Donnerstag, 14. Dezember: Quereinsteiger

Als Beffaná und Sina mitten in der Nacht auf dem Dachfirst neben dem Turm der Schule landen, sind sie nicht allein. Sina bekommt einen fürchterlichen Schreck: Vor ihr, neben dem offenen Fenster zum Türmchen, hockt jemand und starrt sie mit roten Augen an.

„Sina! Achtung, mach nicht dein…“ zischt jemand, doch da ist es bereits zu spät. Sie hat ihr Handy herausgeholt und die Taschenlampe auf die Person gerichtet.

„Chrrrrr!“, faucht die Erscheinung und macht einen großen Satz zur anderen Seite des Türmchens.

„Chris! Gehts dir gut?!“ 

Sina erkennt sofort Anas Stimme.

„Ana?“

„Sina! Ich hatte schon Sorge… Wer ist da bei dir?“

„Wir sehen uns“, flüstert Beffaná. „Scheint eine Art Klassenmeeting zu sein. Nichts für alte Schachteln wie mich.“ Sie gleitet zusammen mit dem Besen durch das Fenster und ist verschwunden.

„War das die Hexe?“

„Das war Beffaná, ja. Wo bist du denn? Ist ganz schön dunkel hier oben!“

„Du schaffst es echt, jeden Tag Thema Nr. 1 in der Klasse zu sein!“

„Vor allem bin ich viel zu häufig unten bei Döpfner. Aber ich versprech Dir: Ich bin ein Opfer der Umstände! Ich kann nichts dafür! Ich seh dich immer noch nicht, Ana!“

„Äh… hier.“ Ana ist mit ihren Gedanken schon wieder woanders.

„Was ist hier los, Ana?“

„Wir passen auf Chris auf.“

Jetzt erkennt sie Ana. Und da sind noch mehr. Wie an einer Schnur gezogen sitzen sie zu viert auf dem Giebel des Daches. Sina sieht Ana, Rico, Roswitha und Ola. Und Chris, der sich hinter das Türmchen verzogen hat. Die ganze Roswitha-Gang ist oben auf dem Dach versammelt.

„Mach endlich das Handy aus“, flüstert Ola. „Er verträgt das nicht.“

„Was ist hier los?“

„Notfall“, sagt Ana. „Döpfner hat Scheiße gebaut. Es gibt keine Ersatzprodukte mehr.“

Langsam dämmert Sina, was passiert sein könnte. Hat Döpfner im Stress der letzten Tage vergessen, dass „Essen“ (oder was immer es ist) zu besorgen, das einige in der Klasse brauchen? Ana, die Zombie, benötigt Ersatzprodukte. Und Becca, die Ghula, auch. 

„Ihr habt gar nichts mehr zu essen?“

„Ich bin nicht das Problem. Ich… finde immer was.“

Vorsichtig balanciert Ana auf Sina zu und hockt sich neben sie. 

Schau!“ Ana hält ein Handtuch hoch, in das etwa Faustgroßes eingewickelt ist. Aus dem Handtuch schaut ein Strohhalm heraus.

„Die Ochsenfrösche, die wir in Bio seziert haben, weiß du noch? Gute Hirnmasse.“

Sina wird übel.

„Sinchen! Come on! Das hier ist Reality, nicht Elfen-Zauberschaum-Wunderland! Soll ich weiterreden?“

Sina nickt: „Was ist mit Chris?“

„Ihn hat’s schlimmer getroffen. Er braucht nur alle paar Wochen was. Dann aber richtig. Er ist heftig cold-turkey, verstehst du?“

„Nee.“ Sina senkt den Kopf und wispert:

„Was braucht er denn?“

„Blut, Sina. Literweise Menschenblut.“

„Er ist also…?“

„Ich kann euch hören, Leute!“, zischt Chris mit seltsam veränderter Stimme aus dem Schatten des Turms zu ihnen hinüber. „Vampir, ja. Hast du ein Problem damit?“

„Er hört alles“, sagt Ana. „Geschärfte Sinne und so.“

„Es gab schon eine Sammelaktion“, ruft Rico. „Aber das Ding ist, dass die meisten von uns zu wenig menschlich sind. Annika hat gespendet, Emil, und ich.“ 

Rico hebt einen notdürftig verbundenen Arm in den noch dunklen Morgenhimmel.“

„Aus Emil kommt nur fast nix raus“, sagt Ana. „Und Annika und Rico haben zwar getan, was sie konnten. Aber’n bisschen brauchen sie ja noch selbst. Das reicht alles nicht lange.“

„Ich hätt noch mehr gekonnt, ihr habt mich nur nicht gelassen!“, ruft Rico vom Dachfirst herüber, kippt dabei aber fast zur Seite.“

„Klar Junge“, brummt Roswitha. „Und dann kann Ola dich gleich unten vom Pflaster lecken, weil du uns vom Dach fällst…“

„Sowas mach ich nur bei Vollmond“, sagt Ola beleidigt. „Bei richtigem Vollmond.“

„Soll ich auch noch…?“, fragt Sina. 

Rowitha schüttelt den Kopf. 

