„Meister, darf ich es eigentlich jemandem erzählen?“
„Was darfst du erzählen?“
„Die Sache mit der Hexerei?“
„Kannst du das nicht selbst entscheiden?“
„Ich meine, gibt es ein Gesetz dagegen?“
„Weiß nicht. Hab ich mich nie drum gekümmert.“
„Aber ist es nicht gefährlich, wenn ich es irgendwem erzähle?“
„Doch, bestimmt! Kommt drauf an. Warum willst du es denn IRGENDWEM erzählen?“
„Ich meine, einer Freundin. Oder meinem Vater?“
„Beffaná, das hier ist keine Schule. Was du hier lernst, ist außergewöhnlich. Bezaubernd. Besorgniserregend. Gefährlich. Du bist hier nicht versichert, es gibt keine Noten, und ich werde dir auch keine Elterninformationsschreiben mit nach Hause geben. Wenn Dein Vater hier vor der Tür steht und rumbrüllt, dann werde ich mich wehren. Auf meine Art. Und das ist keine Drohung, das ist einfach die Wahrheit. Also streng einfach selbst dein Köpfchen an. Wir haben einen Vertrag, nach dem ich dich das Hexenhandwerk lehre. Von Geheimhaltung steht da nichts. Aber ich gehe davon aus, dass du nicht dumm bist.“
„Ja, Meister.“
„Ich…, ich mochte deine Hausaufgaben. Viel Improvisation, aber guter Stil. Bist du bereit für etwas Neues?“
„Na klar, Meister!“
„Sehr gut. Ich denke, die nächste Aufgabe wird dir gefallen.“

Zuhause ist dicke Luft. Als Beffaná die Wohnungstür aufsperrt, hört sie bereits Gezeter und Geheule. Es ist ein wirklich schlechtes Zeichen, wenn das Gezeter nicht nur von ihrem kleinen Bruder kommt. Wenn Anil Grimm laut wird, sollte man in Deckung gehen. Das weiß Beffaná. Das weiß auch Jacob, ihr Bruder. Aber er hält sich nicht daran. Er macht den Rücken grade, reckt den Hals und seine Augen funkeln angriffslustig. „Komm doch!“. Beffaná weiß, was zu tun ist. Sie pfeffert ihre Schultasche unter die Garderobe und sieht zu, dass sie schnell nach unten zu Esmeralda in die Wohnung flüchtet. Doch zu spät. Noch in der Wohnungstür hat sie plötzlich Jacob am Hals, der sie zurück in die Wohnung zieht.
„Beffaná ist hier!“
DA kommt schon ihr Vater aus seinem Zimmer.
„Der Himmel schickt dich. Halt ihn mir vom Hals!“
„Ich wollte eigentlich gerade…“
„Pustekuchen! Ich hab morgen Endabgabe. Harte Deadline. Nichts zu machen, Beffaná. Wenn du zu Weihnachten Wert auf was zu Essen legst, dann halt mir die – sen QUÄLGEIST vom Hals. Bitte. Danke. Ruhe jetzt!“
Beffanás Vater entwirft Flugzeuge. Eigentlich nur einen Teil davon, aber einen sehr wichtigen. Er ist in seiner Firma für die Aerodynamik von Ultraleichtflugzeugen verantwortlich, also dafür, dass die Dinger fliegen. Anils Flugzeuge fliegen richtig gut. Sie sind die besten. Sie sind so gut, dass Anil schon Angebote von vielen großen Luftfahrtkonzernen hatte. Aber er hat immer abgelehnt. Weil er nur von zuhause und nur Teilzeit arbeiten kann. Arbeiten will. Wegen Jacob und wegen Beffaná. Außerdem hat er keine Lust auf große Firmen. Alles, was die großen Firmen anbieten, vor allem Geld und Aufstiegschancen, bedeutet ihm nichts. Wenn Beffaná nicht vor ein paar Jahren angefangen hätte, die Kleidung für sich, Jacob und ihren Vater einzukaufen, wären sie wahrscheinlich alle schon längst erfroren. Dafür gibt es zu Weihnachten viel zu teure Geschenke, weil ihr Vater einfach alles kauft, was irgendwie so aussieht, als könnten Kinder es lustig finden. Er weckt die Kinder morgens, macht Essen, erkundigt sich einmal pro Woche nach Problemen in der Schule und ob Jacob schon gebadet hat. Der Rest läuft irgendwie, machmal besser, manchmal schlechter. Nur wenn es eine Abgabefrist für ein Projekt gibt, eine, wie Beffanás Vater es nennt, „harte Deadline“, dann ist Ausnahmezustand, dann wird zwei Nächte durchgearbeitet und ganz besonders Jacob wird zum Problem.
