Endlich erreichen sie den achten Stock.
„Du musst jetzt leise sein“, flüstert Beffaná. „Keinen Mucks, bis wir in meinem Zimmer sind.“
Sie kann Sami im Dunkeln hinter sich kaum erkennen, aber sie hört, wie er hechelt und an der Tür herumschnüffelt. Vorsichtig dreht sie den Schlüssel im Schloss herum.
„Komm herein und dann links den Flur herunter, es ist die letzte Tür rechts.“
Der kleine Hund flitzt zwischen ihren Beinen hindurch und verschwindet im Dunkeln, als sie noch leise ihre Schuhe auszieht.
„Beffaná!“
In der Küche geht das Licht an und ihr Vater steht in der Tür.
„Wo warst du?“
„Weg“. Irgendwie dämmert es Beffaná erst jetzt, was eigentlich passiert ist.
„Ich bin fast umgekommen vor Sorge!“ Ihr Vater muss unglaublich böse sein, aber er ist auch sehr erleichtert. Er nimmt Beffaná in die Arme und drückt sie so fest an sich, dass sie fast keine Luft mehr bekommt.
„Ich dachte, du bist vielleicht wieder spazieren…“ stammelt sie.
„Wir wollten doch reden! Ich hab den ganzen Abend gewartet.“
„Wir können ja reden“, sagt Beffana unsicher.
„Es ist halb eins!“ zischt ihr Vater. „Ich, ich hab schon bei der Polizei angerufen!“
„Bei der Polizei? Oh Mist, das tut mir leid…“
„Setz dich hier hin und rühr dich nicht vom Fleck! Ich sag da kurz Bescheid, dass du wieder da… Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt? Brauchst du irgendwas?“
Ihr Vater nimmt sie noch mal in den Arm. Beffaná kommen die Tränen.
„Nein, Papa, ich mein, ich brauch nix, alles in Ordnung, mir geht’s gut!“
Eine Minute lang hält ihr Vater sie fest an sich gedrückt, dann schiebt er sie ein Stück von sich weg und mustert sie von unten bis oben.
„Bist du sicher?“
„Ja! Alles picobello! Knorkissimo! Ehrlich!“
„Okay. Hinsetzen. Nicht bewegen. Bin gleich wieder da.“

Beffaná setzt sich an den Küchentisch. Die Reste vom Abendbrot sind nicht abgeräumt, auch ihr Teller steht noch an seinem Platz, unberührt, mit einem sauberen Messer rechts und einer Tasse Tee daneben. Sie nippt. Kalter Kräutertee. Ihre Lieblingsorte. Sie hört ihren Vater im Wohnzimmer telefonieren. Laut, erleichtert. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Halb eins! Sie hat vollkommen die Zeit vergessen! Klar, irgendwie hatte sie schon geahnt, dass es ganz schön spät ist, aber so spät? Ihr Vater kommt zurück in die Küche.
„Alles in Ordnung. Der Polizist war ganz nett. Meinte, dass passiert ziemlich häufig in deinem Alter.
„Papa, das hat doch nix mit meinem Alter zu tun!“
„Dieser Joshua, hab ich Recht? Seine Eltern meinten, dass er bis zehn beim Training war.“
„Beim Training?! Papa, du hast Joshuas Eltern angerufen?“
„Beffaná, ich hab die ganze Welt angerufen! Ich hab mir Sorgen gemacht!“
„Ich war nicht bei Joshua! Ich weiß überhaupt nicht, wo der wohnt!“
Ihr Vater rennt wie angestochen in der Küche hin und her. Zwischendurch beugt er sich runter zu seiner Tochter, drückt sie einmal fest, dann rennt er weiter.
„Du kannst es mir doch sagen! Wir haben doch sonst keine Geheimnisse!“
Pff. Ja, nee, denkt Beffaná. Sagt der Vater, der halbe Tage und Nächte verschwindet, um ‚Spazieren‘ zu gehen. Sagt der Vater, der immer sofort durchdreht, wenn ich frage, wie Mama so gewesen ist.
„Beffana! Sag doch was!“
„Es war gar nix! Überhaupt nix! Ich war im Wald, das ist alles! Und jetzt bin ich wieder da!“
„Wie, im Wald?“ Ihr Vater setzt sich auf den Platz ihr gegenüber, wo sonst immer Jacob sitzt. Vor ihm steht noch ein halb ausgetrunkenes Apfelsaftglas vom Abendbrot.
