Beffaná (St. 5, Kap. 14): Jagdfieber

Als die junge Hexe und ihr Hund das graue Haus im Wald erreichen, herrscht dort hektische Betriebsamkeit. Eine Vogelscheuche weist sie an, sich neben einen Feldstein zu hocken, der gegenüber der Haustür die Grenze zum dichten Wald markiert. Irgendwann eilt Mino an ihnen vorbei.
„Eine Jagd!“, jubelt er, „endlich wieder eine Jagd!“
„Bin ich zu spät?“, ruft Beffaná ihm noch hinterher, aber er ist da bereits verschwunden.
Auch Sami lässt sich anstecken. Seine Schwanzspitze zeigt in die Höhe, seine Ohren sind gespitzt, immer wieder bleckt er seine Zähne.
„Weißt du, was hier gespielt wird?“, fragt Beffaná.
„Eine Jagd!“, bellt Sami aufgeregt. „Das wird eine ganz besondere Nacht!“
„Aber was ist mit meiner Prüfung?“, fragt Beffaná ein wenig enttäuscht. Eigentlich ist es ja so: Niemand mag Prüfungen. Auch Beffaná nicht. Vor manchen Prüfungen in der Schule hat sie sogar richtig Muffensausen. Aber für eine Prüfung beim Krampus fühlt sie sich bereit. Sie hat in so kurzer Zeit schon so viel gelernt, zuletzt auch mithilfe von Mino. Natürlich ist sie keine richtig „gute“ Hexe, aber schon so gut, wie man es nur sein kann nach wenigen Tagen des Unterrichts beim Krampus.
„Da ist sie ja!“, ruft der Krampus. Er steht in der Tür. „Gut, dass du Sami mitgebracht hast. Er wird uns nützlich sein.“
Dann marschiert er los.
„Worauf wartet ihr?!“

Sie ganze Mannschaft hat sich auf dem Hügel hinter dem Haus versammelt. Brennende Fackeln säumen den Weg zum Treffpunkt. Dort stehen der Krampus und Mino, umringt von mehreren Vogelscheuchen, einem Zombie, einem Wolf, und einer Handvoll gedrungener, spinnenhafter Wesen. Der Wolf knurrt einmal drohend, als er Sami bemerkt, doch dann hebt der Krampus seinen Arm und die ganze Gesellschaft verstummt.
„Freunde!“, ruft der Krampus feierlich. „Mino hat in der Morgendämmerung einen Nachtschrat gesichtet!“
Ein Murmeln erhebt sich. Beffaná kann nicht sagen, ob es ein anerkennendes oder furchtsames Murmeln ist. Jedenfalls scheint es eine große Sache zu sein, denn Krampus, der seinem Sohn kaum bis zur Schulter reicht, schlägt ihm anerkennend auf den Rücken.
„Ihr wisst, was das bedeutet!“, ruft er. „Wir haben heute Nacht die einzigartige Gelegenheit, einen Nachtschrat zu fangen!“
Der Krampus beugt sich nach vorne, senkt die Stimme und die Umstehenden müssen nah an ihn herantreten, um ihn zu verstehen.
„Wenn der Nachtschrat in der Morgendämmerung sein Loch verlassen hat, dann kehrt er spätestens am Ende dieser Nacht in die Erde zurück. Bis dahin müssen wir ihn finden, oder die Gelegenheit ist für lange Zeit vorüber.“
„Was ist ein Nachtschrat?“, flüstert Beffaná Sami zu „Und warum ist die Gelegenheit dann vorüber?“
Doch statt Sami antwortet Mino, indem er sich an die gesamte Gruppe wendet.
„Nachtschrate leben jahrelang im Waldboden. Und nur in einer Nacht, alle zehn bis fünfzehn Jahre, graben sie sich aus und gehen auf die Jagd.“
„Was jagen sie denn?“, fragt Beffaná.
„Hauptsächlich Winterschläfer“, sagt Mino. „Tiere, die in ihren Höhlen, Löchern und Verstecken Winterruhe halten.“
„Und Müll“, sagt der Krampus. „Seitdem die Menschen sich breit gemacht haben, durchwühlen sie eigentlich meist Mülltonnen und Komposthaufen.“
„Okay…“ sagt Beffaná. „Und warum jagen wir sie dann?“
„Nachtschrate sind perfekte Botentiere“, sagt Mino. „Sie unterhalten ein weit verzweigtes Höhlensystem unter der Erde und können graben wie die Teufel. Es heißt, dass mit ihrer Hilfe schon Kriege gewonnen wurden, weil sie die entscheidenden Nachrichten hinter die Frontlinien geschmuggelt haben.“
„Wer einen Nachtschrat kontrolliert,“ ruft der Krampus, „kontrolliert das Land. Wer ein Dutzend Nachtschrate kontrolliert, kontrolliert die Welt! So lautet das Sprichwort!“
„Wie wär’s denn mal mit Keinen-Krieg-Führen und einfach mal anrufen statt unterirdische Spione zu schicken…?“, fragt Beffaná und der Krampus lacht.
„Beffaná, dem Nachschrat passiert schon nichts, versprochen. Und niemand will einen Krieg gewinnen. Es ist eine alte Tradition, ein edler Wettstreit und heute Nacht ist es auch deine Prüfung!“

Erst nach und nach versteht Beffaná den ganzen Rambazamba. Die Nachtschratjagd ist eine große Sache in gewissen Teilen der Hexengemeinschaft. Denn sie zu aufzuspüren und zu fangen ist eine große Leistung. Nachtschrate sind über der Erde eher gemächlich unterwegs, doch sind sie Meister der Tarnung und bewegen sich ausschließlich in der Dunkelheit. Außerdem verfügen sie über ein gewisses Maß an magischen Kräften. So sind Jagdhunde wie Sami erst in der Lage, ihre Witterung aufzunehmen, wenn sie direkt neben dem Schrat stehen. Und Nachtschrate besitzen die Fähigkeit, gegen sie verwendete Zauber umzukehren. Daher werden sie entweder ohne den Einsatz von Hexerei gejagt oder mindestens zu zweit, denn ein Schrat kann nicht zwei Zauber zugleich abwehren.

„Heute Nacht“, verkündet der Krampus, „gibt es eine Treibjagd. Wir teilen uns auf und das Ziel ist, den Schrat in Richtung von Beffaná und Mino zu treiben. Halt dich dicht bei Mino, Beffaná, er hat schon eine Jagd als Treiber mitgemacht. Und er kennt die alten Jagdberichte. Trotzdem: Verlass dich nicht nur auf ihn. Sieh es als eine wichtige Prüfung an.“
„Was ist mit Sami?“, fragt Beffaná. „Kann er während der Jagd bei mir bleiben?“
„Nein“, sagt Sami. „Wenn das deine Prüfung ist, dann werde ich den Treibern zugeteilt.“ Er reibt sich ein letztes Mal an ihrem Hosenbein und trottet zu dem mächtigen Wolf hinüber.
„Platz da!“, blafft er kurz und zu Beffanás Verwunderung trippelt der Wolf ein paar Schritte zur Seite.
Der Krampus reicht Beffaná und Mino ein langes Lederband.
„Einer von euch wird am Ende dieser Jagd mit dem Nachschrat an der Leine zum Festplatz zurückkehren. Arbeitet zusammen, nicht gegeneinander. Und jetzt Weidmannsheil!“

Es ist stockdunkel im Wald. Vom Waldrand her klingt das monotone Schlagen der Trommeln der Treiber und hin und wieder meint Beffaná, einen fernen Schein der Fackeln zu erkennen. Mino neben ihr hat sich ins Laub gehockt.
„Es bringt nichts“, flüstert er, „ziellos im Wald herumzulaufen, wenn man eh nichts sieht.“
Im Schein einer kleinen Taschenlampe hat er Köder ausgelegt. Denn der Nachtschrat, so hat er Beffaná erklärt, hat nur diese eine Nacht, um Fleisch zu fressen. Selbst auf der Flucht ist der Instinkt so stark, dass er davon getrieben wird.“
„Kann er denn auch für uns gefährlich werden?“ wispert Beffaná.
„Nicht solange du keinen unvorsichtigen Zauber gegen ihn anwendest. Er ist nicht sehr groß, seine Beutetiere sind selten größer als ein Kaninchen.“
Sie warten. Mehrere Stunden warten sie, horchen immer wieder in den Wald hinein, auf die weit entfernten Trommeln und das Knacken der Zweige um sie herum. Zum Glück ist es heute Nacht sehr mild. Wie muss sich eine Jagd erst bei Minusgraden anfühlen, denkt sich Beffaná. Ganz ohne wärmendes Lagerfeuer und ohne, dass man sich viel bewegen darf. Es muss bereits nach Mitternacht sein, als sie Geräusche hören. Auf sie zukommendes Rascheln im Laub und knackende Zweige, doch dann hört Beffaná eine wohlbekannte Stimme in ihrem Kopf.
„Ich bin’s, Sami!“
„Was bringst du für Neuigkeiten?“ Das war Mino. Es ist seltsam, ihn in ihrem Kopf zu hören. Beffaná würde gerne etwas sagen, aber diese Telepathie-Geschichte, die klappt noch nicht gut bei ihr.
„Er ist uns entwischt!“, sagt Sami. „Wir haben versucht ihn einzukesseln und dann gezielt in eure Richtung entkommen zu lassen, aber der Kessel war leer!“
„Und was jetzt?“ Beffaná flüstert so leise, wie sie nur kann.
„Er scheint die Totköder abzulehnen“, sagt Sami. „Vor zwei Stunden, da hatten wir ihn fast und die Vogelscheuchen haben einen Versuch mit Totködern gemacht. Er ist einfach daran vorbeigehuscht.“
„Ja, das kommt vor“, sagt Mino. „Bei älteren Exemplaren, die schon mal erfolgreich einer Jagd entkommen sind. Die Dinger sind schlau, die merken sich sowas. Habt ihr lebendige Köder probiert?“
Beffaná schüttelt sich. „Was soll das denn heißen?“ wispert sie.
„Mäuse und so“, sagt Sami. „Ja, haben wir. Aber sie sind weg. Entweder war die Falle kaputt oder er hat sie rausgeholt, ohne das wir’s gemerkt haben. Der Krampus meint, dass ihr zum Haus zurückkehren sollt. Alte Nachtschrate sind nicht ungefährlich. Außerdem sind sie nur schwer als Boten abzurichten.“
„Ich werde meine erste eigene Jagd nicht so beenden“, sagt Mino. „Du etwa, Hexenschülerin?“
„Nein“, flüstert Beffaná, obwohl sie mit Schaudern an die beiden verschwundenen Mäuse denken muss. „Ich hab sogar eine Idee, wie wir ihn in die Falle locken.

