wohnungen leben wollten, würden sie sich welche bauen sagt er. Zwar gibt es Tiere wie Mäuse oder Spinnen, die freiwillig in Häuser kommen, aber er hätte noch nie gehört, dass Kinder sich sowas als Haustier wünschen.
„Aber sie sind so gezüchtet!“ hat Beffaná das letzte mal geschrien, als sie sich zum hundertsten Mal darüber gestritten haben.
„Und Zucht ist überhaupt die größte Scheiße!“ hat er da nur geblafft und war für den Rest des Abends draußen verschwunden. Spazieren. Und jetzt gerade sieht er so aus, als stünde er kurz davor, wieder rauszurennen und Spazieren zu gehen. Wohl eher zu rennen, denkt Beffaná. Doch er bleibt in der Küche.
„Was heißt denn hier Kaffeekanne? Hast Du einer Busfahrerin den Kaffee geklaut?“
„Ich fass es einfach nicht, dass du bei Joshua angerufen hast!“ ruft Beffaná. Sie fasst es wirklich nicht. Gut, kann sein, dass sie auch ein kleinwenig ablenken will, aber trotzdem. Sie könnte im Boden versinken. (6:30)
Plötzlich steht Jacob neben ihr. Er hat seinen Stoffaffen in der Hand und blinzelt ins Küchenlicht.
„Papa, geh von meinem Platz runter!“
„Na toll“, brummt Beffanás Vater. Er nimmt Jacob auf den Schoß. „Haben wir dich geweckt?“
„Ich hab geträumt, Beffaná hat einen Hund. Kann ich auch einen? Wenn Beffaná darf, darf ich auch!“
Beffaná vermeidet, ihren Vater anzusehen.
„Papa, wär’s okay, wenn ich jetzt heiß dusche und dann ins Bett gehe. Ich bin müde.“
Ihr Vater streichelt Jacob über den Kopf, der schon wieder halb eingeschlafen ist.
„Na klar. Aber richtig heiß duschen, versprich mir das.“

Als Beffaná aus dem Bad in ihr Zimmer kommt, liegt Sami auf dem Teppich vor ihrem Bett.
„Beffaná“, sagt er.
„Ja?“
„Ich hab Hunger.“
„Ach, natürlich! Was isst du denn so?“
„Katzen.“
„Was?“
„Ein Witz, Beffaná. Weiß nicht. Hast du Haferflocken?“
„Öhm. Ja, schon. Du isst Haferflocken?“
„Oder Katzen. Such’s Dir aus.“
„Mit Milch oder mit Wasser?“
„Mit Wasser!“ Sami schüttelt sich. „Stimmt ds, das ihr Menschen die Milch von Kühen trinkt?“
„Ich, ähm, denke schon“. Beffaná zögert. Darüber hat sie irgendwie noch nie nachgedacht.
„Wasser, definitiv“, sagt Sami.
Jacob und ihr Vater sind nirgends zu sehen. Beffaná holt eine Schüssel Haferflocken mit Wasser aus der Küche, schließt ihre Zimmertür hinter sich und setzt sich zu Sami auf den Teppich.
„Was ist das, das da, in der Ecke?“ fragt der Hund, nachdem sie eine Weile nebeneinander gesessen haben.
„Ein Adventskalender“, sagt Beffaná. „Papa macht uns jedes Jahr einen.“
„Ich weiß, was ein Adventskalender ist“, schnaubt Sami. „Und das da“, damit er deutet mit der Schnauze auf eine Art Reisigbusch in einer hohen Vase, „Das ist jedenfalls keiner.“
„Doch, schau!“ sagt Beffana. Sie geht auf den Busch zu und hockt sich davor.
„Zum ersten Mal, zum zweiten Mal, zum dritten Mal: Öffne dich!“ flüstert sie und zwinkert Sami zu.