„Ich hab im Bus nicht aufgepasst und bin bis zur Endstation gefahren. Und weil der Bus zurück erst ’ne halbe Stunde später ging, bin ich im Wald spazieren gegangen.“
„Beffaná, das ist 16 Stunden her! Du bist doch nicht 16 Stunden durch den Wald gelaufen!“
„Na doch, irgendwie schon.“
„Es ist Dezember, es ist doch schweinekalt im Wald!“
„Die Busfahrerin hat mir heißen Kaffee spendiert…“
Ihr Vater springt wieder auf.
„Moment, die Busfahrerin hat dir Kaffee spendiert und dich in den Wald abmarschieren lassen? Welche Linie war das? Das ist doch unmöglich!“
„Nein, Papa, so war das nicht. Sie ist auf’s Klo gegangen und ich hatte keine Lust mehr, rumzusitzen, und da sind wir losgezogen in den Wald.“
„Also doch! Wir!“ ruft ihr Vater. Hinten, in Jacobs Zimmer geht ein Licht an.
„Ja, wir! Ich und die Kaffeekanne.
Es gibt eine wichtige Sache, die Beffanás Vater ein bisschen zu streng sieht. Die Sache mit den Haustieren nämlich. Haustiere sind ein No-Go. Beffanás Vater ist ein absoluter Haustiergegner und lässt überhaupt nicht mit sich diskutieren in diesem Punkt. Haustiere, sagt er, sind Gefangene. Immer. Beffaná kennt zwar hundert Beispiele, wo Haustiere überhaupt nicht den Eindruck machen, Gefangene zu sein. Im, Gegenteil. Wo Haustiere total Happy zu sein scheinen. Aber ihr Vater bleibt vollkommen stur. Wenn Tiere in Wohnungen leben wollten, würden sie sich welche bauen sagt er. Zwar gibt es Tiere wie Mäuse oder Spinnen, die freiwillig in Häuser kommen, aber er hätte noch nie gehört, dass Kinder sich sowas als Haustier wünschen.
„Aber sie sind so gezüchtet!“ hat Beffaná das letzte mal geschrien, als sie sich zum hundertsten Mal darüber gestritten haben.
„Und Zucht ist überhaupt die größte Scheiße!“ hat er da nur geblafft und war für den Rest des Abends draußen verschwunden. Spazieren. Und jetzt gerade sieht er so aus, als stünde er kurz davor, wieder rauszurennen und Spazieren zu gehen. Wohl eher zu rennen, denkt Beffaná. Doch er bleibt in der Küche.
„Was heißt denn hier Kaffeekanne? Hast Du einer Busfahrerin den Kaffee geklaut?“
„Ich fass es einfach nicht, dass du bei Joshua angerufen hast!“ ruft Beffaná. Sie fasst es wirklich nicht. Gut, kann sein, dass sie auch ein kleinwenig ablenken will, aber trotzdem. Sie könnte im Boden versinken. (6:30)
Plötzlich steht Jacob neben ihr. Er hat seinen Stoffaffen in der Hand und blinzelt ins Küchenlicht.
„Papa, geh von meinem Platz runter!“
„Na toll“, brummt Beffanás Vater. Er nimmt Jacob auf den Schoß. „Haben wir dich geweckt?“
„Ich hab geträumt, Beffaná hat einen Hund. Kann ich auch einen? Wenn Beffaná darf, darf ich auch!“
Beffaná vermeidet, ihren Vater anzusehen.
„Papa, wär’s okay, wenn ich jetzt heiß dusche und dann ins Bett gehe. Ich bin müde.“
Ihr Vater streichelt Jacob über den Kopf, der schon wieder halb eingeschlafen ist.
„Na klar. Aber richtig heiß duschen, versprich mir das.“

Als Beffaná aus dem Bad in ihr Zimmer kommt, liegt Sami auf dem Teppich vor ihrem Bett.
„Beffaná“, sagt er.
