Donnerstag, 7. Dezember: Roswithas großer Wurf

Sina sitzt auf ihrem Bett. Es ist früh, vielleicht halb acht Uhr morgens. Sie ist froh, dass sie die Nacht überstanden hat und auch alle anderen sind schon wach.  Annika steht immer zeitig auf, auch wenn sie sich nicht um Sina kümmern muss. Und Betül? Ist eben Betül. Sie schläft zwar gerne und lang, aber noch wichtiger ist ihr, nichts zu verpassen und alle bei Laune zu halten.

Sina kratzt sich am Kopf, ihre Haare riechen immer noch nach dem Läuse-Shampoo, dass Ovid und sie gestern auf der Krankenstation bekommen haben. Ob Ovid noch mal gekostet hat, ob die Dinger wirklich nach Schoko schmecken? Seine Haare haben ein wenig nach Schokolade gerochen, findet Sin, drängt den Gedanken aber beiseite. Wenn eh schon alle wach sind, kann sie endlich diese eine Sache fragen, die sie schon länger interessiert:

„Wieso ausgerechnet Musketiere? Ich kapier’s wirklich nicht?“

Natürlich hat Annika einen sehr langen Vortrag über Musketiere in petto und ist nach ein paar Sätzen auch nicht mehr zu stoppen.

Eigentlich waren Musketiere Soldaten, die eine Muskete, also ein Gewehr, und manchmal zusätzlich Degen oder Dolch trugen. 

Der Grund, warum heute die meisten den Namen kennen, ist das Buch Die drei Musketiere. In dem Buch kämpfen die befreundeten Soldaten Athos, Porthos und Aramis im Namen des französischen Königs gegen verschiedene Schurken und lernen dabei den Degenkämpfer d’Artagnan kennen, der zum vierten Musketier wird. 

„Also bin ich d’Artagnan?“, sagt Sina und Betül schüttelt den Kopf,

„Zähl nach. Wir waren vorher zwei. Ich denke, du bist Aramis.“

„Ihr wart zu dritt! Kess ist schon Aramis.“

„Und wo ist dein Degen, d’Artagnan?“

„Du vergisst das Messer, das ich mir durch den Arm stecken kann!“

„Ach, komm schon!“ Betül schnappt sich einen spitzen Bleistift vom Schreibtisch und zieht ihren Pullover hoch, der heute blassrosa ist. 

„Kann ich auch.“

Sina muss schlucken. Sie hat Betüls unsichtbare Stelle vorher schon gesehen, aber das große Loch in Betüls Oberkörper  ist echt übel. Sie steckt sich ohne weitere Worte den Bleistift hindurch und lässt ihn ein paarmal um sich selbst drehen. Dann schaut sie Sina mit einem I-told-you-so-Gesicht an. Annika verdreht die Augen. 

„Es ist Normalzeit, Leute! Lasst uns frühstücken!“

„Haben nicht sowieso alle Musketiere Degen“, wispert Sina, während sie in den Gemeinschaftsraum schlurfen. 

Betül zuckt mit den Schultern. 

„Is mir egal, Sina. Ich will einfach nur mein Müsli und irgendwas, das nach Kaffee schmeckt.“

„Ich glaube, ich nehme wieder Tee.“

„Wie deine Beffaná, oder? Beffaná-Beffaná-BE-FFA-NÀ!“

„Du hast Ovid gehört. Ich bin nicht total verrückt! Wer auch immer sie ist, es gibt jemanden, die sich Beffaná Grimm nennt. Und sie spukt hier im Schulgebäude herum.“

„Oh natürlich! Wenn O-VI-HID das sagt…“

„Was ist dein Problem damit?“

„Du hast einen crush auf den Zottel, was?“

„Quatsch! Er ist nett, das ist alles!“

„Er ist also nett. Riecht er auch nett? Von weitem sieht’s aus, als riecht er nach nassem Hund.“

„Pffff!“

Natürlich hat Betül einen Punkt. 

Nicht mit dem nassen Hund! Mit dem Nett-Finden.

Es gibt etwas an Ovid, das Sina außerordentlich mag. Alles, was von ihm kommt, seine Gefühle, seine Sprache, die Gedankenfetzen, die Sina zu empfangen glaubt, alles passt zueinander. Da ist kein Gegensatz, keine Spannung, sie muss nicht auf der Hut sein. 