In der Vase raschelt es, es ist fast, als ginge ein Windhauch durchs Zimmer, die Zweige richten sich ein Stück weit auf und aus ein, zwei, drei Knospen entfalten sich große Weidenkätzchen.
„Wie hast du das gemacht?“ Sami läuft schwanzwedelnd zu ihr hin und schnuppert.
„Das verrate ich dir erst, wenn du mir sagst, was dein Herrchen, dieser Krampus eigentlich für einer ist…“

‚Die beiden waren tatsächlich den ganzen Tag im Wald unterwegs gewesen. Nachdem Beffaná sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, dass dieser Hund tatsächlich mit ihr sprechen konnte, hatte er sie mitten in den Wald geführt. Seinen Namen, Sami, hatte ihm sein erstes Frauchen gegeben, eine alte Lehrerin. Sie stammte aus Finnland, wie auch seine Eltern. Sie gehörten zur Familie der Suomenpystykorva, einer alten finnischen Hunderasse, wobei es Sami eigentlich schnurzpiepegal war, ob sie nun Mischlinge, deutschee Schäferhunde oder eben Suomenpystykorvae, finnische Spitze waren.
„Fressen alle gerne Katzen!“ grinste er.
„Jetzt hör mal mit den blöden Katzenwitzen auf!“
„Schon gut.“
Sein neues Herrchen, Krampus, lebte mitten im Wald. Er hatte Sami aus dem Tierheim geholt, als sein altes Frauchen gestorben war. Fast drei Stunden hatte es gedauert, bis sie schließlich vor seiner Tür standen. Das Haus war kaum zu sehen mit seinem dunkelgrauen Dach in einer Senke unter dicht wachsenden, mächtigen Buchen.
„Warum will dein Herrchen mit mir sprechen?“ hatte Beffaná gefragt, kurz bevor sie den schweren Messingklopfer an die Tür schlug, doch Sami schüttelte sich nur.
„Menschenangelegenheiten“, meinte er. „Nicht mein Revier.“
„Da kann der Hund schon sprechen, aber er erzählt nix“, sagte Beffaná. „Kurios.“
Ein Mann öffnete. Er war klein und breit und besaß das hässlichste Gesicht, das Beffaná je gesehen hatte.
„Was willst du?“ schnaubte er. Dann bemerkte er den Hund.
„Was will die hier?“
„Sie ist SIE“, zischte Sami. „DAS MÄDCHEN!“
„Was zum Teufel?“ Der Mann blickte von Sami zu Beffaná.
„Die ich observieren sollte“ nuschelte Sami. „In der Stadt.“
„Welchen Teil von OBSERVIEREN hast du idiotische Töle eigentlich nicht verstanden? Von HERBRINGEN war nie die Rede!“
„Mal ganz ruhig, Brauner!“ Beffaná hielt dem Zwerg die Isolierkanne mit Kaffee unter die Nase. „Sami hier meint, sie steh’n auf das Zeug.“
Der Zwerg, Krampus, nahm die Kanne und schraubte sie misstrauisch auf.
„Ist lauwarm. Trotzdem besser als nix. Kommt herein.“
Sie setzen sich alle gemeinsam in die kleine Küche neben der Haustür. Krampus schien es wichtig zu sein, dass Beffaná möglichst wenig vom Rest des Hauses sah.
„Warum hat ihr Hund mich OBSERVIERT?“ fragte sie.
„Weil ich Leute suche“, grummelte er. „Junge Leute, mit Potential. Leute aus der Stadt.“
„Und warum ausgerechnet mich?“
„Papperlapapp, ausgerechnet! Was heißt denn hier ausgerechnet? Hätt‘ auch wer anders sein können“, schnaubte der Zwerg. „Ich observiere viele Leute, oder, lasse observieren, manchmal. Klappt aber nicht immer“. Dabei schaute er den Hund grimmig an.
