Mittwoch, 20. Dezember: Blaulichtgewitter

Es ist eng in Niederlages Zimmer. Es gibt ein Bett, einen Schreibtisch, ein bis obenhin vollgestopftes Bücherregal. Hinter der Wand über dem Bett sind schmale Schranktüren eingelassen und am Fenster steht neben dem Arbeitsplatz ein weiteres kleines Tischchen. Dort sitzen Sina, Annika und Niederlage um weit nach Mitternacht auf zwei Hockern sowie Niederlages Schreibtischstuhl. Beffaná ist auf die Fensterbank umgezogen. 

„Hab gehört, ihr habt Günter in die Flucht geschlagen?“, sagt Beffaná. „Das war nicht nett. Günter ist eine wirklich großartige Krähe.“

„Wir haben gar nichts gemacht“, protestiert Anika. „Ovid hat einmal böse geguckt und die Krähe ist losgeflattert, als sei sie in einen Orkan geraten.“

„Euer Pech. Jetzt habt ihr Dee als eure Kunstlehrerin. Wünsche viel Spaß!“

„Beffaná?“ Niederlage legt der Hexe eine Hand auf die Schulter. „Annika und Sina sind nicht hier, um über Günter zu reden.“

„Gut. Warum seid ihr gekommen?“

„Wir machen uns Sorgen um Betül“, sagt Annika. „Wir wollten Herrn Dr. Sieg fragen…“

„Bitte, Kinder! Jetzt nennt ihn doch endlich Niklas! Immer dieses ermüdende Gesieze! Der Junge will keinen Respekt, er will einfach nur gemocht werden! Oder?“

Niederlage wirft ihr einen vernichtenden Blick zu, nickt dann aber.

„Niklas ist okay.“ Weiterer bohrender Blick, diesmal zu Sina: „Wenn damit Herr Niederlage vom Tisch ist!“ 

„Hey, ICH hab damit nicht angefangen! Das habe ich von Beffaná Grimm gelernt! An meinem Allerersten Tag!“

„Was du nicht beweisen kannst“, sagt Beffaná. „Also, was ist mit Betül?“

„Sie verbarrikadiert sich in unserem Zimmer, weil sie Kess wieder zusammensetzen will. Sagt, dass sei so eine Art Gesellenstück für Klopfmenschen.“

„Himmel, endlich!“ ruft Niklas. „Wir dachten schon, irgendwas stimmt nicht mit ihr!“

„Wir… dachten …?“

„Es ist völlig normal, dass Klopfmenschen in Betüls Alter sich ihr Gesellenstück wählen. Eigentlich ist Betül schon verdammt spät dran. Aber gut…“ Niklas streckt sich aus, um seine Müdigkeit abzuschütteln. „Kess ist doch ein schönes Projekt. Was denkst du, Bee?“

„Ja. Jaja.“ Beffaná wird ernst. „Das mit Kess ist wirklich rätselhaft. Findet ihr nicht? Wer sollte sie zerstören wollen? Wer hätte etwas davon?“

Sina schaut auf ihre Handyuhr. Sie ist bereits todmüde und jetzt, wo sie die Weihnachtshexe endlich gefunden hat, braucht sie dringend noch viel mehr Antworten, bevor Beffaná sich wieder aus dem Staub macht.

„Beffaná! Annika soll von der Schule fliegen! Wir müssen das verhindern und brauchen deine Hilfe! Aber du bist die ganze Zeit verschwunden, sagt Niklas!“

„Der Junge konnte mich wirklich nicht finden. Ich bin vor zwei Stunden zurückgekommen. Weihnachtshexenehrenwort. Ich musste ein wenig… recherchieren.“

„Das trifft sich gut!“, ruft Sina. „Hatte das zufällig mit unserem geliebten Stifter und seinen finsteren Machenschaften zu tun?“

„Finstere Machenschaften?“

„Meine Eltern!“, ruft Sina. „Er hat sie damals besucht und sie nach meiner verschwundenen Schwester ausgefragt. Und dann ist er JAHRELANG verschwunden und taucht rein zufällig wieder auf, wen ICH an seine Schule komme?“