Selbst bei ihren Eltern hat sie so etwas nicht erlebt. Gerade bei Ihnen! Sie versuchten, Sina gegenüber Ruhe auszustrahlen, doch sie wusste sofort: Da ist Panik! Da ist Angst! Da waren… Sina konnte es nie wirklich erfassen, aber irgendwie waren da böse, furchtbar böse Fetzen von… Erinnerungen? Träumen? Sie blitzten auf, verschwanden sofort wieder und blieben unter der dicken Schicht von Sorge, Liebe, Stolz und Interesse verschüttet, die Eltern ihren Kindern gegenüber verspüren…

Sie sind nicht die ersten im Gemeinschaftsraum. Ben ist schon da, würdigt sie aber wie gewöhnlich keines Blickes. Am anderen Ende des Tisches sitzt Roswitha. Allein. Das ist allerdings eine Seltenheit. Normalerweise kreuzt die Band, also Ana, Rico, Chris, Ola und Roswitha zum Essen immer gemeinsam auf.

„Was los, Roswitha? Ärger im Paradies? Wo sind deine Buddies“ 

Betüls Hang, Offensichtliches schamlos auszusprechen ist eine wirklich praktische Sache, findet Sina. Betül erntet die bösen Blicke, alle anderen profitieren vom Ergebnis. 

Roswithas Antwort ist einleuchtend:

„Ist ein Donnerstags-Ding. Donnerstag aka Fleisch-Vize-Freitag! Zu jeder Mahlzeit nur Fleisch. Die anderen warten auf die Currywurst zum Mittag. Aber ich brauch mein Frühstücksmüsli.“

„Ana isst Currywurst?“

„Ana riecht gerne Currywurst.“

Roswitha ist groß, stämmig, trägt eine offene blonde Mähne und ist auf gewisse Weise nicht nur Oberhaupt der Fünfer-Band, sondern auch der ganzen Klasse. Roswitha strahlt eine Ruhe aus, wie sonst niemand hier unten. Wenn eine tausendjährige Eiche gechilled ist, dann ist Roswitha mega-gechilled. Außerdem sind Roswitha Pronomen absolut mega-egal. Roswitha ist kein Typ und auch kein Mädchen. Was andere damit machen, kümmert Roswitha nicht.

„Sina, was geht?“

Das beste an Roswitha ist, dass sie überhaupt keine Chef-Allüren haben. Roswitha wartet nicht etwa, bis man sich ihnen nähert. Sie quatschen einfach an, wen immer sie wollen. Und das stets freundlich und mit Respekt.

„Hey, Roswitha, grad geht nicht viel. Ist nicht meine Zeit.“

„Was in’s das für ein verknüllter Zettel? Ist das nicht die Elterninfo der Schule?“

Das stimmt tatsächlich. Es ist der Zettel, den Döpfner ihr gestern mitgegeben hat. Sina hat ihn viele Male durchgelesen. Hätten ihre Eltern ihn mit ihr besprochen, wäre vieles am Anfang einfacher gewesen. Stattdessen haben sie sie völlig planlos nach Krahenstein geschickt. 

Inzwischen ist Sina auch klar, warum sie ihre Eltern nicht erreicht. ‚Zwei Wochen Funkstille‘ steht auf dem Zettel. Um die Eingewöhnung zu erleichtern. Ziemlich altertümliche Methode! Und: Warum hat ihr dann niemand das Handy abgenommen? Haben ihre Eltern sie einfach nur geghostet? Oder blockt die Schule das Signal irgendwie?  

„Roswitha, weißt du, warum ich meine Eltern nicht erreiche?“

„Klar weiß ich das“, sagt Roswitha und wischt sich Müsli-Reste vom Mund ab. „Nimm’s einfach hin. Niemand hier meint’s böse, Sina. Und in einer Woche kann so du so viel texten und telefonieren, wie du willst.“

Sina könnte nicht einmal raten WAS Roswitha ist. Roswithas doom könnte alles sein, vom Krieger-Geist bis zum Eismonster kann Sina sich alles vorstellen. Doch in Roswithas Fall traut sie sich nicht zu fragen. Garantiert hält Roswitha sich ganz gechilled an die Regeln. 

Donnerstage sind die schlimmsten Schultage von allen, da sind Betül und Annika sich ausnahmsweise einig. Drei Doppelstunden Bio, Physik und Kunst. Darunter kein Fach bei Niederlage. Stattdessen hat die Klasse Unterricht bei den langweiligsten Lehrer*innen der Schule, plus: Zwei von ihnen sind nicht eingeweiht. Roberta Liebetruth (Kunst) und Jobst Birnbaum (Französisch und Musik) sind Nicht-Eingeweihte. Sie haben keinen blassen Schimmer, mit welcher besonderen Art Schüler*innen sie es zu tun haben. Sie kommen als Vertretungslehrer*innen vom städtischen Gymnasium Krahlheim und fahren für ihren Unterricht extra den Berg herauf nach Krahenstein. Alle anderen Lehrkräfte, darunter auch Jennifer Eisenhauer, bei der sie donnerstags die ersten beiden Stunden Bio haben, wohnen in kleinen Zimmerchen drüben im Neubau. Nach allem, was man hört, sind diese Zimmer deutlich kleiner, als die Apartments der Aliens.