„Aber der Bus!“ bellte Sami „Aber der Bus mit ihr drin ist immer weiter gefahren bis fast in den Wald! Da dachte ich, das kann ja kein Zufall sein! Ich hol die Alte doch auch immer von der Bushaltestelle…“
„Aus! Jetzt! Sami!“ Fast bellte der Zwerg zurück. „Du denkst ein bisschen viel. Also, was ist jetzt? Macht sie mit oder nicht?“
„Wobei denn überhaupt“, fragte Beffaná. Sie hasste es, wenn andere über sie redeten, also sei sie gar nicht da.
„Gut“, sagte er Zwerg. „Hat er also wenigstens den Mund gehalten.“ Er ging zum Küchenschrank und holte ein großes Foto im DIN-A4-Format aus der obersten Schublade heraus.
„Hier“, er reichte Beffaná das Foto. „Interesse?“
Das Foto war von Joshua. Am Schultor, wie er sich mit einem Freund unterhielt.
„Was soll das?“ fragte Beffaná.
„Soll er dich mögen, oder nicht?“
„Er mag mich. Er schreibt mir Zettel.“
„Ist das so?“ lachte der Zwerg. Er zeigte ihr die Rückseite des Fotos. Lauter Kritzeleien. Schriftproben, angefangene Sätze. „Liebe Beffaná, willst Du mit mir ins Kino? Joshua“.
Beffana starrte den Zwerg an.
„Keine Sorge“, brummte der. „Er wird schon noch mögen. Oder jemand anderes, such Dir einen aus! Ich kann dir zeigen, wie. Wenn du mir bei ein paar anderen Sachen hilfst. So läuft das hier im Wald. Eine Hand wäscht die andere, was, Sami? Sami nickte und hechelte Beffaná an.
„Und Sami hier, den kannst du gern für ein paar Tage mit nach Hause nehmen. Zum Observieren taugt er nicht.“
„Aber…“ Sami kläffte sein Herrchen an, jaulte dann und zog den Schwanz ein.
Beffaná schaute unsicher von einem zum anderen. Einen Hund würde ihr Vater sowie niemals erlauben.
Der Krampus steckte Sami ein kleines Hundeküchlein zu und lächelte zufrieden, während Sami ihn gierig verschlang.
„Auch das Problem mit deinem Vater werden wir bald lösen, da bin ich mir sicher. Oder nicht, Sami?“
Der Hund sprang aufgeregt in der Küche herum.
„Na los, Beffaná, wann gehen wir endlich nach Hause?“
Als sie vor die Tür traten, war es draußen schon stockdunkel und Beffaná fühlte sich merkwürdig erschöpft.
„Morgen Abend“, schnaubte der Krampus. „Seit pünktlich.“

„Der Krampus ist okay“, sagt Sami, während er sich zufrieden auf Beffanás Teppich zusammenrollt. Die Schüssel mit Haferflocken aus ratzekahl leergefuttert.
„Sag schon, was ist der Trick mit diesen Weidenkätzchen?“
„Ist kein Trick“, sagt Beffaná. „Mein Vater kann sowas eben. Konnte er immer schon. Als ich klein war, hab ich geglaubt, dass er ein Zauberer ist oder sowas. Gute Nacht jetzt, Sami.“
„Aber Beffaná…!“
„Schlaf jetzt, Potzblitz, morgen wird wieder ein langer Tag.“

Beffaná (St. 5, Kap. 2): Abwege

Dieses elende, kleine Frettchen!
„Hau ab, ich rat’s dir!“ faucht Beffaná und klaubt ihre Schulsachen auf dem Boden zusammen.
„Jacob, Beffana! Kommt endlich zum Frühstück, in zehn Minuten müsst ihr los!“
Beffanás Vater ruft aus der Küche. Er klingt müde. Beffaná hat schon geschlafen, als er nach Hause gekommen ist.
Jakob flitzt aus ihrem Zimmer.