Der Plan ist simpel. Wenn der Schrat keine Totköder schluckt, und es keinen Lebendköder mehr gibt, dann gilt es eben, neue Köder zu finden. Und Beffaná hat sie bereits gefunden.
„Stein, Schere, Papier“, flüstert sie. „Wer gewinnt, spielt den Köder.“
„Wirklich schlau!“ ruft Mino in ihrem Kopf. „Und der andere muss nur dafür sorgen, dass das Biest an der Leine hängt, bevor es zugeschnappt hat.“
„Seit ihr wahnsinnig?!“ telepathiert Sami, doch Mino ist bereits an seinem Ohr. „Wir flüstern Sami unsere Wahl zu, dann kann’s kein Schummeln geben. Ich fang an.“
Als Beffaná an der Reihe ist und Sami ein „Stein“ zuflüstert, ist es eine Weile lang totenstill. Dann hört sie ein „Beffaná“ in ihrem Kopf. „Mino hatte Schere.“
Die Sache ist kniffelig. Das Verwandeln einer Person in ein Tier ist nicht ganz ohne, aber das größere Problem ist, dass eine verwandelte Hexe nicht zaubern kann, zumindest ginge das über Minos und Beffanás Fähigkeiten hinaus. Beffaná ist also wehrlos, sobald sie der Köder ist.
„Was soll’s denn sein, Beffaná?“
„Maus“, sagt sie und schluckt. Es wird ernst.
Mino macht kurzen Prozess und Beffaná schließt bei seinem Zauberspruch die Augen.
„Beffaná!“ hört sie Sami bellen.
„Sei doch leiser!“ zischt sie ihn an und als sie ihre Augen öffnet, erkennt sie in der Dunkelheit, wie der Sami-Schatten wild um sie herumspringt und die Zähne fletscht. Es hat nicht funktioniert, sie hat nach wie vor menschliche Gestalt. Dafür ist Mino verschwunden. ‚Gönnt dieser Mistkerl mir nicht mal dieses bisschen Spaß?‘, denkt sie noch, als sie es in ein paar Metern Entfernung zischen hört.
Sami bellt: „Mino! Der Schrat hat den Zauber gegen ihn gerichtet! Ich rieche ihn, der Nachtschrat ist ganz nah und Mino ist in Gefahr!“
„Hellste Sonne, heißer Stern!, denkt Beffaná und kneift die Augen zu, so geblendet ist sie vom Licht ihres Zaubers. Da sieht sie ihn, den Nachtschrat, sieht, wie die gelben Augen kurz aus dem Unterholz zu ihr herüber starren und er dann zum Sprung ansetzt auf eine kleine Maus, die zwischen ihnen im Laub hockt. Irgendetwas fiepst in Beffanás Kopf, doch sie wischt es weg und handelt wie in Trance. ‚Zauber gegen ihn gerichtet!“ schreit es in ihr. „Er kehrt die Zauber um! Die Spielplatzgeschichte, erinnerst du dich?!“ Das ist es!
„Sorry, Sami!“, ruft Beffaná, doch sie hat es stumm gemacht, direkt in seinem Kopf. Dann schleudert sie mit einer unsichtbaren Kraft den kleinen Hund hoch durch die Luft direkt auf den Nachtschrat. „Du schlaue Hexe!“ fiepst es in ihrem Kopf und dann liegt Sami völlig benommen auf dem ausgeknockten Schrat.

Die Ankunft auf dem Festplatz ist ein regelrechter Triumphzug. Den grummelnden Schrat an der Leine werden Beffaná, Mino und der immer noch leicht wackelige Sami von den Treibern empfangen.
„Sie hat den Spitz als Wurfgeschoss verwendet“, erklärt Mino seinem Vater, der Beffaná anerkennend auf die Schulter klopft.
„Indirekter Zauber“, lobt der Krampus. „Ich sag ja, ich mag deinen Stil, Beffaná! Und du Mino, hast wirklich Glück gehabt. Das war ein Anfängerfehler! Du hättest erst Sami losschicken müssen, um den Zauberort abzusichern!“
„Ja, Vater“, sagt Mino mit gesenktem Kopf.
„Bring den Schrat in den Keller“, sagt der Krampus streng. „Und jetzt wird gefeiert!“

Es wird eine lange Nacht und Beffaná kehrt zusammen mit Sami erst kurz vor dem Morgengrauen zurück nach Hause. Im Bus begegnet sie bereits den ersten Pendlern, die zur Arbeit fahren. Ihr Kopf ist voller wirrer Gedanken, voller Stimmen und Gesänge, als sie schließlich in ihr Zimmer schlüpft und die Doppelgänger-Beffaná weckt.
„Wie war deine Prüfung?“ fragt Esmeralda schlaftrunken und Beffaná hebt nur einen Daumen in die Luft.
„Kindchen, du musst in einer Stunde wieder raus!“ murmelt Esmeralda. „Wir müssen wirklich etwas an deinem Schlafrhythmus ändern, das hältst du ja nicht lange aus.“
Beffaná sinkt auf ihr Bett und zuckt mit den Schultern.
„Nein, warte, steh auf!“ flüstert Esmeralda. „Schnapp dir Sami, geht runter in meine Wohnung und schlaf dich aus. Ich regel‘ das mit der Schule.“
Beffaná will protestieren, aber eigentlich ist sie viel zu müde und viel zu dankbar für die Aussicht auf einige Stunden Schlaf. Und tatsächlich, Doppelgänger-Beffaná macht ihre Sache wirklich gut. Niemand, weder Anil noch die Lehrer, bemerken etwas. Nur zu dem Treffen mit Jessie taucht niemand auf, weil Esmeralda alias Beffaná längst wieder im Bus nach Hause sitzt und als die echte Beffaná nachmittags in Esmeraldas Wasserbett aufwacht, ist das ihr allererster Gedanke.
„Oh nein! Potzblitz!!!“

Beffaná (St. 5, Kap. 13): Vater-Tochter-Vormittag

Beffaná hat einen Traum. Es ist derselbe Traum wie immer, doch natürlich ist das Unsinn, kann nicht sein. Denn sie träumt ihn jetzt zum ersten Mal. Es gibt Träume, von denen du weißt, dass es Träume sind und von denen du noch im Traum denkst, dass du sie schon hundertmal geträumt hast und dennoch wachst du nicht auf. Oder vielleicht wachst du auch auf, aber es kommt dir vor, dass du den Traum bevor du aufwachst, stundenlang durchlebst. Träume machen keinen Sinn und das ist traurig, wenn es schöne Träume sind.

Das hier ist ein schöner Traum. Sie fliegen in den Wolken. Beffaná weit vorne, ihre Mutter hält sie ganz fest. Ihr kann nichts passieren. Ihre Mutter sitzt dicht hinter ihr, auf einem Besen.
„Mama ist eine Hexe“, denkt Beffaná. „Mama hält mich fest, bei Mama ist es sicher.“
Unter ihnen heult der Wind. Er trägt sie. Er passt auf sie auf. Sie kuscheln sich in seine Böen wie in die flauschigen Bademäntel unten bei Tante Essi.
„Der Wind trägt uns sicher“, denkt Beffaná, „der Wind ist immer da, wenn Mama nach ihm ruft.“

Dann stürzt sie ab.

Beffaná liegt im Dunkeln und tastet nach Sami. Ach nein, er schläft ja unten. Sie knipst das Licht an, macht es sofort wieder aus.
„Warte“, denkt sie. Ihre Augen gewöhnen sich sehr langsam an die dunkle Umgebung. Draußen dämmert es, ganz schwach noch, aber es ist nicht mehr Nacht. Beffaná probiert einige der Zaubersprüche durch, von denen sie nie genau weiß, ob der Krampus sie ihr beigebracht hat oder ob sie ganz von alleine zu ihr gekommen sind. Ihr linker, kleiner Finger beginnt zu leuchten. Vorsichtig steht sie auf. Als erstes fällt ihr Blick auf den Adventskranz, den ihr Vater ihr gemacht hat. Er sieht welk und traurig aus, das Wasser unten in der Vase ist verschwunden. Beffaná gießt den Inhalt einer Wasserflasche hinein. Die Flasche steht an ihrem Bett, seit Esmeralda abends für ein paar Stunden darin schläft. Beffaná legt sich gerne in das vorgewärmte Bett, wenn sie nachts Esmeralda abgelöst und nach unten ins Bett geschickt hat. Die letzten Nächte war Sami abends bei Esmeralda, der Doppelgänger-Beffaná geblieben und hatte sich in Beffanás Zimmer unter dem Bett versteckt. Später war er zusammen mit Esmeralda nach unten gegangen. Er hatte nicht darauf bestanden, mit Beffaná in den Wald zu gehen und Beffaná kam auch allein klar. Oder war es ihr sogar lieber so? Ihr Bett riecht gut, wenn Esmeralda darin geschlafen hat. Was würde sie nur ohne die alte Wetterhexe machen? Erst nach und nach ist bei Beffaná wirklich angekommen, was sie ihr gestern erzählt hat. ‚Leah war ganz außergewöhnlich, selbst für eine Hexe‘. Sie hatte es ganz nebenbei gesagt und Beffaná war nicht eine Sekunde überrascht gewesen. Natürlich war sie eine außergewöhnliche Hexe, was denn sonst. Draußen schlägt die Turmuhr. Sechs Uhr morgens. Beffaná hat erst fünf Stunden schlafen, dennoch sie ist hellwach. Sie sollte erschöpft sein, nach den neuen Übungen, die Mino ihr gezeigt hat. Stattdessen ist sie aufgedreht und voller Tatendrang.