„Ja?“
„Ich hab Hunger.“
„Ach, natürlich! Was isst du denn so?“
„Katzen.“
„Was?“
„Ein Witz, Beffaná. Weiß nicht. Hast du Haferflocken?“
„Öhm. Ja, schon. Du isst Haferflocken?“
„Oder Katzen. Such’s Dir aus.“
„Mit Milch oder mit Wasser?“
„Mit Wasser!“ Sami schüttelt sich. „Stimmt ds, das ihr Menschen die Milch von Kühen trinkt?“
„Ich, ähm, denke schon“. Beffaná zögert. Darüber hat sie irgendwie noch nie nachgedacht.
„Wasser, definitiv“, sagt Sami.
Jacob und ihr Vater sind nirgends zu sehen. Beffaná holt eine Schüssel Haferflocken mit Wasser aus der Küche, schließt ihre Zimmertür hinter sich und setzt sich zu Sami auf den Teppich.
„Was ist das, das da, in der Ecke?“ fragt der Hund, nachdem sie eine Weile nebeneinander gesessen haben.
„Ein Adventskalender“, sagt Beffaná. „Papa macht uns jedes Jahr einen.“
„Ich weiß, was ein Adventskalender ist“, schnaubt Sami. „Und das da“, damit er deutet mit der Schnauze auf eine Art Reisigbusch in einer hohen Vase, „Das ist jedenfalls keiner.“
„Doch, schau!“ sagt Beffana. Sie geht auf den Busch zu und hockt sich davor.
„Zum ersten Mal, zum zweiten Mal, zum dritten Mal: Öffne dich!“ flüstert sie und zwinkert Sami zu.
In der Vase raschelt es, es ist fast, als ginge ein Windhauch durchs Zimmer, die Zweige richten sich ein Stück weit auf und aus ein, zwei, drei Knospen entfalten sich große Weidenkätzchen.
„Wie hast du das gemacht?“ Sami läuft schwanzwedelnd zu ihr hin und schnuppert.
„Das verrate ich dir erst, wenn du mir sagst, was dein Herrchen, dieser Krampus eigentlich für einer ist…“

‚Die beiden waren tatsächlich den ganzen Tag im Wald unterwegs gewesen. Nachdem Beffaná sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, dass dieser Hund tatsächlich mit ihr sprechen konnte, hatte er sie mitten in den Wald geführt. Seinen Namen, Sami, hatte ihm sein erstes Frauchen gegeben, eine alte Lehrerin. Sie stammte aus Finnland, wie auch seine Eltern. Sie gehörten zur Familie der Suomenpystykorva, einer alten finnischen Hunderasse, wobei es Sami eigentlich schnurzpiepegal war, ob sie nun Mischlinge, deutschee Schäferhunde oder eben Suomenpystykorvae, finnische Spitze waren.
„Fressen alle gerne Katzen!“ grinste er.
„Jetzt hör mal mit den blöden Katzenwitzen auf!“
„Schon gut.“
Sein neues Herrchen, Krampus, lebte mitten im Wald. Er hatte Sami aus dem Tierheim geholt, als sein altes Frauchen gestorben war. Fast drei Stunden hatte es gedauert, bis sie schließlich vor seiner Tür standen. Das Haus war kaum zu sehen mit seinem dunkelgrauen Dach in einer Senke unter dicht wachsenden, mächtigen Buchen.
„Warum will dein Herrchen mit mir sprechen?“ hatte Beffaná gefragt, kurz bevor sie den schweren Messingklopfer an die Tür schlug, doch Sami schüttelte sich nur.
„Menschenangelegenheiten“, meinte er. „Nicht mein Revier.“
„Da kann der Hund schon sprechen, aber er erzählt nix“, sagte Beffaná. „Kurios.“
Ein Mann öffnete. Er war klein und breit und besaß das hässlichste Gesicht, das Beffaná je gesehen hatte.
„Was willst du?“ schnaubte er. Dann bemerkte er den Hund.
„Was will die hier?“
„Sie ist SIE“, zischte Sami. „DAS MÄDCHEN!“
„Was zum Teufel?“ Der Mann blickte von Sami zu Beffaná.
„Die ich observieren sollte“ nuschelte Sami. „In der Stadt.“
„Welchen Teil von OBSERVIEREN hast du idiotische Töle eigentlich nicht verstanden? Von HERBRINGEN war nie die Rede!“
„Mal ganz ruhig, Brauner!“ Beffaná hielt dem Zwerg die Isolierkanne mit Kaffee unter die Nase. „Sami hier meint, sie steh’n auf das Zeug.“
Der Zwerg, Krampus, nahm die Kanne und schraubte sie misstrauisch auf.