„Guck mal, Papa, Beffaná ist verliebt!“
Was zum… Beffaná durchwühlt ihren Haufen Bücher neben der Schultasche, die ihr Bruder ausgekippt hat. Das Buch ist weg. Und schlimmer noch: Das, was drin lag, der Zettel! „Liebe…. Joshua“ Die einzigen Worte, die von Joshuas Nachricht noch zu lesen waren.
„Beffaná, komm jetzt bitte!“
„Papa, er hat das Buch geklaut!“
Sie stürmt ihrem Bruder hinterher in die Küche. Der sitzt bereits Beine baumelnd an seinem Platz und streckt ihr die Zunge raus. In der linken Hand hält er triumphierend die verwaschene Nachricht.
Beffanás Vater gießt sich eine große Tasse Kaffee ein.
„Beffaná, Du auch?“
„Tee, bitte. Bleib sitzen, ich mach ihn mir schon selbst. Papa, sag ihm, dass er mir den Zettel wiedergibt!“
„L-I-E-B-E J-O-S-H-U-A!“ kräht Jacob. „Beffaná ist verliebt!“
„Was ist das für ein Zettel?“ fragt ihr Vater.
„Ein Liebesbrief!“ Jacob ist nicht zu bremsen.
„Joshua aus meiner Klasse hat gefragt, ob ich mit ins Kino will. So ein Zettel ist das“, murmelt Beffaná.
„Verstehe“, sagt ihr Vater. Er streicht sich durch den Vollbart.
Er sieht wirklich müde aus, denkt Beffaná.
„Nein, verstehst du nicht“, sagt sie. „Es ist nur Kino.“
„Welcher Film?“ fragt Jacob.
„Welcher Film?“
„Welcher Film, welcher Film?!“
„Ich weiß nicht, welcher Film!“
„Man geht doch nicht ins Kino, ohne zu wissen, in welchen Film!“ kräht Jacob. „Du brauchst beim Bäcker 5 Minuten, um Dir das richtige Croissant auszusuchen!“
„Hat er Recht.“ grinst ihr Vater.
„James Bond!“
Beffanás Vater rollt mit den Augen.
„Ich beginne Jacob zuzustimmen.“
„Und guck mal, Papa! Hier, das steht dein Name drauf!“
Jacob holt das Buch unter dem Tisch hervor, das Buch aus der Wohnung von Frau Schniggenfittich. „Kaitus, der Zauberer“.
„Wo hast du das her, Jacob?“
„Aus Beffanás Tasche!“
„Woher, Beffaná?“
Seine Stimme klingt ungewöhnlich scharf. Das ist mehr als nur Müdigkeit.
„Frau Schniggenfittich. Woher hat die ein Foto von euch? Mit ihr selbst in der Mitte zwischen euch?“
Nicht über das Buch reden, denkt sie. Zumindest nicht, wie genau sie zu dem Buch gekommen ist.
„Was meinst du mit ‚Foto von euch‘?“ fragt ihr Vater. Doch er kennt die Antwort. Sie hört es an seiner Stimme.
„Und wo warst du gestern Abend?“ bohrt Beffaná weiter. Sie kennt die Tricks. Am besten immer selbst zum Angriff übergehen. Besser selber bohren, als durchbohrt zu werden.
Ihr Vater schaut sie an. Ernst, irritiert, dann traurig. Auf die Art traurig, die Beffaná gar nicht mag. Auf die Art, dass sie ihm alles erzählen und ihn nur wieder fröhlich machen möchte.
„Beffaná, du weißt doch, wo ich war. Ich brauche manchmal Zeit. Ich geh Spazieren. Das ist alles.“
„Ja, okay. Ich mein‘ nur…“
„was meinst du, Beffaná?“
„Ich mein‘ nur, Jacob war allein zuhause, und ich bin erst spät aus der Schule heimgekommen. Das ist nicht in Ordnung!“
„Ich hab Verstecken gespielt“, sagt Jacob.