„Es ist nicht SEINE Schule!“, ruft Beffaná. „Okay, es WAR seine Schule. Er hat mit irgendeinem Firlefanz als Quacksalber und Schönheitschirurg riesige Massen an Geld verdient und wollte nun dringend eine Monster-Schule bauen. Ja, sorry. Seine Worte, nicht meine. Früher waren wir nicht so sensibel bei den Namen… Jedenfalls: Er hat diese Schule gegründet. Krahenstein. Auf irgendeiner alten, verlassenen Müllhalde im Nirgendwo. Genau. Hier. Hat sich eine tolle Geschichte ausgedacht, Broschüren gedruckt und reiche Alien-Eltern angelockt, damit irgendwer den ganzen Schrott auch bezahlt. Denn Mino ist vor allem eins: Geizig. War früher nicht so, ist aber immer schlimmer geworden. Er hat also diese Schule gebaut und dann die Schwarze Klasse gegründet. Und dort hat er höchstpersönlich angefangen, den Herrn Lehrer zu spielen. Weil er seinem Vater beweisen musste, wie viel besser er als Lehrer ist. Das hat aber nicht funktioniert. Mino ist ein ganz grauenhafter Lehrer! Und noch schlimmer: Die Schüler*innen, die seine Klasse absolviert haben, hat er versucht, zu irgendwelchen zwielichtigen Jobs zu überreden. Schon klar, oder? So ein Werwolf oder Poltergeist kann schon ganz praktisch sein, wenn du versuchst, Leute zu überreden, dir einen Ferrari zu schenken oder eine Yacht…“

„Und warum ist er nicht mehr der Schulleiter?“

„Weil wir ihn rausgeschmissen haben!“

„Wir?“

„Ich. Mit Hilfe von anderen. Zum Beispiel von Dee.“

„Also daher kennt ihr Euch, Frau Döpfner und du?“

„Wir kennen uns schon viel länger. Dee ist die Schwester von Mischa. Der war mein Nachbar während des Studiums. Meine Güte, ist das lange her…!

„Du hast STUDIERT?“

„Woher glaubt ihr jungen Damen kommt eine durchschnittliche Weihnachtshexe wie ich sonst an solch ein hervorragendes Ausdrucksvermögen! Meint ihr, in einem Lebkuchenhaus im Wald rumzusitzen und auf gierige Kinder zu warten, schult deinen Wortschatz und deine Grammatik? Ich kann aus eigener Anschauung sagen: Nein, das tut es nicht!“

„Wir kommen vom Thema ab, Beffaná!“

„Wo war ich? Schule, richtig. Wir haben Mino ausgebootet! Wir haben dafür gesorgt, dass Mino im Stiftungsvorstand und im Elternbeirat keine Mehrheit mehr hatte und wir haben eine waschechte Oberstudiendirektorin mit einem Jahrzehnt Erfahrung in der Schulverwaltung an seine Stelle gesetzt. Dr. Dorothea Döpfner. Die Schwester von Mischa Döpfner, meinem Kumpel von früher. 

War gar nicht einfach jemanden zu finden, die auch für die speziellen Bedürfnisse der Schwarzen Klasse ein offenes Ohr hat. Und Dorothea schien uns mit ihrem Doktor in Theaterpädagogik genau die richtige! Seitdem ist Mino einfach nur Stifter und Geldgeber von Krahenstein.“

Beffaná“, sagt Annika. Bisher hat sie nur zugehört. „Und warum hat Frau Döpfner solche Angst vor ihm? Warum hat sie kein Veto eingelegt, als er mich gekickt hat?“

Beffanás Augen werden zu schmalen Schlitzen.

„Weil das hier eine dumme Mistwelt ist! Mino darf nicht mehr unterrichten, stimmt. Und offiziell entscheiden darf er auch nichts, denn er sitzt immer noch im Vorstand, hat dort aber keine Mehrheit. Trotzdem: Er spendet immer noch sehr viel Geld in jedem Jahr. Und er ist immer noch der wertvollste Tippgeber, welche neuen Schüler*innen auf Krahenstein aufgenommen werden sollten. Vor allem kennt er jede Menge reiche Aliens, die er hier an die Schule lotst. Ohne sein Geld und das der Aliens gibts die Schwarze Klasse bald nicht mehr. Dee ist schon okay, aber sie kann die Welt nicht ändern. Und Mino Asterios Krampus erst recht nicht.“ 

„Aber es ist ungerecht! Ich gebe immer alles! Ich befolge alle Regeln! Er könnte sich gar keine bessere Schülerin wünschen!“

Beffaná rutscht von der Fensterbank herunter bis sie breitbeinig mitten auf den kleinen Tisch sitzt und umarmt Annika.