„Ist lauwarm. Trotzdem besser als nix. Kommt herein.“
Sie setzen sich alle gemeinsam in die kleine Küche neben der Haustür. Krampus schien es wichtig zu sein, dass Beffaná möglichst wenig vom Rest des Hauses sah.
„Warum hat ihr Hund mich OBSERVIERT?“ fragte sie.
„Weil ich Leute suche“, grummelte er. „Junge Leute, mit Potential. Leute aus der Stadt.“
„Und warum ausgerechnet mich?“
„Papperlapapp, ausgerechnet! Was heißt denn hier ausgerechnet? Hätt‘ auch wer anders sein können“, schnaubte der Zwerg. „Ich observiere viele Leute, oder, lasse observieren, manchmal. Klappt aber nicht immer“. Dabei schaute er den Hund grimmig an.
„Aber der Bus!“ bellte Sami „Aber der Bus mit ihr drin ist immer weiter gefahren bis fast in den Wald! Da dachte ich, das kann ja kein Zufall sein! Ich hol die Alte doch auch immer von der Bushaltestelle…“
„Aus! Jetzt! Sami!“ Fast bellte der Zwerg zurück. „Du denkst ein bisschen viel. Also, was ist jetzt? Macht sie mit oder nicht?“
„Wobei denn überhaupt“, fragte Beffaná. Sie hasste es, wenn andere über sie redeten, also sei sie gar nicht da.
„Gut“, sagte er Zwerg. „Hat er also wenigstens den Mund gehalten.“ Er ging zum Küchenschrank und holte ein großes Foto im DIN-A4-Format aus der obersten Schublade heraus.
„Hier“, er reichte Beffaná das Foto. „Interesse?“
Das Foto war von Joshua. Am Schultor, wie er sich mit einem Freund unterhielt.
„Was soll das?“ fragte Beffaná.
„Soll er dich mögen, oder nicht?“
„Er mag mich. Er schreibt mir Zettel.“
„Ist das so?“ lachte der Zwerg. Er zeigte ihr die Rückseite des Fotos. Lauter Kritzeleien. Schriftproben, angefangene Sätze. „Liebe Beffaná, willst Du mit mir ins Kino? Joshua“.
Beffana starrte den Zwerg an.
„Keine Sorge“, brummte der. „Er wird schon noch mögen. Oder jemand anderes, such Dir einen aus! Ich kann dir zeigen, wie. Wenn du mir bei ein paar anderen Sachen hilfst. So läuft das hier im Wald. Eine Hand wäscht die andere, was, Sami? Sami nickte und hechelte Beffaná an.
„Und Sami hier, den kannst du gern für ein paar Tage mit nach Hause nehmen. Zum Observieren taugt er nicht.“
„Aber…“ Sami kläffte sein Herrchen an, jaulte dann und zog den Schwanz ein.
Beffaná schaute unsicher von einem zum anderen. Einen Hund würde ihr Vater sowie niemals erlauben.
Der Krampus steckte Sami ein kleines Hundeküchlein zu und lächelte zufrieden, während Sami ihn gierig verschlang.
„Auch das Problem mit deinem Vater werden wir bald lösen, da bin ich mir sicher. Oder nicht, Sami?“
Der Hund sprang aufgeregt in der Küche herum.
„Na los, Beffaná, wann gehen wir endlich nach Hause?“
Als sie vor die Tür traten, war es draußen schon stockdunkel und Beffaná fühlte sich merkwürdig erschöpft.
„Morgen Abend“, schnaubte der Krampus. „Seit pünktlich.“

„Der Krampus ist okay“, sagt Sami, während er sich zufrieden auf Beffanás Teppich zusammenrollt. Die Schüssel mit Haferflocken aus ratzekahl leergefuttert.
„Sag schon, was ist der Trick mit diesen Weidenkätzchen?“
„Ist kein Trick“, sagt Beffaná. „Mein Vater kann sowas eben. Konnte er immer schon. Als ich klein war, hab ich geglaubt, dass er ein Zauberer ist oder sowas. Gute Nacht jetzt, Sami.“
„Aber Beffaná…!“
„Schlaf jetzt, Potzblitz, morgen wird wieder ein langer Tag.“

Beffaná (St. 5, Kap. 3): Krampus
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