Man könnte glauben, dass Jacob nun mal nicht versteht, warum es an solchen Tagen wichtig ist, Papa nicht zu stören. Doch das stimmt nicht, weiß Beffaná. Er versteht es. Der probiert einfach gerne aus, was wohl alles passieren kann, wenn man es doch tut. Vielleicht führt ihr Bruder ein geheimes Forschungstagebuch, in dem er peinlich genau notiert, wie sein Vater auf welche Ärgerei reagiert. In dem Fall müsste das inzwischen ein sehr, sehr dickes Buch sein. Die letzte Reaktion ist aber immer dieselbe:
„Beffaná, schaff ihn mir vom Hals!“

Beffaná seufzt: „Wollen wir was spielen, Jacob?“
„Nein, das wollt ihr nicht!“ brummt ihr Vater. „Ihr wollt nach draußen auf den Spielplatz gehen und frische Luft schnappen!“
„Aber ich kommt grade von draußen!“ ruft Beffaná. „Es sind ein Grad minus, es weht ein eiskalter Wind und außerdem wird’s in einer Stunde dunkel!“
„Eine Stunde, super!“ ruft ihr Vater. Er klaubt an der Garderobe wahllos dicke Wintersachen zusammen und wirft sie Beffaná und Jacob vor die Füße.
„Mehr als eine Stunde brauch ich nicht! Anderthalb, abgemacht? Wir sehen uns zum Abendbrot!“
Er drückt Beffaná einen Geldschein in die Hand.
„Es gibt Pommes. Mit allem. Für mich bitte extra Mayo. Und jetzt verschwindet!“

Der Spielplatz ist natürlich leer. Mutterseelenallein stehen Jacob und Beffaná im Sandkasten, wo Jacob an einem festgefrorenen Schäufelchen zerrt.
„Bist du dafür nicht zu alt?“ fragt Beffaná.
„Wieso?“ fragt Jacob und zimmert ihr die Schaufel an den Kopf. „Für sowas ist man nie zu alt.“
Der Spielplatz besteht aus vier Bereichen: Dem Sandkasten, einer kaputten Seilbahn, einem rostigen Karussell und einer Schaukel. Im Sommer, wenn hier mehr los ist, klettern die meisten Kinder an dem rostigen Maschendrahtzaun herum und gewonnen hat, wer es trotz Schürfwunden und schmerzenden Fingern am schnellsten ganz nach oben schafft. Früher hat Beffaná immer gewonnen. Jetzt, wo sie zu alt ist, hat Jacob ihre unangefochtene Nachfolge übernommen. Beffaná hält sich noch den schmerzenden Kopf, da ist Jacob schon am Zaun und krallt sich ohne Handschuhe, Schal und Mütze in die eiskalten Maschen. Beffaná tritt in den gefrorenen Boden. Eigentlich wollte sie heute was neues ausprobieren. Ihre Hausaufgaben, sozusagen. Aber warum eigentlich nicht hier? Wenn’s nicht klappt, ist es eh egal, und wenn doch… Na, dann los. Sie holt aus ihrer Tasche den Stift. Joshuas Stift, den sie schon seit Tagen mit sich herumträgt. Man benötigt nur irgendetwas, das die Person, um die es geht, in letzter Zeit berührt hat. Etwas, wo noch allerkleinste Teile dieser Person haften geblieben sind. Beffaná reibt den Stift so schnell sie kann zwischen ihren Handflächen, so als wäre sie ein Indianer, der Feuer machen will. Dann murmelt sie die Worte, die sie der Krampus gelehrt hat. Das sollte reichen. Wenn es funktioniert, dann ist Joshua gleich da. Dann hat sie ihn erfolgreich angelockt, ohne dass er weiß, wie und warum und überhaupt. Beffaná holt einen Zettel aus der Jackentasche. Zum Glück hat sie ihn mitgenommen, als ihr Vater sie aus der Wohnung geschmissen hat. Es sind Gesprächsthemen, für die sich Joshua interessieren könnte. Glücklicherweise ist er ein kein Fußball- oder Sporttyp. Da wäre sie ziemlich ahnungslos. Aber es gibt ein paar andere Punkte auf ihrer Liste, die ziemlich vielversprechend sind, wie Beffaná findet. Vorsichtshalber geht sie sie noch mal durch.
„Beffaná, du musst mir Anschwung geben.“ Neben ihr steht Jacob. Irgendwann muss sie noch mal dahinterkommen, wie er das eigentlich macht, dieses absolut lautlose Anschleichen.
„Wer bin ich? Deine Nanny? Gibt dir selber Anschwung!“
„Gut, ich geh nach Hause und sag’s Papa.“
„Tust du nicht!“
„Dann gibt mir Anschwung!“
„Willst du mich erpressen?“
„Zehn. Neun. Acht. Sieben…“
„Jacob!“
„Sechs. Fünf. Vier…“
„Ich mach’s! Okay?“
Beffaná gibt Jacob Anschwung. Als wäre er vier. Jacob starrt zufrieden auf den Maschendrahtzaun am Rand des Spielplatzes und immer, wenn Beffaná sich umdreht, um zu schauen, ob Joshua endlich auftaucht, sagt er: „Weiter!“.