Die Zweige des Adventskalenders haben das Wasser fast vollständig aufgesogen, zum Glück sind sie noch nicht vertrocknet. Beffaná lässt alle 13 Blüten aufgehen. Dritter Advent, denkt sie, und die Weidenkätzchen aufgehen zu lassen, das war ja eigentlich ihre allererste Hexerei. Andererseits: Ihr Vater hat es ihr gezeigt, schon seit vielen Jahren schenkt er ihr und Jacob diesen wunderbaren Kalender, obwohl Jacob natürlich viel lieber Spielzeug hätte. Was genau weiß ihr Vater über die ganze Sache? Esmeralda sagt, dass er auf keinen Fall von ihren Ausflügen in den Wald erfahren darf. Doch warum nicht? Nur, weil er sich Sorgen machen würde? Oder wäre er aus ganz anderen Gründen dagegen? Es gibt einiges zu klären. Und plötzlich hat sie einen Plan, wie sie es anstellen kann.

Als Jacob und Anil in die Küche kommen, ist der Frühstückstisch gedeckt, in der Mitte der Tisches leuchtet der Adventskranz und daneben steht ein Teller mit fast überhaupt nicht angebrannten Pfannkuchen. Vielleicht gibt des Hexereien, wie man solche Gerichte perfekt hinbekommt, aber der Krampus hat nichts davon erwähnt und Beffaná ist überzeugt davon, dass er so etwas für Zeitverschwendung halten würde.
„Setzt euch doch!“ ruft sie. Schläfrig und verdutzt setzen sich die beiden männlichen Grimms an den Tisch und Beffanás Vater nippt vorsichtig an dem frisch gebrühten Kaffee vor ihm.
„Gar nicht übel“, sagt er.
„Ich hab den Tag schon durchgeplant“, erzählt Beffaná, noch während sie essen. „Wir beide, Papa, machen heute einen Spaziergang, Vater-Tochter-Vormittag. Und für Jacob gibt’s auch was Besonderes.“
Es klingelt.
„Da ist sie schon!“
Kurz darauf kommt Beffaná mit Esmeralda und Sami in die Küche. Sowohl Ihr Vater als auch Jacob gucken wie angestochen. Na klar, denkt Beffaná, Jacob hat wahrscheinlich Sorge, dass sein frisch erpresstes Spielzeug, der Millenium-Falke wieder in Gefahr ist. Und Papa…
„Esmeralda“, sagt er bereits. „Das ist eine Überraschung.“
„Papa, ich habe Frau Schniggenfittich heute morgen…“, „Früh morgen“, ergänzt Esmeralda etwas maulig, „…Frau Schniggenfittich heute morgen im Treppenhaus getroffen. Sie hat seit kurzem einen Hund und hat mich gefragt, ob ich heute…
„Ausnahmsweise“, schiebt Esmeralda ein,
„Ausnahmsweise mit ihm rausgehen könnte, weil sie sich…“
„…den Fuß verknackt hat…?“, setzt Esmeralda fort,
„Genau, den Fuß verknackst hat. Wär das okay?“
„Ja“, sagt Anil. „Klar.“
„Danke Papa! Kommst du mit? Bitte! Vater-Tochter-Spaziergang!“
„Und war ist mit Jacob?“
„Ich kann auf ihn aufpassen“, sagt Esmeralda, mit etwas zu offensichtlich überspielter Nicht-Begeisterung.
„Das kommt ein bisschen plötzlich“, sagt Anil. „Jacob und Esmeralda kennen sich ja kaum und eigentlich hab ich noch zu tun.“
„Du hattest gestern schon zu tun!“ entgegnet Beffaná. Sie schaut ihn dabei direkt an, obwohl er versucht, ihrem Blick auszuweichen. „Heute ist Sonntag, Papa. Adventssonntag. Und Jacob und Esmeralda werden bestimmt sehr gut miteinander klarkommen. Oder Jacob? Hast Du Papa eigentlich schon von deinem neuen Spielzeug…?“
„Papa, es wär bestimmt super, wenn Frau Schniggenfittich aufpasst“, sagt Jacob schnell. „Letztens auf dem Spielplatz hat sie auch schon mal…“
„Eben!“ ruft Beffaná. „Und ich darf endlich mal mit einem Hund raus. Da haben alle doch einen tollen Vormittag!“
„Wie gut, dass mich niemand gefragt hat…“ mault plötzlich Sami direkt in Beffanás Kopf, doch sie läuft schnell zu ihm hin und wuschelt ihm sehr unsanft im Fell herum.
„Los, gehen wir!“

Doch Anil Grimm ist ein harter Brocken. Ja, er geht mit Beffaná raus und lässt sich sogar von ihr zu einer großen Runde am Fluss entlang überreden, aber er ist wortkarg, stellt ihr ein paar Alibi-Fragen nach der Schule und brütet dann wieder still vor sich hin.
„Papa?“
„Ja?“
„Guck mal, Sami ist doch ganz süß…“
„Nein.“
„Jetzt schau doch mal genau hin…“
„Nein, du kriegst keinen Hund!“
„Wer sagt denn, dass ich einen Hund haben will?“
„Du. Seit drei Jahren. Wenn das der Plan für heute war, dann denkt dir besser was Neues aus. Kein! Hund!“
„Das war nicht der Plan.“
„Ach?“
„Nein.“
„Was ist denn der Plan?“
„Dass du mal mit mir redest.“
„Worüber?“
„Ist mir eigentlich egal. Ich will nur mal wieder mit meinem Papa reden.“
Nein, das war tatsächlich nicht der Plan. Beffaná bleibt stehen und fängt an zu weinen. Sami leckt an ihrem Hosenbein.
„Ach Große, was ist denn los?“
„Weiß ich nicht!“ schluchzt Beffaná. „Was ist denn mit dir los?“
„Weiß ich nicht“, sagt ihr Vater kleinlaut. „Ich hab mich nicht gut gekümmert, oder?“
„Nein“, sagt Beffaná. „Deine Papa-Performance in den letzten Wochen war echt mies.“
„Ja“, sagt Anil Grimm. „Ich weiß.“
Eine zeitlang stehen sie sich schweigend gegenüber. Schließlich fasst Beffaná sich ein Herz.
„Frau Schniggenfittich sagt, dass Mama und sie früher Freundinnen waren.“
„Sagt sie das? Seit wann unterhältst du mit Frau Schniggenfittich?“
„Seit sie mir dein Buch gegeben hat. Das mit deinem Namen drauf.“
„Es ist nicht mein Buch. Es gehörte deiner Mutter. Esmeralda, also Frau Schniggenfittich, hat es früher mal deiner Mutter geschenkt. Oder geliehen? Ich weiß es nicht mehr. Und dann, nachdem deine Mutter,,, gestorben war, hat es Esmeralda wohl wiederbekommen. Ich hab ihr damals viele Sachen geschenkt, die Leah gehört haben. Beffaná, du weißt, dass es mir schwer fällt, über die ganze Sache zu reden, okay?“
„Nur noch eine Sache, Papa!“
„Ja?“
„Warum redet ihr nicht mehr, Du und Frau Schniggenfittich? Wenn sie doch eine Freundin von… von Mama war? Wenn Du ihr sogar Mamas Sachen geschenkt hast?“
Ihr Vater schaut sie traurig an:
„Das ist schwer zu erklären, Große. Leah und Esmeralda waren die dicksten Freundinnen. Aber wenn die beiden zusammen waren, dann sind sie häufig so… übermütig geworden. Sie haben wirklich dumme Sachen zusammen gemacht. Gefährliche Sachen. Und bei einer dieser Sachen, da… da… Ich weiß, es war nicht Esmeraldas Schuld, aber Leah wurde immer so unvorsichtig, wollte beweisen, wie mutig sie ist und da…“
„Da ist der Unfall passiert, oder?“
„Ja, das stimmt. Und ich hab Leah noch gesagt, dass sie aufpassen soll. Sie hatte ja gerade erst Jacob bekommen.“
„Ihr hattet.“
„Was?“
„Na, du warst ja auch noch da, als Jacob kam.“
„Ja. Und dann war ich plötzlich alleine. Und das fand ich ungerecht. Erst war ich ganz doll traurig, aber dann fand ich es ungerecht und dumm von ihr, dass sie einfach weitergemacht hat mit ihren gefährlichen Sachen.“
„Was denn für Sachen?“
„Schluss für heute, Beffaná. Bitte. Frag doch besser Esmeralda. Wir haben uns schon so viel gestritten über diese Sache, aber sie war die einzige, die damals dabei war.“
„Danke, Papa, dass du’s mir erzählt hast. Ach so…“
„Was denn noch?“
„Was genau ist denn mit dem Buch? Ich hab’s angefangen, aber ich versteh nicht, warum Esmeralda es Mama geschenkt hat. Es ist einfach nur eine Geschichte über einen kleinen Zauberer.“
„Es ist eine Geschichte über einen kleinen Zauberer, der im Lauf der Zeit ziemlich viel Blödsinn anstellt. Der Dinge zaubert, die er nicht mehr kontrollieren kann und damit sich, seine Familie und sogar die ganze Stadt in große Gefahr bringt.“
„Aber das hört sich doch so an, als wollte Esmeralda Mama warnen, gefährliche Dinge zu tun?“
„Hm. Ja, da hast du wohl Recht. Hab ich noch nicht wirklich drüber nachgedacht.“
„Wäre es nicht gut, wenn du und sie, wenn ihr euch wieder vertragen würdet? Das ist doch jetzt schon viele Jahre her.“
Anil Grimm lacht auf: „Ach, Große, das wäre bestimmt gut. Das funktioniert nur nicht immer.“
„Aber probiert ihr es vielleicht mal, Esmeralda und du?“
„Ja, okay. Wir probieren es.“
„Danke.“
„Sag mal Beffaná, seit wann nennst du Frau Schniggenfittich eigentlich Esmeralda?“
„Weiß nicht. Seit… einer Woche?“
„Hast du das hier schon länger geplant? Kommt da noch mehr, oder war’s das jetzt?“
„Weiß nicht… Vielleicht?“
„Du kriegst keinen Hund!“
„Na gut“, mault Beffaná, nimmt aber trotzdem demonstrativ Sami auf den Arm.

