Mittwochs um 18:00 Uhr geht Jesus immer in die Bäckerei am Markt. Er kauft sich eine Nussecke oder einen Mohnstriezel oder was sonst im Angebot ist. Um halb sieben machen sie hier zu, bis dahin gibt es alles für die Hälfte. Nur die Kaffeemaschine ist um sechs schon aus. Zum Glück hat Jesus immer seine eigene Flasche im Rucksack. Er verlässt das Geschäft durch die Hintertür des Cafés und klettert die dunkelgrüne Linoleumtreppe zur Zuschauertribüne der Sporthalle hinauf. Für die Bäckerei ist die direkte Verbindung zur Halle eine Goldgrube. Am Wochenende verkaufen die Damen hinter dem Tresen viele Dutzend Kaffeebecher und Salamibrötchen an Eltern, die anschließend auf der Tribüne sitzen, auf ihre Smartphones starren und den Schlusspfiff herbeisehnen. Natürlich gibt es auch die Engagierten, die mit den großen Fotoapparaten, die es kaum fünf Minuten auf den Bänken hält. Sie bringen meistens ihren eigenen Tee in Thermosflaschen mit und wenn sie überhaupt einmal die Tribüne verlassen, dann nur zum Rauchen draußen auf dem Marktplatz oder um mit Verwandtschaft aus Schuckenbaum zu telefonieren, weil die Pflege der dementen Tante nicht funktioniert. Doch sie, die Engagierten, sind eindeutig in der Unterzahl und in mehreren Whats-App-Gruppen werden Witze über sie und ihre Teleobjektive gemacht.
In der Sporthalle am Markt ist Handball das große Ding. Wenn die erste Mannschaft des TSH zweimal im Monat Landesliga-Heimspiel hat, sind die vier Tribünenränge gut gefüllt mit Freunden, Ehemännern, Kindern und feixenden Jugendlichen, die ein paar Titten hüpfen sehen wollen. Manchmal gibt es Ärger mit den Freunden und den Ehemännern, doch meistens halten sich die Jugendlichen zurück. Zu filmen gibt es sowieso kaum etwas dank Sport-BHs und den alten Schlabbertrikots, die durch jahrelange Wäsche bleich und ausgeleiert sind und zum Teil noch von den Herren stammen. Seit dem Aufstieg letztes Jahr ändern sich die Dinge ein wenig. Es gibt Gespräche mit einer Immobilienfirma über neue Bandenwerbung in der Halle und die Brauerei hat im Frühjahr eine Studentin für Sportmarketing vorbeigeschickt. Die Trikotfarben würden gut zum Logo der Brauerei passen, auch wenn die Frauen, wenn überhaupt, lieber Sauren Apfel trinken und sonst bei Leitungswasser bleiben. Das ist zwar sehr hart in der Gegend, aber auch sehr mineralstoffreich. Die Freundin von Michaela, der Kreisläuferin, arbeitet beim Wasserwerk.
Jesus interessiert sich nicht besonders für Titten, Wasserqualität und Sauren Apfel. Er schaut mittwochs nur beim Training der Jugendabteilung zu. Früher hat er selbst gespielt, nicht immer gut, aber unentbehrlich, denn er war der einzige Torwart der TSH-Junioren in der C-, der B- und der A-Jugend. Wenn Jesus krank war, zogen sie Streichhölzer, wer an seiner Statt den Tiefschutz überstreifen und sich ins Tor stellen musste, das war kein Spaß. Du musst es zwar nicht mögen, den Ball voll in die Fresse zu bekommen, doch es macht die Sache deutlich leichter zu ertragen. Frauenhandball gab es damals nicht beim TSH, inzwischen ist es die größte Abteilung im Verein. Es fing mit einer Lehramtsreferendarin aus Leipzig an. Sie unterrichtete Sport und Englisch auf dem Gymnasium neben der Sporthalle und in ihrer Freizeit baute sie eine erste weibliche D-Jugend auf. Inzwischen ist sie Studienrätin und Trainerin der ersten Mannschaft.
Mittwochs trainieren die weibliche C- und die B-Jugend und Jesus’ Schwester Marieke ist Übungsleiterin der B. Manchmal kommt sein Kumpel Judas später noch vorbei und sie trinken einen Schluck aus Jesus’ Flasche. Doch heute nicht, heute ist Sommerschlussverkauf in der Sportabteilung im Kaufhaus und Judas muss wohl länger arbeiten. Es ist okay. Jesus, den sie schon seit Jahren, seit die Haare ab sind, nur noch AJ nennen, so wie den Blonden bei Simon & Simon früher, wäre eh der einzige, der Judas sehen kann. Die Sportabteilung ist seit Jahren schon geschlossen. Dafür sieht Jesus heute zum ersten Mal die Neue im Tor. Er weiß nichts über sie, nicht, dass sie Rixe heißt, dass sie erst seit ein paar Wochen in der Stadt ist und dass er ihren Vater noch von früher kennt. Sie ist groß, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt, Jesus kann so etwas nicht gut schätzen. Er setzt sich gerade in der ersten Reihe hinter das Metallgeländer, als die Mädchen mit der nächsten Übung anfangen. Sie stellen sich in zwei Reihen an den Außenpositionen auf und laufen gleich, sobald der Pfiff ertönt, in kurzer Folge von rechts und links im Wechsel auf das Tor zu. Links, rechts, links, der Dreischritt zum Sprungwurf, Absprung vom Kreis. Es gibt keine einzige Linkshänderin in der B, kein rechts, links, rechts also. Das ist ein Problem für die Rechtsaußen-Position, weil der Winkel für Rechtshänderinnen ziemlich mies ist.