„Mit dir selbst?“
„Nein, mit dem Spiegel! 5 Minuten hab ich ich’s geschafft!“
„Lass uns heute Abend reden“, sagt ihr Vater. „Über alles. Ihr müsst jetzt zur Schule. Komm Jacob, ich fahr dich… Jacob? Wo ist er jetzt schon wieder hin?“
Manchmal verschwindet Jacob einfach.
„Bin schon angezogen!“ kräht der von der Garderobe her. „Ich will vorne sitzen!“
„Im Traum vielleicht“, murmelt Beffanás Vater. Dann steht er auf und zwinkert ihr zu. „Bis heute Abend, Große.“

Sie braucht ein paar Minuten, um ihre Tasche zu packen. Zu lang, um mit Jacob und ihrem Vater zusammen runter zu gehen. Erst im Treppenhaus beschleicht sie ein ungutes Gefühl. Frau Schniggenfittich, hoffentlich lauert die nicht wieder hinter ihrer Tür. Der Fahrstuhl ist immer noch defekt. Aber es gibt einen Ausweg. Beffaná steigt aufs Treppengeländer. Früher hat sie das andauernd gemacht. Warum auch nicht? Jetzt ist sie sogar noch schneller! An Frau Schniggenfittichs Wohnung ist sie so schnell vorbei, dass sie gar nicht weiter drüber nachdenken kann. Aber was war das gerade? War das nicht ein Bellen? Kann nicht sein. Frau Schniggenfittich hat keinen Hund. Hätte sie ja spätestens gestern bemerkt. Und die aus dem Dritten haben auch keinen, das ist Tessas WG und die hat Allergie. Gegen alles, irgendwie. Aber da hört sie es wieder. Ein Bellen. ganz klar. Beffana ist am Sims der Treppe im Eingangsflur angekommen. Gerade klebt ein Mechaniker Absperrband vor den Fahrstuhl. Na toll, das dauert wieder mindestens einen Monat, denkt Beffaná, als sie das Haus verlässt.

Zum Glück ist der Bus pünktlich. Aber er ist voll. Und sie muss stehen. Eigentlich wollte Beffaná sich das Buch genauer ansehen. Es ist wohl ein Kinderbuch. Über einen Jungen, der nur Unsinn im Kopf hat und sich auf irgendeine Art das Zaubern beibringt. Beffaná hat gestern nur den Klappentext und die ersten paar Seiten gelesen. Fast schläft sie im Stehen ein, aber drei Haltestellen, bevor sie umsteigen muss, sieht sie draußen auf dem Bürgersteig etwas, das sie stutzig macht. Ist das ein Fuchs, dort? Wahrscheinlich eher ein Hund, aber ein rotbrauner, und genauso groß, wie Beffaná sich einen Fuchs vorstellt. Sie hat noch nie einen Fuchs in echt gesehen. Er trabt kurz auf dem Gehsteig im strömenden Regen neben dem Bus her, doch dann, an einer großen Kreuzung, verliert Beffaná ihn aus dem Blick. Heute ist ein kurzer Schultag. Außerdem fast nur Vertretungsstunden. Und Joshua. Eigentlich hat Jacob Recht, oder? Was ist denn das für eine Frage, ‚ins Kino‘? Was heißt denn hier ‚Ins Kino‘? Welcher Film? Wer bezahlt? Ist das eine Verabredung? Eine Einladung? Ein Date? Will er eine Wette gewinnen? Oder steht er einfach auf Filme, die kein Kumpel mit ihm gucken will? Vielleicht ist er ja schwul. Wahrscheinlich sogar, eigentlich sieht Joshua viel zu gut aus, um nicht schwul zu sein. Aber was geht’s mich überhaupt an?
„Kindchen, entweder du kommst selbst in die Hufen, oder ich nehm‘ dich Huckepack!“
Was? Moment! Beffaná schrickt aus ihren Gedanken auf.