Endlich sieht Beffaná ihn. Wow. Es hat geklappt. Einfach genial. Joshua steht am Eingang des Spielplatzes und winkt zu ihr herüber. Sie winkt zurück. Komm hierher! bedeutet sie ihm. Betont lässig schlendert Joshua zu ihnen herüber. Als Beffaná ihm entgegen gehen will, meldet sich sofort Jacob wieder: „Weiter!“
„Ich sage nur schnell Joshua ‚Hallo!'“
„Mach ruhig, dann sag ich nur schnell Papa ‚Hallo‘. Vielleicht zeigt er mir ja, was er gerade arbeitet.“
„Idiot! He, Joshua, sorry, dass ich nicht rüberkommen kann. Ich muss hier gerade noch meinem KLEINEN Bruder Anschwung geben.“
„Hi Beffaná“, sagt Joshua. „Wusste gar nicht, dass du einen kleinen Bruder hast. Wohnst du hier?“
„Da hinten“, sagt Beffaná. „Und du?“
„Bisschen weg“, sagt Joshua. „Lauf einfach nur ein bisschen rum.“
„Ach“. Beffaná grinst in sich hinein. Dieses Anschwung geben und gleichzeitig reden, das nervt allerdings.
„Höher“, befiehlt Jacob.
„Du, sagt mal“, sagt Beffaná. „Ich wollte, also wenn Jessie wieder fit ist, dann wollten wir zusammen ins Kino. Hast du auch Lust?“
„Höher“, befiehlt Jacob.
„Ja. Schon“, sagt Joshua.
„Cool. Irgendwelche… Vorlieben?“
„Schon“, sagt Joshua.
„Höher“, befiehlt Jacob.
„Aber ich frag noch mal Lisa, sie hat nämlich auch schon gefragt. Dann könnten wir ja zu viert…“
„Höher“, befiehlt Jacob.
Irgendetwas in Beffaná klinkt aus. Ein Zahnrad in ihrem Kopf verhakt sich, knarzt und rattert im Getriebe, sperrt sich gegen den Strom der widersprüchlichen Gefühle und Gedanken, ächzt, verbiegt sich schließlich und gibt nach.
„Höher“, befiehlt Jacob.
Zunächst sieht Beffaná nur das Gesicht von Joshua. Warum, denkt sie, bleibt der so ruhig? Ah. Jetzt. Der Kopf. Er dreht sich. Augen weiten sich. Der Mund geht auf und zu. Zum Glück, denkt sie, er ist normal. Denn wer würde nicht vollkommen austicken, wenn vor der eigenen Nase ein Kind von einer Schaukel in den Himmel katapultiert wird. Hat man sowas schon gesehen? Bestimmt nicht. Aber jetzt, denkt Beffaná, wär’s langsam Zeit, in Panik zu verfallen und irgendetwas wirklich Kluges anzustellen, damit Jacob nicht über die Landesgrenzen fliegt und einen internationalen Zwischenfall auslöst. Denn Jacob fliegt wirklich. Nicht flugzeughoch, aber vogelhoch, mindestens, den Maschendrahtzaun des Spielplatzes hat er schon passiert und nähert sich der Tankstelle an der Kreuzung. Das wird verdammt knapp, denkt Beffaná und sie hat keine Ahnung, wie sie das noch stoppen kann.
„Ach Kindchen“, hört sie da die Stimme von Esmeralda Schniggenfittich. „Kindchen, Kindchen, Kindchen…“
Dann gibt es einen Donner, mehrere Blitze, Joshua wird gefällt wie ein kranker Baum und eine Windhose ergreift Beffanás Bruder. Neben Beffaná steht Esmeralda und dirigiert mit beiden Armen Donner, Blitz und Wirbelwind um sie herum, bis Jacob neben ihnen mehr oder weniger ruppig im Sand landet und das Unwetter wenige Sekunden später mit einem letzten Knall in einem Wolkenloch über ihnen verschwindet.
„Männer, oder?“ lacht Esmeralda.
„Danke“, sagt Beffaná. „Das war knapp.“
„Das war gar nichts“ ruft Esmeralda. „Sowas hat Leah früher noch vor dem Frühstück veranstaltet!“
Sie zerrt den bewusstlosen Joshua zum Ausgang des Spielplatzes und bedeutet Beffaná, ihrem völlig verdatterten Bruder unter die Arme zu greifen.
„Und was machen wir jetzt?“ fragt sie.
„Pommes kaufen,“ sagt Beffaná. „Mit alles und extra Mayonnaise. Potzblitz.“

Beffaná (St. 5, Kap. 9): Im Schatten der Schaukel
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