Als sie nach Hause kommen, stürmt ihnen Jacob bereits entgegen.
„Also: Erstens, ich hab Hunger. Zweitens: Beffaná, es haben zwei verschiedene Jungs für dich angerufen. Dein geliebter Joshua und dann noch Mio, oder so. Und dann hat auch noch ein Lehrer angerufen, weil er dich über die Raben nicht erreichen kann, sagt er? Ich soll Dir ausrichten, du hast in der nächsten Stunde eine wichtige Prüfung und du sollst pünktlich sein.“
„Okay“, sagt Beffaná. „Wo ist denn Esmeralda?“
„Bei mir im Zimmer. Ich hab ihr gezeigt, wie Lego geht und jetzt baut sie. Schon seit Stunden. Sie ist richtig gut! Ach so. Und. Papa, uns ist beim Spielen die Vase mit dem Adventskalender umgefallen und dann bin ich auch noch draufgetreten. Tut mir leid.“
„Schon gut“, sagt ihr Vater. „Ich repariere ihn. Du weißt doch: Ich hab Zauberhände.“
Dann geht er zu Esmeralda in Jacobs Spielzimmer und ruft bereits kurze Zeit später: „Alles wieder okay, Jacob!“
„Potzblitz“, sagt Beffaná und beugt sich zu Sami runter.
„Kommst du heut nacht wieder mit?“ flüstert sie. „Das fand ich schön.“

Beffaná (St. 5, Kap. 12): Die Tochter ihrer Mutter

Hallo liebe Beffaná-Freundinnen und -Freunde, Matthias hier! Gleich geht’s los mit Folge 12 des diesjährigen Beffaná-Podcasts. Ich habe eine Bitte: Wenn ihr die fünfte Staffel der Beffaná-Geschichte genauso spannend findet, wie ich selbst, dann empfehlt Beffaná doch gerne weiter. Entweder persönlich oder mit einer Apple-Podcast-Bewertung oder irgendwo anders im Internet. Das kostet euch 5 Minuten Eurer Zeit, Beffaná bekommt neue Hörer*innen und ich freue mich wie Bolle. Und, weil ich gerade dabei bin, möchte ich mich tausendmal bei Kai bedanken, der mir auch für diese Staffel ganz herrliche Titelbilder für jede Folge zeichnet. Die könnt ihr in Euren Podcast-Programmen sehen und auf beffana.net habe ich einen neuen Post geschrieben, in dem ich die Episodenbilder der ersten 12 Folgen noch mal in Groß zeige.

Und jetzt viel Spaß mit Kapitel 12 der Weihnachtshexe Beffaná. Der Titel heute ist „Die Tochter ihrer Mutter“

„Hallo Beffaná, alles klar?“
„Jessie?! Endlich! Bist du wieder gesund?“
„Ich war nie krank, wenn Du mich fragst. Aber ich musste noch eine Woche nach den komischen Flecken zuhause bleiben. Hab ich was verpasst?“
„Bitte?! Ähm. Ja! Ich meine: JAAAA! Jess, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll!“
„Fang doch mal mit Joshua an.“
„Mit… Ach so. Da gibt’s nichts Neues. Weißt du was? Ich glaub, er ist vielleicht einfach ein Idiot.“
„I told you so, I told you so, I fi-fa-fucking told you so!“
„Jaja. Ich weiß… Aber es gibt was anderes…“
„Einen Jungen…?“
„Vielleicht… Auch…“
„Wow. Krasser Switch, Bitch!“
„Nein, nicht DAS, Jess. Es gibt Dinge…“
„Du meinst: Es gibt Jungs…“
„Es ist nicht nur das, Jess! Es verändert sich gerade ziemlich viel. Lass uns treffen. Montag nach der Schule?“
„Warum nicht heute Abend? Oder Morgen? Ist doch Sonntag. Ich hab Zeit.“
„Sorry, kann nicht. Besser Montag, okay?“
„Gut. Montag nach der Schule!“

Der Frühstückstisch war nicht gedeckt. Jacob sitzt im Schlafanzug in seinem Zimmer und spielt mit dem neuen Millennium-Falken, in den Beffaná ihr gesamtes Erspartes investiert hat plus einem sehr großzügigen Zuschuss von Esmeralda.
„Jacob, hast du Papa gesehen?“
„Nein. Aber ich hab Hunger.“
„Ich mach uns gleich was. Kurzen Moment noch.“
Beffaná springt die Treppen runter zu Esmeralda. Die öffnet erst beim dritten Klingeln. Sami hüpft Beffaná entgegen und sie nimmt ihn auf den Arm. Dann schnuppert er:
„Ich rieche Regen, Beffaná´! Lässt du mich runter? Ich will nach draußen.“
Und schon saust er die Treppen hinab.
Ob Mino Recht hatte, dass sie nur ‚an ihn gewöhnt‘ ist, aber nicht wirklich an ihm hängt? Sami ist eben ein erwachsener Hund, kein Schoßhündchen. Er macht manchmal sein eigenes Ding und Beffaná findet nicht alles davon gut oder richtig.
„Beffaná, was machst du so früh hier?“
„Hat Papa gestern Abend noch was gesagt, ob er heute Morgen einen Termin hat?“
„Nee, Kindchen. Heut ist doch Samstag. Ich glaub, er ist noch spazieren gegangen Abends spät. Warte mal… Du, ich glaub, er war noch wieder zuhause, als du vom Krampus zurückgekommen bist.“
„Er ist noch immer nicht zurück.“
„Oh wirklich! Meinst du, es ist was passiert? Sollen wir ihn suchen?“
„Das ist nicht das erste Mal, er kommt bestimmt bald.
„Aber das passt überhaupt nicht zu ihm“, sagt Esmeralda.
„Oh doch!“ ruft Beffaná. „Das passt sogar ziemlich gut. Ich muss es wissen, ich wohn mit ihm zusammen.“
„Dann hat er sich wirklich verändert seit damals mit Leah.“
„Sag mal, Esmeralda, Wenn du und meine Mutter Freundinnen ward, warum war dann so völlige Funkstille zwischen Papa und dir und uns? Habt ihr euch gestritten?“
„Ach, eigentlich nicht“, sagt Esmeralda. „Eigentlich war Anil immer eher der Streitschlichter, wenn Leah und ich uns gefetzt haben. Wir hatten uns einfach nichts mehr zu sagen, nachdem Leah… nicht mehr da war.“
„Erzählst du mir, was passiert ist?“
„Musst du nicht nach oben, zu Jacob?“
„Komm doch mit hoch. Ich mach Frühstück für uns alle und dann erzählst du mir von meiner Mutter.“

Als Jacob bereits wieder in sein Zimmer abgezogen ist, gießt Esmeralda sich die dritte Tasse Kaffee ein und erzählt.
„Leah war ganz außergewöhnlich. Selbst für eine Hexe. Ich meine, ich bin eine Wetterhexe, aber Leah konnte die ganze Welt zum Wackeln bringen. Wenn es irgendwo eine Party zu feiern gab, war sie mittendrin. Und wenn ich mit ihr zusammen abends weggegangen bin, dann waren wir sehr bald schon von anderen Menschen umlagert, die Leah anlockte. Wie ein Blütenbusch die Schmetterlinge. Mit Leah fühlte ich mich manchmal wie ein häßliches, langweiliges Entlein. Aber Leah war impulsiv und brachte sich häufig in wirklich furchtbar gefährliche Lagen. Da war es gut, dass ich da war. Oder Anil. Sonst wär schon viel früher was passiert.“
„Was ist denn genau passiert?“ fragt Beffaná. „Papa sagt, es war ein Unfall.“
„Ja, das stimmt“, sagt Esmeralda. „Aber genauso wahr ist auch, dass ich sie damals nicht aufgehalten habe. Sie ist abgestürzt. Beim Fliegen abgestürzt. Ich konnte nichts mehr tun. Und Anil… war hier. Bei Dir. Und Jacob. Er war noch nicht mal einen Monat alt.“
Sie hat Tränen in den Augen. „Beffaná, nimm’s mir nicht übel, aber ich muss los.“
„Klar. Übernimmst du heute Abend wieder? Ich muss zum Krampus.“
„Keine Sorge, ich bin da. Und sag bitte noch mal Bescheid, wenn dein Vater nicht bald auftaucht. Dann starte ich doch noch eine Suchaktion.“

Anil Grimm kommt erst am späten Nachmittag nach Hause. Er sieht müde aus. Beffaná hat lange aufgegeben ihn zu fragen, wo er hingeht. Ob er wirklich nur spazieren geht oder irgendetwas anderes macht. Anil erzählt es nicht. Er zuckt nur müde mit den Schultern und sagt immer nur: Jetzt bin ich ja wieder da.