„Minos Problem ist dasselbe, das du auch hast, liebe Annika. Er versteht nicht, was an dir besonders ist. Er versteht nicht, was du in der Schwarzen Klasse zu suchen hast.“

„Aber ich weiß es! Ich brauche nur mehr Zeit und viel Geduld“, murmelt Annika.

„D-das wissen wir“, sagt Niklas. „Aber wir sind nicht das Problem.“

Inzwischen ist es halb drei Uhr morgens, und Sina fallen fast die Augen zu. Trotzdem: Beffaná hat ihre Frage zu Sinas Eltern noch nicht beantwortet::

„Warum war der Stifter damals bei Mama und Papa, als meine Schwester verschwunden ist? Und warum taucht er ausgerechnet jetzt wieder auf?“

„Das weiß ich nicht. Ehrlich. Mino ist kein guter Lehrer. Aber er hat diesen siebten Sinn für außergewöhnliche Gaben. Den hatte sein Vater schon. Deine Schwester hatte sehr wahrscheinlich, genau wie du, eine Gabe. Diese Dinge treten, wenn ein Kind sie hat, auch bei den Geschwistern auf. Solche Wesen wie deine Schwester und wie dich, wie alle anderen hier in der family, konnte Mino aufspüren wie kein Zweiter. Ich kenne das ganze Geheimnis nicht, aber was immer dahinter steckt: Mino ist selbstsüchtig, arrogant, geizig und manchmal auch grausam. Aber Wesen wie deiner Schwester würde er nie etwas antun. Sie sind viel zu wertvoll für ihn. So. Genug Antworten für heute.“

„Du hättest mir sagen müssen, dass du für meine Eltern spionierst, Beffaná.“

„Dann wär’ ich aber keine Topspionin, Liebes. Dann wär ich wirklich lausig in meinem Job. Und jetzt“, sagt Beffaná, „müssen wir alle dringend ins Bett! Gleich fängt die Schule an, und ich hab gehört, ihr Armen schreibt übermorgen noch eine Mathearbeit? Wärst du jemals so grausam, Niklas?“

Doch Niklas ist längst auf seinem Schreibtischstuhl eingeschlafen. Er lässt sich nicht einmal wecken, als sie ihn zur Seite schieben, um aus dem Zimmer zu kommen.

„Psst, stopp!“ flüstert Beffaná, „Wo schlaft ihr denn jetzt?“

Sie kickt einige Male erfolglos gegen Niklas’ Bein, ohne dass er aufwacht. 

„Ich glaube, Mädchen, hier ist gerade ein Bett freigeworden.“

Als Niklas die Mädchen morgens um halb sieben mit leichter Panik in den Augen wachrüttelt, dauert es lange, bis Sina sich zurechtgefunden hat. Ihr Lehrer ist derart besorgt, dass sie auf dem Weg aus seinem Zimmer erwischt werden, dass Sina zu ihrer ersten fliegenden Fahrradtour kommt. Sie und Annika müssen am offenen Fenster warten, bis Niklas sie mit seinem Fahrrad abholt und oben am Fenster des Altbautürmchens absetzt.

„Ist das nicht ziemlich gefährlich?“, ruft Sina, als sie auf dem Weg dorthin auf der Vorderstange balancierend 20 Meter nach unten schaut.

„Nur wenn ihr herunterfallt!“, ruft Niklas. „Ich kann nämlich nicht zaubern, fyi (FÜR DIE VORLESERIN: Englisch ausgesprochen: „eff why eye“).

Völlig durchgefroren schleichen sie schließlich ins Zimmer der Musketiere. Alles sieht genauso aus wie gestern. Selbst Betüls Position auf dem Fußboden scheint sich kaum geändert zu haben.

Als sie sie ansprechen zeigt Betül stumm auf das Ergebnis ihrer Arbeit. Ein etwa 50cm mal 50 cm großes Stück von Kess: Das Hinterteil und die sitzenden Hinterbeine. 

„Alles gut.“

Stimmt nicht, denkt Sina. Zwischen Betüls Beinen und der Brust fehlt einfach alles. Und der Rest ist stark verblasst.