„Eisenhauer is the worst!“, stöhnt Betül. 

„Nicht, wenn wir wieder Frösche sezieren dürfen“, sagt Ana und leckt sich die Lippen. 

Doch Sina weiß, dass Frau Eisenhauer eigentlich das kleinste Problem des Tages ist. Ja, Bio ist blöd. Doch Französisch ist furchtbar und Kunst…: Kunst ist einfach nur zum Kotzen. 

„Es ist langweilig, sinnlos und frustrierend“, meint Annika. Und Annika ist sonst immer die Klassenstreberin. 

Nach vier schier endlosen Bio- und Französischstunden und einem opulenten  Mittagessen sitzt die Schwarze Klasse vollgefuttert und müde oben im Kunstraum. Die Fünferbande hat quasi im Alleingang die gesamten Currywurstvorräte von Krahenstein vernichtet und selbst Roswitha, die ja schon am Morgen eine beträchtliche Portion Müsli vernichtet haben, hat eine Schneise der Verwüstung auf dem Wursttablett hinterlassen.

Selbst vor der vegetarischen Wurst und den leicht matschigen Pommes-Frites-Portionen ist niemand zurückgeschreckt und so hat die Klasse, nachdem der Tischdienst dreimal zum Nachschub-Holen in die Küche geschickt wurde, ein erschöpftes, aber glückliches Küchenteam zurückgelassen.

Frau Liebetruth unterbietet sich wieder einmal selbst in ihrer kreativen Aufgabenstellung. 

Zeichnet die Person neben euch‘ – Welch kreative und didaktisch hochwertige Aufgabe! Wie lange sie wohl am Konzept für diese Stunde gebrütet hat? Vier, fünf Stunden? Mindestens, Frau Liebetruth benötigt viele Pausen, während sie denkt.

Sie verkündet das Thema der Stunde wie einen Triumph der Kunstpädagogik und sackt im Anschluss erschöpft in sich zusammen. Ihre Arbeit für heute ist getan. 

Ben, der Narziss, kramt lustlos einen Taschenspiegel aus dem Rucksack und stellt ihn neben sich. Immer wieder aber lugt er herüber zu Emil, so als könne er sich nicht wirklich entscheiden, welches Motiv ihn mehr – oder weniger –  interessiert.

Sina, die zwischen Betül und Annika sitzt, ist ratlos, wen sie zeichnen soll und da sie einen Dreier-Tisch besetzen, treffen sie schließlich die Entscheidung, sich alle gegenseitig zu zeichnen.

Der Fünfer-Band geht es ähnlich: Ana, Chris, Rico und Ola sind sich einig, dass Roswitha das einzig infrage kommende Motiv zum Zeichnen ist, Roswitha hingegen beschließt, die ganze Gruppe abzubilden. Und weil Roswitha Zeichnen nicht besonders mag, kramen sie aus einer Ecke des Kunstraums eine riesengroße Staffelei, Leinwand und Ölfarben hervor. 

„Ich kann nur richtig oder gar nicht!“ murmeln sie mit einem gebrüllten Flüstern und beginnen sofort, die mindestens 2 x 2 Meter große Leinwand mit ausladenden Strichen zu bearbeiten. Dabei fliegen Farbkleckse durch den ganzen Klassenraum und alle anderen bauen sich kleine Bunker aus Mänteln und Taschen, um nicht vollständig vollgekleckst zu werden.

Frau Liebetruth bekommt von all dem nichts mit. Denn: Sie isst ihr Butterbrot. Eine sorgsam bereitete Roggenvollkorn-Stulle mit viel Kresse, so viel kann Sina erkennen, und viel Knoblauch, so viel kann Sina riechen. Und dann nimmt das Unglück seinen Lauf. Als sich Frau Liebetruth zum Waschbecken schleppt, um sich einen Farbklecks aus dem Gesicht zu waschen, von dem sie überhaupt nicht weiß, woher er kommen mag, wandert Liebetruths Vollkornbrot wie von einer unsichtbaren Hand getragen durch die Luft zur Klassentür. 

„Diebesgesindel!“ grollt es da aus Roswithas Richtung und ein mächtig großer Pinsel saust mit dem Stil voran in Richtung des schwebenden Butterbrotes. 

Leider gibt es ein Problem: Sina sitzt im Weg. Bzw.: Sie säße nicht im Weg, hätte Roswitha akkurat gezielt, doch das ist nicht der Fall. Sie haben viel Kraft in den Wurf gelegt und etwas zu wenig Präzision. Sina sieht das Geschoss auf sich zukommen und sie weiß, dass dies das Ende ist. Roswithas Kräfte sind unendlich groß. 