Später dann, beim Krampus, ist der Zwerg nirgends zu finden. Ein sehr seltsamer Diener, eine Art Vogelscheuche, öffnet Beffaná und führt sie ins Spielzimmer.
„Der junge Herr trainiert“, sagt er und verschwindet, nachdem er auf eine Schar anderer Diener gezeigt hat. Die stehen um eine große Luke im Boden herum versammelt. Immer mit mehreren zusammen wuchten sie in schneller Folge schwere Stahlträger in das Loch. Die Stahlträger sind unterschiedlich geformt. Einige sind gerade, andere zu einem Winkel oder zu einem großen T geformt, wieder andere sind zu einer Art Quadrat zusammengeschweißt. Um eins der Ungetüme zu bewegen, braucht es mindestens vier kräftige Diener.
„Was macht ihr hier?“ fragt Beffaná. Einer der Diener weißt schwitzend in das Loch. Unten steht Mino. Er hält die Hände wie ein japanischer Samurai-Kämpfer und immer wenn ein Stahlkörper von oben auf ihn niedersaust, bremst er ihn mithilfe einer unsichtbaren Macht ab und stapelt ihn rechts oder links neben sich auf einen Haufen. Werden die Stapel neben ihm zu hoch, erklimmt er blitzschnell einen davon und befördert die nächsten Stahlträger in den frei gewordenen Zwischenraum.
„Das ist ja wie Tetris!“ ruft Beffaná zu ihm herunter und kurz ist Mino abgelenkt, als er ihr nach oben winkt. Gerade noch lenkt er einen mächtigen Stahlkubus nach rechts und schwingt sich zu Beffaná herauf.
Was für eine Show, denkt Beffaná. Und ich wette, nur für mich.
„Natürlich“, keucht Mino. „Ich will mich doch von meiner besten Seite zeigen! Möchtest du auch mal?“
„Schaff ich nicht!“ sagt Beffaná. „Ich hab keine Ahnung, wie man riesige Gegenstände in der Luft hält.“
„Da hab ich aber anderes gehört!“ lacht Mino. „Die Spielplatzgeschichte, erinnerst du dich? Guck nicht so! Esmeralda hat nichts gesagt, sie mag uns ehrlich gesagt nicht sonderlich. Und Sami hat auch nicht gequatscht, wenn du das denkst. Manche Sachen schau ich mir lieber selbst an.“
„Ach, du beobachtest mich? Seit wann?“
„Sagen wir, ich hatte zufällig in der Gegend zu tun. Was ist jetzt, willst du’s probieren oder nicht?
Natürlich probiert sie’s. Der Anfang ist wirklich mühsam, Mino muss ihr immer wieder zur Hilfe kommen, damit sie nicht von einem der Eisenkonstruktionen zerquetscht wird. Dann aber hat sie den Bogen raus. Stahlträger um Stahlträger wehrt sie ab, stapelt sie rechts und links und unter sich und kommt der Luke über ihrem Kopf immer näher.
„Schneller!“ ruft sie.
„Ich besorg mal was zu Essen!“ ruft Mino zu ihr herunter. „Sollen wir solange Pause machen?“
„Warum?“ ruft Beffaná hinauf. „Traust du mir nicht zu, dass ich alleine klarkomme? Hau ruhig ab!“
Vielleicht, denkt Beffaná, bin ich ihr doch ziemlich ähnlich, als schon der nächste Stahlträger von oben auf sie niedersaust.
„Nach allem was man hört und sieht, ist da was dran!“ tönt es von oben.
„Potzblitz!“ ruft Beffaná, „verzieh dich aus meinem Kopf! Und bringt mir Schokolade mit. 1 Palette Schokoweihnachtsmänner! Sowas futtern wir Grimms zum Nachtisch. Vor dem Rieseneisbecher!“
„Bestimmt“, sagt Mino. „Ganz bestimmt. Potzblitz.“

Beffaná (St. 5, Kap. 11): Minotauros Asterios

Das Spielzimmer! Was für eine maßlose Untertreibung! Bisher kannte Beffaná nur die Küche des Krampus und das so genannte Studierzimmer, einen kleinen Raum, vollgestopft mit den seltsamsten Gegenständen, einem kleinen Tisch und mehreren Stühlen. Hier hat sie bisher die Abende mit dem Krampus verbracht.

Das Spielzimmer dagegen ist weder klein noch groß. Es ist… maßlos! Beffaná kann nicht einmal Wände erkennen, stattdessen Unmengen von Kram und Leitern und Büchern und Bäumen und Ritterburgen, kaputten Autos und Geheimtüren. Das Spielzimmer scheint direkt aus den Träumen eines 5-jährigen Kindes entsprungen zu sein, um sich dann auf die 20-fache Größe aufgebläht zu haben. Krampus wühlt in einem Haufen aus Laub, Zweigen und kaputten Kinderfahrrädern, bis er einen rostigen Schlüssel in der Hand hält.
„Die Tür, die Tür, die Tür…“ murmelt er.
„Meister…“ Beffaná weißt auf ein mindestens 5 Meter hohes Portal, das sich zwischen zwei alten Putzeimern erhebt.
„Ist das nicht ein bisschen groß?“ fragt der Krampus, schaut auf den Schlüssel in seiner Hand und probiert ihn schließlich doch.. „Schau an, passt tatsächlich!“
Er dreht den Schlüssel um und stößt die beiden Flügeltüren des Portals nach innen auf. Sie stehen in einer mächtigen, schmucklosen Halle aus Marmor, in deren Mitte sich ein Tisch befindet und auf einem Stuhl dahinter ein ernster junger Mann, drei oder vier Jahre älter als Beffaná.

„Hier ist eine junge Hexe, die ich unterweise“, sagt der Krampus und ist verschwunden. Hinter Beffaná kracht das Portal in sich zusammen und der Tisch mit Beffaná und dem Anderen bleibt in vollkommender Leere zurück.
„Setz dich“, sagt der Andere. „Das hilft gegen den Schwindel.“
Unter Beffanás Füßen ist nichts. Kein Boden, nicht einmal Schwärze, einfach Leere. Das Gleiche gilt für die „Wände“, oder besser das, was in der normalen Welt der Platz wäre, wo man Wände vermuten würde. Gleißende, verwirrende Leere.
„Wer bist du“ fragt Beffaná und setzt sich auf den zweiten Stuhl am Tisch, dem Anderen gegenüber. Ihre Stimme verhallt im Nichts.
„Lass uns spielen“, sagt der andere. „Jeder Punkt ist eine Antwort wert.“
Das Spiel heißt „BigFoot“ und ist im Prinzip nichts anderes als Schiffe versenken. Der Tisch vor ihnen hat statt einer Tischplatte ein Spielfeld, auf dem ein echter, winzigkleiner Wald wächst. Die Bäume stehen in dichten Reihen nebeneinander.
„Platziere Deine Waldmonster“, sagt der Andere. Am Tischbein neben Beffaná krabbeln daumengroße, haarige Miniwesen den Tisch hoch und platzieren sich an der Spielfeldkante. Gleiches geschieht es auf der anderen Seite, nur dass Beffanás Monster weiß und die des Anderen pechschwarz sind.
„Los, verstecke sie“, sagt der andere. Seine Schwarzen springen von der Tischkante in den Wald hinein und sind verschwunden. Beffaná tut es ihm gleich. Sie denkt sich für jedes Monster einen anderen Baum aus und alle zehn Weißen tauchen im Wald unter.
„Weiß beginnt“, sagt der Andere.
„Wie denn?“
„Ich zeig’s dir. Wenn du erlaubst. Weiß: F3.“
Im Gehölz vor ihm raschelt es und Beffaná sieht zwischen den Zweigen eins ihrer Monster zum dritten Baum von links in der sechsten Reihe rennen. Dann schüttelt es den Baum so lange, bis ein schwarzer aus der Krone auf den Boden fällt und sich maulend neben den Baum setzt. Der Weiße jubelt kurz und verschwindet im Unterholz.
„Ein Punkt für Dich“, sagt der Andere. „Deine Frage.“
„Wie heißt du?“
„Minotauros Asterios, meine Freunde nennen mich Mino. Los, du bist noch mal dran. Wer den Punkt hat, hat den nächsten Zug.“
„Weiß: A1.“
Ein weißes Monster erscheint, raschelt durch die Bäume, schüttelt den Baum ganz vorne links auf Beffanás Seite, aber nichts geschieht. Das weiße Monster hebt traurig die Schultern und verschwindet im Wald.
„Schade“, sagt Mino. „Schwarz: B6. Wie hast Du den Krampus kennengelernt, Beffaná?“
„Aber woher weißt…“ setzt Beffaná an, da schüttelt ein schwarzer schon einen ihrer Bigfoots vom Baum.
„Sami hat mich zu ihm geführt.“
„Schwarz: G2. Wer ist Sami?“
‚Verdammt!‘ denkt Beffaná, ‚Woher weiß er das?‘
„Gedankenkontrolle. Wer ist Sami?“
„Wenn du meine Gedanken lesen kannst, dann weißt du es doch selbst.“
„Ich mag es aber, deine Stimme zu hören.“
Beffaná stöhnt auf, Mino rollt mit den Augen.
„So hat mich schon lange niemand mehr genannt.“ Er lächelt spöttisch.
„Was bringt so ein Spiel, wenn man es gegen einen Gedankenleser spielt?“ schnaubt Beffaná.
„So wie ich das sehe, ist das der ganze Sinn des Spiels. Gedanken lesen trainieren.“ Mino lächelt immer noch spöttisch.
„Ich geb dir noch ’ne Chance. Nicht einfach blind raten. Versuch’s aus mir herauskriegen.“
Er schaut sie an. Schmale, graue Augen, mit ungewöhnlich langen Wimpern. Er wirkt viel erwachsener als die Jungs in Beffanás Klasse, obwohl er nicht wirklich größer ist als sie. Er trägt ein schlichtes, eng anliegendes T-Shirt mit langen Ärmeln, seine Hände liegen ruhig auf der Spielfeldkante, nur der linke Daumen trommelt fast unmerklich auf das Holz.
„Gut“, sagt Mino. „Du bist auf dem richtigen Weg. Du musst einen Weg in mich hinein finden.“
„Wie hast DU es gemacht?“ fragt Beffaná.
„Viele Fragen für jemanden, der erst einen Punkt hat“, lächelt Mino. „Aber gut. Wer ist Sami? Dein Mund hat sich verzogen, Dein rechtes Auge hat sich leicht zusammengekniffen. Du hast nicht gezuckt. Die Frage hat dich ein bisschen gewundert, aber ich hab keine Gefühle gesehen, keine Verteidigung, keinen Schutzinstinkt. Sami ist dir nicht besonders nahe, du fühlst dich nicht verantwortlich für ihn, Fragen nach ihm erstaunen dich, aber sie sind weder Belastung noch Kitzel. Du kennst ihn, du bist vielleicht an ihn gewöhnt, aber du hängst nicht wirklich an ihm, du liebst ihn nicht, er gehört nicht zu deiner Familie. Trotzdem führt er dich zu einem Haus mitten im Wald. Was bleibt da übrig? Entweder du rennst einfach jedem fremden Trottel hinterher oder Sami ist der finnische Spitz, der schon ewig für den Krampus arbeitet und dem ich die ersten Zaubertricks beigebracht habe!“
Mino lacht und Beffaná fühlt sich verschaukelt.
„Woher wusstest du MEINEN Namen? Du hast mich nicht danach gefragt.“
„Versuch es rauszukriegen. Ich verspreche es, keine Tricks. Such Dir einen Weg in meine Gedanken.“
Wieder schaut er sie an, den Mund immer noch zu einem leicht spöttischen Lächeln verzogen. Seine schmalen Nasenflügel heben und senken sich. War das ein Zucken? ‚Ist er gespannt, ob ich einen Weg finde?‘ fragt sich Beffaná. Wie lange hat er hier gesessen, bis wir hereingekommen sind? Das mit dem Schlüssel war bestimmt nur Show vom Krampus. ‚Oh, ob der wohl passt?‘, das ist seine Art Show. Er tut immer, als sei alles spontan, alles frei und chaotisch, aber eigentlich ist er immer genauestens vorbereitet. Er überlässt nicht dem Zufall… Mino hat gewartet. Auf Geheiß des Krampus? Ohne jeden Zweifel. Und ich war ziemlich spät heute, denkt Beffaná. Mindestens eine Stunde später als sonst. War er etwa die ganze Zeit hier und hat gewartet? Gespannt gewartet, bis wir endlich kommen? Was hat der Krampus ihm vorher erzählt? Der Krampus ist niemand, der sich jemanden wie Mino als Schoßhündchen hält. Er mit seinem „Musst du selbst entscheiden bliblablubb. Er hat Mino dazu gebracht, freiwillig auf mich zu warten. Mino war gespannt wie ein Flitzebogen. Da, die Nasenflügel, bewegen sie sich schneller? Und der Daumen klopft schneller, nervöser. Mino hat gewartet, freiwillig, er ist einsam, er freut sich, dass er jemanden kennenlernen darf, von dem ihm der Krampus schon viel erzählt hat, die er, Mino, beim ersten Treffen sofort beeindrucken will, er sehnt sich danach, mit mir zusammenzusein, dem Mädchen, das der Krampus für so wichtig hält, dass er seinen besten Schüler so lange warten lässt, um diese Show abzuziehen für das Mädchen, seinen neuen Star.
Minos Handknöchel knallen kurz und kräftig auf den Tisch. „Das hättest du wohl gerne, Beffaná“ zischt er und springt auf:
„C5…!“ ruft er. „A5…, I5! B2! H…3! D6, F4, A7! Das sind acht Punkte und acht Fragen. Aber weißt du was? Ich verzichte!“
Beffaná ist beeindruckt. Aber nicht allzu lange.
„Weißt du, was ich mir wünschen würde, wenn ich der Krampus wäre?“ fragt sie. Sie wartet die Antwort nicht ab. „Ich würde mir einen Sohn wünschen, der begabt ist, wie ich, aber besser aussieht, wie ein junger Prinz.“ Beffaná beißt sich auf die Zunge. Das war ein bisschen drüber.
„Ach?“
„Du bist sein Sohn, oder? Du bist der Sohn des Krampus, Mino. Und: E3, komm raus!“
Aus der Krone des Baumes winkt ein kleiner BigFoot heraus.
„Ja“, sagt Mino. „Der Zwerg hat einen jungen Prinzen großgezogen. E3 war gut. Zufallstreffer?“
„Er hat sich bewegt.“ sagt Beffaná. „So wie dein linker Daumen. Du bist Linkshänder, hab ich Recht?“
„Ich verstehe, was mein Vater in Dir sieht,“ sagt Mino. „Du bist vielleicht nur eine mäßige Hexe. Aber schlau, das muss ich zugeben.“
„Danke“, sagt Beffaná, „Potzblitz, ein Lob von einem jungen Prinzen.“ Und sie streckt ihm grinsend die Zunge raus.