„Alles gut“, sagt Betül. „Lasst mich arbeiten. Last mich bitte einfach arbeiten.“

Die erste Stunde Werte und Normen bei Döpfner ist das Fegefeuer, die zweite Stunde Mathe bei Denninghoff ist die Hölle. Sina nickt immer wieder ein und als Frau Denninghoff sie ungefragt an die Tafel bittet, versucht Sina quälend-unendliche zwei Minuten lang telepathisch mit Annika Kontakt aufzunehmen, um einen Tipp zu bekommen. Sie spürt zwar Annikas Konzentration, aber leider purzeln nirgends auf magische Weise Zahlen und Lösungswege aus ihr heraus. 

„Triangulation!“, stöhnt Annika frustriert, als Sina mit hängenden Ohren auf ihrem Platz zusammensinkt. 

Plötzlich hat sie Odette in ihrem Kopf:

„Schneller denken, Sina! Schon mal über Gruppenarbeit nachgedacht?“

‚Stimmt…‘, denkt sie. ‚Ich hätte Odette anpingen können…, die liest Annikas Gedanken…, schickt das dann an mich zurück… und…‘

Doch bevor sie den Plan fürs nächste Mal verfeinern kann, ist sie auch schon eingedöst.

  Und dann… Wird’s laut!

Keine intern-magisch-super-seltsamen Alarmsirenen, kein sich drehender Raum und keine durch die Schule gewirbelte Sina, sondern: Stinknormales Tatüü-tataa vom Innenhof der Schule. Lautes Tatüü-tataa. Wie von Feuerwehr oder Krankenwagen.

„Was zum Teufel!“, ruft Frau Denninghoff. 

„Es wäre“, haucht es da leise aus einer ungewöhnlichen Ecke der Klasse, „zur Gewährleistung der Sicherheit der Schüler*innen das Beste, wenn wir – Pause – uns – Pause – dem Notfallplan entsprechend zum Sammelpunkt begeben. Denke – Pause – ich.“

Ben. Natürlich! Er hat Recht. Das muss auch ihre Mathelehrerin einsehen und noch bevor sie die Situation vollständig erfasst hat, ist Ben zur Tür geeilt und weißt die Klasse an, sich in Zweierreihen aufzustellen.

„Ich – Pause – denke, sie sollten vorangehen und ich – Pause – mache den Abschluss. Schnell jetzt!“

Am Sammelpunkt im Innenhof hat sich bereits die halbe Schule versammelt. Die Aliens, die teilweise ohne Mantel in die Kälte gezwungen wurden, blinzeln missmutig in die Wintersonne, so als ob sie gerade erkunden, wen man für diese Zumutung wohl verklagen könnte. Vor ihnen zwischen den Bäumen und Bänken stehen drei Rettungswagen mit aktiviertem Blaulicht und laufender Sirene. Ein Mann in Sanitäterkluft und Megafon in der Hand hat sich auf eine Bank gestellt und als er die Mitglieder der Family aus dem Altbau kommen sieht, lacht er kurz, hebt den Daumen und beginnt zu sprechen:    

„Sorry Leute! Falscher Alarm! Ich weiß, wir kommen in Teufels Küche! Sorry! Sorry!

Ich bin Sören aus der Facebook-Gruppe ‚Rettungssanitäter-Und-Stolz-Darauf!‘ Und wir kommen, um unseren Kumpel Ben abzuholen. Er packt das sonst nie hier abzuhauen, und, Leute, Ben gehört nicht in ein Internat. Ben gehört zu uns, in die Ausbildung zum Rettungssanitäter!“

Und während Sören den verschämt lächelnden Ben in eins der Autos winkt, greift er noch einmal zum Megafon:

„Wenn auch ihr neugierig auf die rund 520-stündige Ausbildung zum Rettungssanitäter oder die zwei- bis dreijährige Ausbildung zum Notfallsanitäter seit, dann googelt einfach mal, ob’s was für Euch ist! Wir brauchen euch! Und: Will ja nicht jede jahrelang in `nem Internat rumhocken, oder?“ 

Und mit abgeschalteter Sirene fahren Sören, Ben und die anderen Mitglieder der Facebook-Gruppe ‚Rettungssanitäter-Und-Stolz-Darauf!‘ den Berg hinunter zu ihren jeweiligen Dienstorten. Denn natürlich war es total unprofessionell, dringend benötigte Rettungsmittel für einen solchen Stunt zu missbrauchen!

Sowas macht man nur ganz selten und nur in wirklich dringenden Notfällen.