„Es heißt“, sagt Daniel seinem Vater, dem Studiendirektor Dr. Richard Grothaus, „Freud und Leid liegen oft dicht beieinander.“

Der Alte sitzt auf seinem Gartenstuhl und birgt den Kopf zwischen den großen Händen. Er hatte eigentlich die Eibe schneiden wollen, Handschuhe und die große Baumschere sind bereits zurechtgelegt, doch werden sie an diesem Tag nicht mehr gebraucht und zum ersten Mal seit Jahren wird Richard Grothaus es versäumen, die Schere abends in den Keller zurück an ihren Platz zu legen. Es wird regnen in der Nacht und auch die nächsten Tage. Die Handschuhe werden bald vollständig durchweicht sein und die Baumschere wird Rost ansetzen. So ist das, wenn die Schwiegertochter stirbt.

„So ein Quatsch!“, ruft Daniel. Er hat viel geheult zuletzt. „Den Teil mit der Freude hab ich jedenfalls verpasst.“

„Setzt dich, Daniel“, sagt der Vater.

„Wir hatten uns gestritten, haben drei Tage lang kein Wort geredet,“ sagt Daniel und setzt sich auf den Stuhl daneben. „In ihrer Einkaufstasche auf dem Gepäckträger lagen ein Universalstaubsaugeraufsatz von Tchibo und Blasenpflaster aus der Apotheke. Ist das Freude?“

„It‘s not that simple.“

„Nein.“

Sie hatte einen Fahrradunfall, ist mit dem Vorderrad in die Lücke zwischen Straßenbahnschienen und Asphalt geraten, vorne über den Lenker gegangen und dann von einem Lastwagen überrollt worden. Hätte sie ihren Helm getragen, den pinken, der seit Jahren an der Garderobe hängt, hätte Daniel sie wenigstens sofort identifizieren können. So aber musste der Arzt in der Medizinischen Hochschule zunächst den Kopf auf die linke Seite drehen. Da hat er sie erkannt. Der Fahrer des Lastwagens steht noch unter Schock. Er musste eine Waschmaschine ausliefern und der Kunde hat sich bereits bei der Hotline beschwert, dass das Lieferfenster nicht eingehalten wurde. Er hatte sich extra den Vormittag freigenommen und der nächste freie Liefertermin ist nun erst in drei Tagen, zwischen 14:00 und 18:00 Uhr, Lieferung bis Bordsteinkante. Er wird wieder Urlaub einreichen, die Maschine hat gute Bewertungen erhalten und ist nirgends billiger zu kriegen.

„Hat Friederike sie so gesehen?“

„Nein“, sagt Daniel. „Sie war schon im Ferienlager. Hab sie heute erst vom Bahnhof abgeholt.“

„Kommt zu uns“, sagt Daniels Vater.  „Für immer, meine ich.“

„Danke, Papa.“

In drei Kilometern Luftlinie, mitten im Stadtpark, sieht Jesus, dass hinter dem Wachholderbusch die Erde aufplatzt. Kopfschüttelnd humpelt er nach Hause.

Szene 1: Lieferfenster

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