Beffaná (St. 5, Kap. 10): Todesstern

„Ulixes remedium in potionem fudit eamque sine timore bibit.“
Beffaná hasst sich dafür, dass sie Latein gewählt hat. Niemand braucht Latein. Niemand mag Latein. Niemand KANN Latein. Aber Jessie steht auf Mittelalter und auf Fantasy-Rollenspiele. Also hat sie Latein gewählt, weil sich das irgendwie nach Mittelalter angehört hat. Und Beffaná hat gewählt, was Jessie gewählt hat. Was keine von beiden bedacht hat, ist, wie sich Lateinunterricht in der sechsten und siebten Stunde anfühlt. Beffaná gähnt herzhaft und schaut auf die Uhr. 5 Minuten sind vorbei. 5 Minuten von einer Doppelstunde in der Sechsten und Siebten.
Nergün liest den lateinischen Text wie die Anleitung zu ihrer eigenen Beerdigung. 95 Prozent hirntot, mit einem Esslöffel Fassungslosigkeit und einer Prise Verzweiflung.
„Tum Circa: ‚Abi hinc in haram!‘ eumque virga tetigit.“
„Tum Kirka!“ berichtigt Herr Schmus, der Lateinlehrer. „Tum Kirka!“
„Die Welt ist schlecht“, denkt Beffaná. „Und gemein.“ Sie ist todmüde. Nicht nur, dass sie gestern noch allerhand damit zu tun hatte, zusammen mit Esmeralda den Schlamassel vom Kinderspielplatz geradezubiegen, sie war natürlich abends auch noch beim Krampus. Tarnung und Verwandlung. Und schließlich hatte Sami später noch darauf bestanden, nachts oben bei ihr zu schlafen, denn er war den ganzen Nachmittag in Esmeraldas Badezimmer eingesperrt gewesen.
„Notwehr!“ Hatte Esmeralda nur gesagt. „Er frisst sonst meine Pflanzen. Und mit rausnehmen konnte ich ihn nicht.“
„Warum?“ hatte Beffaná gefragt.
„Keine Lust.“
Jedenfalls war Sami die ganze Nacht im Zimmer herumgesprungen, hatte Beffanás Sockenschublade zerwühlt und Beffaná selbst eine wirklich schlimme Nacht beschert.
„Stupens Ulixem aspexit. Hic figuram suis non sumpsit.“
Es klopft. Achtundzwanzig dankbare Augenpaare, darunter auch das von Herrn Schmus, schauen zur Tür.
„Herein.“
Draußen steht Frau Feuerbusch, die Schulleiterin. Sie schaut sehr ernst. Neben ihr hibbeln Esmeralda Schniggendfittich und Sami um die Wette.
„Beffaná, kommt du mal bitte heraus?“ fragt die Schulleiterin. „Und nimm besser deine Sachen mit.“
Als Beffaná im Flur steht, räuspert sich die Schulleiterin umständlich.
„Beffaná, dein Großvater ist gestorben?“
„Hä? Moment! Was für ein Großvater?“
„Entschuldigung!“ ruft Esmeralda. „Das ist jetzt ein Missverständnis! Ich habe gesagt ‚Mein Helmut ist gestorben!'“
„Oh.“ sagt Beffaná.
„Und wer genau ist Helmut?“ fragt Frau Feuerbusch.
„Meine Orchidee!“ ruft Esmeralda. „Meine Drittlieblingsorchidee!! Nach Schorsch und Sieglinde.“
„Oh.“ sagt Beffaná.
Frau Feuerbusch ist nicht amüsiert.
„Beffaná Grimm, könntest du deiner Großmutter bitte beibringen, dass meine und deine Zeit wirklich zu schade sind, um vertrocknete Pflanzen zu betrauern?!“
„Sie ist nicht meine Großmutter“, sagt Beffaná.
„Oh.“ sagt Frau Feuerbusch.
Beffaná sieht ein, dass es Zeit ist, ihre Direktorin zu erlösen.
„Sie ist eine Nachbarin“, raunt sie Frau Feuerbusch zu. „Sie ist ja schon etwas älter und manchmal… sie wissen schon…“ Frau Feuerbusch registriert Beffanàs versteckte Handbewegung und lenkt ein.
„Meinst du, du könntest sie nach Hause bringen?“
„Wenn das für Sie in Ordnung ist…“ sagt Beffaná.
Esmeralda und Sami spielen inzwischen hinter den Säulen im Korridor Verstecken.
„Natürlich, Beffaná. Bring sie besser sofort nach Hause.“