Die Neue im Tor, das ist der Sinn der Übung, muss von einer Seite auf die andere hetzten, die nächste Angreiferin links läuft bereits los, wenn die letzte rechts noch in der Luft ist. Jesus kennt die Übung, er hat sie früher gern gehabt, weil beim Hin und Her zwischen den Pfosten irgendwann das Denken aufhört. Das Denken und die Angst. Wenn der Winkel spitz wird, ist der kurze Pfosten für die Angreiferinnen dicht, die lange Ecke nur durch einen weiten Sprung nach Innen zu erreichen und Handballspieler mit Erfahrung zielen direkt neben das Gesicht des Torwarts. In die Lücke zwischen Kopf und Oberarm. Das machen auch ein paar der Mädchen heute Abend so. Es ist ein Spiel mit der Angst der Torhüterin vor dem Ball, der aus dem vollen Sprungwurf, aus vielleicht viereinhalb, fünf Metern von ihrem Kopf entfernt, mit voller Wucht auf ihr Gesicht zurast. Du weißt erst im letzten Augenblick, ob er dich trifft, oder Zentimeter neben deinem Ohr in der Lücke einschlägt. Natürlich kannst du deine Hände vor‘s Gesicht halten, aber dann gibst du die Deckung der Ecken auf. Und natürlich kannst du auch die Augen schließen und das Gesicht wegdrehen, so wie Jesus es, selbst nach jahrelangem Training häufig getan hat, doch dann verlierst du die Kontrolle. Getroffen wirst du trotzdem. Wenn du dagegen von einer Ecke in die andere gescheucht wirst, wenn du es kaum noch schaffst, rechtzeitig die andere Seite zu erreichen und den kurzen Pfosten abzudecken, wenn du mehr damit beschäftigt bist, wo du den nächsten Atemzug der warmen, verbrauchten Turnhallenluft herbekommst, dann stellt der Körper irgendwann auf Überleben um. Es geht nur noch um Effektivität und um Reflexe. Jesus hat einmal ein Video von sich bei dieser Übung gesehen, sein verzerrtes Gesicht, die weit aufgerissenen Augen und den geöffneten Mund, der irgendwann anfing, die Angreifer in der Luft anzubrüllen. Das war dann technisches Faul: „Du Rinderficker!“
Bei der Neuen ist es vollkommen anders. Bevor Marieke zu ihrer Pfeife greift, um die Übung zu beginnen, steht das Mädchen in der Mitte des Tores kurz vor der Linie und schaut zu Boden. Sie sieht fast schlaff aus und die Arme hängen ihr nach unten. Doch ihre Füße in den weißen Hummel-Turnschuhen wippen ganz leicht auf und ab. Ihr Mund bewegt sich stumm. Sie tänzelt, nur ein bisschen, und sie summt. Wenn er sie fragen könnte, was, dann würde sie mit den Schultern zucken, so tun, als wüsste sie es nicht. Doch ist er weit entfernt, sie haben sich noch nie getroffen und die erste Angreiferin läuft los. Die Neue ist mit einem Schritt am Pfosten, hebt die Arme, mehr wie im Ballett, der dritten Position, als würde nicht gleich ein Ball mit 90 Stundenkilometern auf ihren Kopf zufliegen. Sie wehrt ab. Ein schwacher Wurf ins lange Eck, links oben. Nächste Seite. Rixe weiß natürlich, dass sie Herbie Hancock summt, „Chameleon“, es ist ihr Stück. Sie summt, um in den Flow zu kommen, nur die Basslinie im Viervierteltakt. Dann, als der zweite Wurf, rechts unten, langes Eck, an ihrem Fuß abprallt, wechselt sie ins Solo. Fast die gleiche Basslinie, aber Fünfvierteltakt. Sie hat es bei YouTube gesehen, Herbie Hancock live, und man muss konzentriert sein, um die Linie durchzuhalten. Die nächste ist so eine, sie zielt direkt neben das Gesicht. Jesus sitzt zu weit weg, er kann nicht erkennen, ob die Neue im letzten Augenblick die Augen schließt oder zumindest zwinkert. Doch sie hat beide Hände oben, sie fängt den Ball, scheint kurz zu lächeln, dann lässt sie ihn auf den Boden abtropfen, rennt zum linken Pfosten. In fünf Minuten lässt sie nur drei Bälle durch. Marieke pfeift, sie sieht zufrieden aus. Die Neue lässt die Arme sinken, bleibt in der Mitte stehen und schaut nach unten.