 Sinas Reflexe hingegen sind unendlich mies. Das haben hunderte von Sportstunden immer wieder und mit großer Verlässlichkeit bewiesen. 

Machs gut, du schöne, schlimme und verrückte Welt!

Und dann sitzt Sina irgendwo an einem wohl bekannten Ort. Ihr schwirrt der Kopf. Der Raum um sie herum, er dreht sich noch ein bisschen weiter, bis er schließlich ganz zur Ruhe kommt und Sina sicher ist: Es ist ihr Zimmer! Sie hat noch ihren Zeichenstift in der Hand und ihre Stirn… Etwas tropft von ihrer Stirn. Ein dünnes rotes Rinsaal. Drei, vier Tröpfchen Blut. Sina erhebt sich langsam,  ihr Kopf brummt ein wenig, und sie schaut in den Spiegel neben dem Bad: Ein kleiner Kratzer über dem linken Auge, nicht schlimm, gerade so, dass er die Haut oberflächlich verletzt hat. Was immer gerade passiert ist, es ist…

Die Tür springt auf. Eine Frau, mit roten, zerzausten Haaren und einem angebissenen Butterbrot in der Hand stürmt herein.

„Es ist ein Wunder“, ruft sie, gleichermaßen außer Atem wie kauend. „Ja, es ist tatsächlich ein verdammtes Wunder!“

Sina fällt es noch immer schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

„Du warst das gerade, oder?“

“Naja. Ja! Nein!!! Das ist es ja. Ich… Sag mal: Diese Kunstlehrerin… Wie kann man so viel Knoblauch auf ein Butterbrot streuen? Ein Zehlein hier und da. Sehr gerne! Und auch Kresse… Warum nicht? Aber da fehlt doch was! Zwei dicke Scheiben Gouda! Oder Gurke und Tomate!  Und… Die Mayonnaise! Meinst du nicht? Sina, es gibt da diese Frau, die macht dir eine Mayonnaise, davon träumst du noch drei Tage lang. Das hat mich beim Mittagessen heut schon so gewurmt: Pommes-Frites ohne Mayonnaise… Piepst bei denen…?!“

„Beffaná! Wie komme ich dann in dieses Zimmer, wenn du es nicht warst?“

„Ich weiß es nicht. Ganz ehrlich und zu meiner allergrößten Schande muss ich dir gestehen: Ich weiß es nicht. Ich war sehr mit dieser Stullen-Geschichte beschäftigt und bevor ich mich versehe, rast dieser Pinsel auf mich zu. Auf dich! Kind, das muss du überhaupt noch lernen. Diese Im-Weg-Sitzerei, die ist überhaupt das Allergefährlichste auf der ganzen Welt. Mach das nie wieder, verstehst du?“

„Aber wenn du es nicht warst, wer war’s dann?“

„Ich weiß es zwar nicht, aber so ganz allgemein würde ich sagen: Diese Klasse, in der du bist, da gibt’s so einige Kandidaten, die dazu in der Lage wären… Himmel, ja, die Klasse! Sei ein Lämmchen, Sinalein, und sag denen Bescheid, dass du nicht gestorben bist. Du weißt ja: Die eine oder andere mag sich Sorgen machen.“

Als Sina die Tür vom Kunstraum öffnet, findet sie großes Chaos vor. Roswitha steht immer noch da, von wo aus sie den Pinsel auf Beffaná abgefeuert haben, und starren in Richtung Tür. Frau Liebetruth ist auf einem Stuhl zusammengesunken und nötigt eine Reihe von Schüler*innen, ihr frische Luft zuzufächeln. Der Rest der Klasse sitzt oder steht in kleinen Grüppchen zusammen und redet wild durcheinander.

„Es geht mir gut.“, ruft Sina und sofort sind alle Augen auf sie gerichtet. Aus Roswithas Richtung rollt eine riesengroße Welle der Erleichterung auf sie zu. Sina geht zu Frau Liebetruth und hält ihr die angebissene Stulle hin.

„Von einer mir nicht näher bekannten Person soll ich ausrichten, dass da zu viel Knoblauch und Kresse und zu wenig Mayonnaise drauf ist. Und Käse könnte auch helfen. Und wenn Sie ein Rezept brauchen, dann googeln Sie nach einer gewissen Klothilde Buddenbrook. Ehrlich, keine Ahnung, wer das ist, muss irgendeine alte Geschichte sein.“

Da hilft auch alles Fächeln nicht. Frau Liebetruth sinkt in sich zusammen und fällt in eine noch tiefere Ohnmacht als damals, als Haldersleben an der Decke hing.