„Heiliger Gummibaum!“ stöhnt Esmeralda, als sie im Bus sitzen. „Zum Glück hab ich dich gefunden!“
„Worum geht’s denn überhaupt?“ fragt Beffaná.
„Um meinen Zauber gestern!“ Esmeralda redet etwas leiser:
„Wie sieht’s denn bei Joshua aus? Hat er sich merkwürdig verhalten heute? Meinst du, er erinnert sich?“
„Ich glaube nicht“, sagt Beffaná. „Ich hab hallo gesagt, so wie immer. Und er hat irgendwas gemurmelt und ist abgedampft. So wie immer.“
„Bei deinem Bruder hat der Vergessenszauber irgendwie nicht funktioniert“, wispert Esmeralda. „Er stand eben vor meiner Tür und wollte einen Todesstern und einen Supersternzerstörer haben. Was immer das auch ist. Sonst sagt er’s, hat er gemeint.“
Sami mischt sich ein.
„Sorry, dass ich mich direkt in Eure Köpfe einschalte“, telepathiert er, „aber sonst kriegen die anderen Leute hier im Bus gleich wieder Herzrhythmusstörungen. Ich hab von solchen Fällen schon gehört. Bei Hunden oder Vampiren funktioniert dieser Zauber überhaupt nicht.“
„Ja, aber das kann bei Jacob eigentlich nicht sein“, sagt Esmeralda, „weil…“
Hier stoppt sie abrupt. Beffaná hat schon verstanden.
„Weil du es schon mal bei ihm gemacht hast, hab ich Recht?!“
„Notlage!“ zischt Esmeralda.
„Wie auch immer“, sagt Beffaná, „dieses mal hat es nicht geklappt. Und was machen wir jetzt?“
„Ich wollte dich eigentlich fragen, wo man sowas bekommt, Todesstern und Supersternzerstörer? Ist das was mit Kämpfen?“
„Wir kaufen dem Rotzblag keinen Supersternzerstörer!“ ruft Beffaná.
Drei Leute vor ihnen drehen sich um. Eine Mutter nickt verständnisvoll.
Beffaná senkt die Stimmte: „Er hat den letzten schon kaputt gemacht!“
Die Mutter dreht sich kopfschüttelnd weg.
„Können wir den Zauber nicht noch mal versuchen?“
Aber Esmeralda winkt ab.
„Zu gefährlich Beffaná. Wenn ich zu viel in diesem kleinen Kopf durcheinanderbringe, hab ich Angst, dass ich nachher nicht weher weiß, wie ich alles wieder richtig zusammensetze.“
Die Mutter vor ihnen nimmt ihre Tochter an die Hand und setzt dich vier Reihen weiter nach vorne.
„Gut“, sagt Beffaná. „Dann müssen wir dem kleinen Erpresser einfach sein Druckmittel aus der Hand nehmen. Er will meinem Vater alles erzählen? Soll er doch!“
„Nein!“ kreischt Esmeralda. „Das geht nicht!“
„Quatsch!“ zischt Beffaná, „weiß ich doch. Aber Jacob weiß es nicht. Ich hab einen Plan.“

Eine Stunde vor dem Abendessen steht Esmeralda Schniggenfittich mit einem kleinen Hund und Anil Grimm bei Jacob im Zimmer.
„Jacob.“ Anil hüstelt und räuspert sich. „Wir müssen eine ernste Sache mit dir besprechen.“
„Papa, ich spiele gerade“, sagt Jacob.
„Es geht auch ganz schnell, Herrgott!“ ruft Anil. Dann besinnt er sich und redet ruhig weiter. „Du bist doch schon groß und so.“
Jacob beäugt seinen Vater misstrauisch. „Du hast gesagt, dass ich bis zum Abendbrot alleine spielen soll, weil du noch ein Meeting hast, und dass ich dann eine Belohnung kriege. Krieg ich die trotzdem?“
„Natürlich Jacob.“
„Auch das Doppelte?“
„Herrschaftszeiten du Frettchen, ich geb Dir gleich das Doppele!“
Doch bevor Anil sich weiter in Rage reden kann, hat Esmeralda ihn gestoppt und kniet sich vor Jacob hin.
„Ich hab deinem Vater eben von gestern erzählt. Er war nicht sehr begeistert, oder, Herr Grimm?“
„Nein überhaupt nicht. Ich war sehr erbost.“
„Aber er hat mir verziehen.“
„Ja, denn es ist wichtig, dass man Sachen verzeihen kann. Merk dir das gut, mein Sohn.“
Jacob schaut von seinem Vater zu Esmeralda.
„Papa, ich bin fast im Sturzflug in eine Tankstelle hineingekracht! Und die da ist auf Beffanás Seite!“
„Ja, mein Sohn. Das ist ärgerlich. Und Frau Schniggenfittich und Beffaná haben mir fest versprochen, dass so etwas nie wieder passiert. Nicht wahr, Frau Schniggenfittich?“
„Nie wieder. Indianehrenwort.“
„Wo ist überhaupt Beffaná, Papa? Hat sie’s auch versprochen?“
„Aber selbstverständlich! Es tut ihr unendlich leid, sie schämt sich sehr und hat jetzt eine Woche Hausarrest!“
„Aber Beffaná ist sowieso immer zuhause! Das ist doch überhaupt keine Strafe!“
„Aber sie schämt sich doch!“
„Das soll sie mir selber sagen. Und sich verbeugen und mir die Füße küssen und dann begnadige ich sie vielleicht!“
„Du elende Ratte!“ Anil Grimm wirft sich auf Jacob und noch während er versucht, Jacob in den Polizeigriff zu nehmen, verwandelt er sich zurück in Beffaná.
Jacob stößt einen gellenden Schrei aus und Esmeralda Schniggenfittich vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen.
„Jetzt pass mal auf, du Furzknoten!“ zischt Beffaná und verwandelt kurzerhand eine von Jacobs Star-Wars-Figuren in einen bräsig-quakenden Ochsenfrosch. „Das und viel Schlimmeres passiert Dir auch, wenn Du irgendjemandem von der ganzen Sache erzählst. Hast Du das verstanden? Sprich mit mir! Hast Du das verstanden?!“
„Ja.“ sagt Jacob. „Unter der Bedingung, dass ich einen Todesstern…“
Weiter kommt er nicht. Sami und Esmeralda versuchen noch, Beffaná zu stoppen, aber sie richtet schon den Finger auf Jacob und zischt ein paar unverständliche Worte. Jacob erstarrt und fällt um.
„Beffaná!“
„Um Himmels Willen!“
Esmeralda kniet sich neben Jacob. „Zum Glück, er scheint unverletzt zu sein! Beffaná, was war das denn?“
Beffaná sackt völlig erschöpft in sich zusammen. „Der Froschzauber“, stöhnt sie. „Ich war wohl einfach zu schwach.“
„Zum Glück“, murmelt Esmeralda. Sami leckt Jacob das Gesicht ab und der Junge kommt langsam wieder zu sich.
„Okay“, murmelt er. „Den Millenium Falcon. Mein letztes Wort.“
Esmeralda schaut eindringlich zu Beffaná.
„Gut“, sagt die schließlich. „Aber ich muss erst noch Geld holen. Potzblitz.“

Beffaná (St. 5, Kap. 9): Im Schatten der Schaukel

„Meister, darf ich es eigentlich jemandem erzählen?“
„Was darfst du erzählen?“
„Die Sache mit der Hexerei?“
„Kannst du das nicht selbst entscheiden?“
„Ich meine, gibt es ein Gesetz dagegen?“
„Weiß nicht. Hab ich mich nie drum gekümmert.“
„Aber ist es nicht gefährlich, wenn ich es irgendwem erzähle?“
„Doch, bestimmt! Kommt drauf an. Warum willst du es denn IRGENDWEM erzählen?“
„Ich meine, einer Freundin. Oder meinem Vater?“
„Beffaná, das hier ist keine Schule. Was du hier lernst, ist außergewöhnlich. Bezaubernd. Besorgniserregend. Gefährlich. Du bist hier nicht versichert, es gibt keine Noten, und ich werde dir auch keine Elterninformationsschreiben mit nach Hause geben. Wenn Dein Vater hier vor der Tür steht und rumbrüllt, dann werde ich mich wehren. Auf meine Art. Und das ist keine Drohung, das ist einfach die Wahrheit. Also streng einfach selbst dein Köpfchen an. Wir haben einen Vertrag, nach dem ich dich das Hexenhandwerk lehre. Von Geheimhaltung steht da nichts. Aber ich gehe davon aus, dass du nicht dumm bist.“
„Ja, Meister.“
„Ich…, ich mochte deine Hausaufgaben. Viel Improvisation, aber guter Stil. Bist du bereit für etwas Neues?“
„Na klar, Meister!“
„Sehr gut. Ich denke, die nächste Aufgabe wird dir gefallen.“

Zuhause ist dicke Luft. Als Beffaná die Wohnungstür aufsperrt, hört sie bereits Gezeter und Geheule. Es ist ein wirklich schlechtes Zeichen, wenn das Gezeter nicht nur von ihrem kleinen Bruder kommt. Wenn Anil Grimm laut wird, sollte man in Deckung gehen. Das weiß Beffaná. Das weiß auch Jacob, ihr Bruder. Aber er hält sich nicht daran. Er macht den Rücken grade, reckt den Hals und seine Augen funkeln angriffslustig. „Komm doch!“. Beffaná weiß, was zu tun ist. Sie pfeffert ihre Schultasche unter die Garderobe und sieht zu, dass sie schnell nach unten zu Esmeralda in die Wohnung flüchtet. Doch zu spät. Noch in der Wohnungstür hat sie plötzlich Jacob am Hals, der sie zurück in die Wohnung zieht.
„Beffaná ist hier!“
DA kommt schon ihr Vater aus seinem Zimmer.
„Der Himmel schickt dich. Halt ihn mir vom Hals!“
„Ich wollte eigentlich gerade…“
„Pustekuchen! Ich hab morgen Endabgabe. Harte Deadline. Nichts zu machen, Beffaná. Wenn du zu Weihnachten Wert auf was zu Essen legst, dann halt mir die – sen QUÄLGEIST vom Hals. Bitte. Danke. Ruhe jetzt!“
Beffanás Vater entwirft Flugzeuge. Eigentlich nur einen Teil davon, aber einen sehr wichtigen. Er ist in seiner Firma für die Aerodynamik von Ultraleichtflugzeugen verantwortlich, also dafür, dass die Dinger fliegen. Anils Flugzeuge fliegen richtig gut. Sie sind die besten. Sie sind so gut, dass Anil schon Angebote von vielen großen Luftfahrtkonzernen hatte. Aber er hat immer abgelehnt. Weil er nur von zuhause und nur Teilzeit arbeiten kann. Arbeiten will. Wegen Jacob und wegen Beffaná. Außerdem hat er keine Lust auf große Firmen. Alles, was die großen Firmen anbieten, vor allem Geld und Aufstiegschancen, bedeutet ihm nichts. Wenn Beffaná nicht vor ein paar Jahren angefangen hätte, die Kleidung für sich, Jacob und ihren Vater einzukaufen, wären sie wahrscheinlich alle schon längst erfroren. Dafür gibt es zu Weihnachten viel zu teure Geschenke, weil ihr Vater einfach alles kauft, was irgendwie so aussieht, als könnten Kinder es lustig finden. Er weckt die Kinder morgens, macht Essen, erkundigt sich einmal pro Woche nach Problemen in der Schule und ob Jacob schon gebadet hat. Der Rest läuft irgendwie, machmal besser, manchmal schlechter. Nur wenn es eine Abgabefrist für ein Projekt gibt, eine, wie Beffanás Vater es nennt, „harte Deadline“, dann ist Ausnahmezustand, dann wird zwei Nächte durchgearbeitet und ganz besonders Jacob wird zum Problem.
Man könnte glauben, dass Jacob nun mal nicht versteht, warum es an solchen Tagen wichtig ist, Papa nicht zu stören. Doch das stimmt nicht, weiß Beffaná. Er versteht es. Der probiert einfach gerne aus, was wohl alles passieren kann, wenn man es doch tut. Vielleicht führt ihr Bruder ein geheimes Forschungstagebuch, in dem er peinlich genau notiert, wie sein Vater auf welche Ärgerei reagiert. In dem Fall müsste das inzwischen ein sehr, sehr dickes Buch sein. Die letzte Reaktion ist aber immer dieselbe:
„Beffaná, schaff ihn mir vom Hals!“