Die Busfahrerin steht mit verschränkten Armen vor ihr und schüttelt ihren Kopf. Die Frau ist riesig, mindestens Eins Neunzig groß, breit wie ein Kleiderschrank und hat beeindruckende Segelohren.
„Aufwachen, Lady! Endstation!“
„Endstation?“
„Aber sowas von. Noch drei Meter weiter, den Hügel rauf und Du kannst den Arsch der Welt besichtigen.“
Nicht das noch. Sie hat den Umstieg verpasst. Um fünfzehn Stationen oder so!
„Wann geht denn der nächste zurück?“
„Na, immer um halb und um voll. Du musst hier trotzdem raus, ich darf keinen drinlassen, wenn ich abschließe.“
„Aber es regnet und ist kalt…“
„Und ich muss trotzdem pinkeln. Raus mit dir. Dahinten gibt’s ’nen Unterstand, siehst du?“
„So ein Mist! Aber, ja, danke…“
„Bin in zehn Minuten wieder da. Willst’n Kaffee haben? Ich geb einen aus.“
„Das wär toll, danke.“
Sie steigen beide aus dem Bus und die Fahrerin schenkt Beffaná Kaffee aus ihrer Isolierkanne ein.
„Setzt dich da hinten auf die Bank im Unterstand“, sagt sie. „Und Kopf hoch, is‘ doch nicht weiter schlimm. Was verpasst du denn gerade. Schule, oder?“
„Erdkunde.“
„Erdkunde, was. Also, gut, Erdkunde. Das hier Schätzchen“, sagt die Busfahrerin und macht mit ihrem rechten Arm einen großen Halbkreis um sich herum, „Das is’n Wald. Bäume, Pfützen, noch mehr Bäume und… schau an, hast du echt Glück heute, und’n Fuchs. Is ja richtig idyllisch hier, heute. Wenn’de Schiss kriegst, ich bin auf’m Klo.“
Die Busfahrerin drückt Beffaná Tasse und Kanne in die Hand und stapft davon in Richtung eines Wellblechverschlags und schlägt die Tür hinter sich zu. Doch Beffaná achtet gar nicht mehr auf sie. Sie starrt auf den Fuchs, der am Waldrand steht und zu ihr herüber schaut.
Es ist ohne Zweifel der Fuchs von eben in der Stadt. Wie hat er das gemacht? Er muss wie der Teufel gerannt sein. Kurz dreht er sich um, als wolle er in Richtung Wald verschwinden, dann schaut er wieder zu Beffaná und bellt ein paarmal. Wieder bleibt er stehen. Beffaná kneift die Augen zusammen. Sie ist sich ziemlich sicher, dass er ein Halsband trägt. Gibt es sowas, bellende Füchse mit Halsbändern? Eher nicht. Also ist es ein Hund. Wieder schwenkt der seinen Kopf in Richtung Wald und bellt.
„Was willst du?“ ruft Beffaná. „Ich hab nix zu fressen! Außer, du magst Kaffee!“
Der Fuchs/Hund starrt zu ihr herüber. Beffaná ist kalt, sie nimmt einen tiefen Schluck aus dem Kaffeebecher. Gar nicht mal schlecht, denkt sie. Aber Kräutertee ist trotzdem besser. Sie hält die Tasse vor sich hin:
„Ich hab nur Kaffee! Also was jetzt?“
Der Hund zögert, dann trabt er auf sie zu. Beffaná hat keine Angst. Er ist nicht groß, sie könnte locker mit ihm fertig werden. Als er bei ihr angekommen ist, setzt er sich vor sie hin und wartet.
„Potzblitz, willst wohl gestreichelt werden,“ sagt Beffaná und krault den Hund vorsichtig hinter den Ohren.
Der Hund schaut sie an.
„Jedenfalls besser, als im Regen rumzustehen. Jetzt schnapp Deine Sachen und komm endlich mit. Und vergiss den Kaffee nicht, den wird er mögen.“