Beffaná seufzt: „Wollen wir was spielen, Jacob?“
„Nein, das wollt ihr nicht!“ brummt ihr Vater. „Ihr wollt nach draußen auf den Spielplatz gehen und frische Luft schnappen!“
„Aber ich kommt grade von draußen!“ ruft Beffaná. „Es sind ein Grad minus, es weht ein eiskalter Wind und außerdem wird’s in einer Stunde dunkel!“
„Eine Stunde, super!“ ruft ihr Vater. Er klaubt an der Garderobe wahllos dicke Wintersachen zusammen und wirft sie Beffaná und Jacob vor die Füße.
„Mehr als eine Stunde brauch ich nicht! Anderthalb, abgemacht? Wir sehen uns zum Abendbrot!“
Er drückt Beffaná einen Geldschein in die Hand.
„Es gibt Pommes. Mit allem. Für mich bitte extra Mayo. Und jetzt verschwindet!“

Der Spielplatz ist natürlich leer. Mutterseelenallein stehen Jacob und Beffaná im Sandkasten, wo Jacob an einem festgefrorenen Schäufelchen zerrt.
„Bist du dafür nicht zu alt?“ fragt Beffaná.
„Wieso?“ fragt Jacob und zimmert ihr die Schaufel an den Kopf. „Für sowas ist man nie zu alt.“
Der Spielplatz besteht aus vier Bereichen: Dem Sandkasten, einer kaputten Seilbahn, einem rostigen Karussell und einer Schaukel. Im Sommer, wenn hier mehr los ist, klettern die meisten Kinder an dem rostigen Maschendrahtzaun herum und gewonnen hat, wer es trotz Schürfwunden und schmerzenden Fingern am schnellsten ganz nach oben schafft. Früher hat Beffaná immer gewonnen. Jetzt, wo sie zu alt ist, hat Jacob ihre unangefochtene Nachfolge übernommen. Beffaná hält sich noch den schmerzenden Kopf, da ist Jacob schon am Zaun und krallt sich ohne Handschuhe, Schal und Mütze in die eiskalten Maschen. Beffaná tritt in den gefrorenen Boden. Eigentlich wollte sie heute was neues ausprobieren. Ihre Hausaufgaben, sozusagen. Aber warum eigentlich nicht hier? Wenn’s nicht klappt, ist es eh egal, und wenn doch… Na, dann los. Sie holt aus ihrer Tasche den Stift. Joshuas Stift, den sie schon seit Tagen mit sich herumträgt. Man benötigt nur irgendetwas, das die Person, um die es geht, in letzter Zeit berührt hat. Etwas, wo noch allerkleinste Teile dieser Person haften geblieben sind. Beffaná reibt den Stift so schnell sie kann zwischen ihren Handflächen, so als wäre sie ein Indianer, der Feuer machen will. Dann murmelt sie die Worte, die sie der Krampus gelehrt hat. Das sollte reichen. Wenn es funktioniert, dann ist Joshua gleich da. Dann hat sie ihn erfolgreich angelockt, ohne dass er weiß, wie und warum und überhaupt. Beffaná holt einen Zettel aus der Jackentasche. Zum Glück hat sie ihn mitgenommen, als ihr Vater sie aus der Wohnung geschmissen hat. Es sind Gesprächsthemen, für die sich Joshua interessieren könnte. Glücklicherweise ist er ein kein Fußball- oder Sporttyp. Da wäre sie ziemlich ahnungslos. Aber es gibt ein paar andere Punkte auf ihrer Liste, die ziemlich vielversprechend sind, wie Beffaná findet. Vorsichtshalber geht sie sie noch mal durch.
„Beffaná, du musst mir Anschwung geben.“ Neben ihr steht Jacob. Irgendwann muss sie noch mal dahinterkommen, wie er das eigentlich macht, dieses absolut lautlose Anschleichen.
„Wer bin ich? Deine Nanny? Gibt dir selber Anschwung!“
„Gut, ich geh nach Hause und sag’s Papa.“
„Tust du nicht!“
„Dann gibt mir Anschwung!“
„Willst du mich erpressen?“
„Zehn. Neun. Acht. Sieben…“
„Jacob!“
„Sechs. Fünf. Vier…“
„Ich mach’s! Okay?“
Beffaná gibt Jacob Anschwung. Als wäre er vier. Jacob starrt zufrieden auf den Maschendrahtzaun am Rand des Spielplatzes und immer, wenn Beffaná sich umdreht, um zu schauen, ob Joshua endlich auftaucht, sagt er: „Weiter!“.
Endlich sieht Beffaná ihn. Wow. Es hat geklappt. Einfach genial. Joshua steht am Eingang des Spielplatzes und winkt zu ihr herüber. Sie winkt zurück. Komm hierher! bedeutet sie ihm. Betont lässig schlendert Joshua zu ihnen herüber. Als Beffaná ihm entgegen gehen will, meldet sich sofort Jacob wieder: „Weiter!“
„Ich sage nur schnell Joshua ‚Hallo!'“
„Mach ruhig, dann sag ich nur schnell Papa ‚Hallo‘. Vielleicht zeigt er mir ja, was er gerade arbeitet.“
„Idiot! He, Joshua, sorry, dass ich nicht rüberkommen kann. Ich muss hier gerade noch meinem KLEINEN Bruder Anschwung geben.“
„Hi Beffaná“, sagt Joshua. „Wusste gar nicht, dass du einen kleinen Bruder hast. Wohnst du hier?“
„Da hinten“, sagt Beffaná. „Und du?“
„Bisschen weg“, sagt Joshua. „Lauf einfach nur ein bisschen rum.“
„Ach“. Beffaná grinst in sich hinein. Dieses Anschwung geben und gleichzeitig reden, das nervt allerdings.
„Höher“, befiehlt Jacob.
„Du, sagt mal“, sagt Beffaná. „Ich wollte, also wenn Jessie wieder fit ist, dann wollten wir zusammen ins Kino. Hast du auch Lust?“
„Höher“, befiehlt Jacob.
„Ja. Schon“, sagt Joshua.
„Cool. Irgendwelche… Vorlieben?“
„Schon“, sagt Joshua.
„Höher“, befiehlt Jacob.
„Aber ich frag noch mal Lisa, sie hat nämlich auch schon gefragt. Dann könnten wir ja zu viert…“
„Höher“, befiehlt Jacob.
Irgendetwas in Beffaná klinkt aus. Ein Zahnrad in ihrem Kopf verhakt sich, knarzt und rattert im Getriebe, sperrt sich gegen den Strom der widersprüchlichen Gefühle und Gedanken, ächzt, verbiegt sich schließlich und gibt nach.
„Höher“, befiehlt Jacob.
Zunächst sieht Beffaná nur das Gesicht von Joshua. Warum, denkt sie, bleibt der so ruhig? Ah. Jetzt. Der Kopf. Er dreht sich. Augen weiten sich. Der Mund geht auf und zu. Zum Glück, denkt sie, er ist normal. Denn wer würde nicht vollkommen austicken, wenn vor der eigenen Nase ein Kind von einer Schaukel in den Himmel katapultiert wird. Hat man sowas schon gesehen? Bestimmt nicht. Aber jetzt, denkt Beffaná, wär’s langsam Zeit, in Panik zu verfallen und irgendetwas wirklich Kluges anzustellen, damit Jacob nicht über die Landesgrenzen fliegt und einen internationalen Zwischenfall auslöst. Denn Jacob fliegt wirklich. Nicht flugzeughoch, aber vogelhoch, mindestens, den Maschendrahtzaun des Spielplatzes hat er schon passiert und nähert sich der Tankstelle an der Kreuzung. Das wird verdammt knapp, denkt Beffaná und sie hat keine Ahnung, wie sie das noch stoppen kann.
„Ach Kindchen“, hört sie da die Stimme von Esmeralda Schniggenfittich. „Kindchen, Kindchen, Kindchen…“
Dann gibt es einen Donner, mehrere Blitze, Joshua wird gefällt wie ein kranker Baum und eine Windhose ergreift Beffanás Bruder. Neben Beffaná steht Esmeralda und dirigiert mit beiden Armen Donner, Blitz und Wirbelwind um sie herum, bis Jacob neben ihnen mehr oder weniger ruppig im Sand landet und das Unwetter wenige Sekunden später mit einem letzten Knall in einem Wolkenloch über ihnen verschwindet.
„Männer, oder?“ lacht Esmeralda.
„Danke“, sagt Beffaná. „Das war knapp.“
„Das war gar nichts“ ruft Esmeralda. „Sowas hat Leah früher noch vor dem Frühstück veranstaltet!“
Sie zerrt den bewusstlosen Joshua zum Ausgang des Spielplatzes und bedeutet Beffaná, ihrem völlig verdatterten Bruder unter die Arme zu greifen.
„Und was machen wir jetzt?“ fragt sie.
„Pommes kaufen,“ sagt Beffaná. „Mit alles und extra Mayonnaise. Potzblitz.“