„Chris hat schon ein Klassen-Ranking gemacht. Du bist weit unter dem Strich.“

„Weit unter…?“

„Weit unter dem Geht-gerade-noch-als-Mensch-durch-Strich. Willkommen im Club.“

Sina schluckt. 

Unter dem Strich?

Sie dürfte nicht überrascht sein. Der Besuch in Niederlages altem Zuhause und das anschließende Gespräch mit Stunk, dem Bettenmonster, waren in diesem Punkt sehr… ernüchternd. Was hatte sie eigentlich erwartet? Sie nennen es schließlich doom. Nicht: Tolle Chance. Nicht: Berufung. Nicht mal einfach: Schicksal. 

Allein schon der Name! Stunk sagt, Bettenmonster hat sich eben eingebürgert. Immer noch besser als Kinderschreck oder Gruseldingsi. Das Ganze wäre einfach nur zum Lachen, wären da nicht die Stellen an Sinas Körper, der Verlust ihrer Sehkraft… Stunk sagt, das alles ist normal. Auch das Schlafwandeln. 

„Es ist nur eine Vorbereitung“, hat er ihr gesagt. „Du suchst dir deinen Platz nicht aus. Dein Instinkt wird dich im Schlaf leiten. Wenn du erst mal unsichtbar bist, dann wirst du anfangen zu wandern. Tage, Wochen, Monate. Das ist normal bei Bettenmonstern. Du wirst es einfach wissen, wenn du deinen Ort gefunden hast.“

Und Ovid sagt, sein doom sei lächerlich? Wir sollten einen Club gründen! Den Club der Idioten-Monster!

Sina weiß nicht einmal, warum sie zurück zur Schule gekommen ist. Was soll das bringen? Sina wird mit Betül und Ovid darüber sprechen. Bei Annika ist es anders, die ist so lernversessen, sie wird glücklich hier auf Krahenstein… Falls sie die Sonntagsmeetings übersteht! Vielleicht ist es bei ihr ja wie bei Sina oder Ovid! Einfach zu lächerlich! Vielleicht wird sie zu Nessie von Loch Ness! Oder zu einer dieser gruseligen Aufblaspuppen, die vor Autohäusern herumstehen und winken. 

Keine Ahnung. Sie sagts ja nicht…

Sina schüttelt sich kurz. Focus, Sina! Sie sitzt immer noch auf dem Dach, zusammen mit der Fünferbande, die sich total süß, aber auch ziemlich lost um Chris kümmert. Was für ein Totalversagen von der dummen Döpfner! Scheint sie ganz schön mitgenommen zu haben, die ganze Aufregung der letzten Tage. Dass sie so etwas wichtiges wie die Nahrungsersatzprodukte für die Schwarze Klasse vergessen konnte! Soll sie ihnen noch einmal was von Disziplin und Pflichterfüllung erzählen! 

Als wäre das alles jetzt noch wichtig.

Sina verabschiedet sich von der Fünferbande und klettert zurück in die Schule.

Im Gemeinschaftsraum ist noch (oder schon wieder?) Licht. Es ist fünf Uhr morgens.

‚Zum Glück bin ich eben nicht vor Schreck vom Dach gefallen, als Ana gerufen hat‘, denkt sie und schaut, ob noch jemand am großen Tisch sitzt. Es ist fast die halbe Klasse. Betül, Annika, Ovid, Hannes und Emil haben die Stühle um Becca zusammengeschoben und sich jede Menge Decken aus ihren Zimmern geholt. Becca raucht.

Emil und Annika schlafen fest unter ihren Decken, Betül Hannes und Ovid unterhalten sich flüsternd mit Becca. 

„Wo warst du so lange?“, fragt Ovid, und Sina freut sich ein bisschen, weil es besorgt und nicht vorwurfsvoll klingt. 

„Hab Weihnachtshexenkram erledigt. War… interessant. Warum ist Becca nicht in ihrem Zimmer?“

„Habs nicht ertragen, allein zu sein. Emil hat mir aufgeschlossen“. Sie zeigt auf den tief schlafenden Heinzelmann. 

„Außerdem ist Odette wirklich… furchtbar heute. Ich brauch…“, sie hält ihre Zigarette hoch, „das hier. Dringend.“

Stimmt. Im Zimmer würde es schnell auffallen und der Panikraum hat keine Fenster. Hier dagegen gibt es das breite Fenster knapp unter der Zimmerdecke, das zu einem Lüftungsgitter führt.

„Du hättest Bescheid sagen können“, sagt Betül.

Was? Wer? Ich? Aber…

Sina weiß: Das hätte sie tatsächlich. Betül hat recht. 

Betül sagt immer Bescheid. Sie mag nicht die Beste in der Schule sein, aber sie ist die Beste im Freundin sein. Wenn man sie lässt. Betül ist immer genau da, wo man sie erwartet. Betül sagt Bescheid, wenn sie weggeht und kommt genau zu dem Zeitpunkt zurück, wie sie es vorher angekündigt hat. Betül hört immer zu und lässt sich immer überreden, mehr zu erzählen als sie darf, wenn Sina sie nur dringend bittet. 

Betül ist loyal. Dabei kennt Sina sie erst seit zwei Wochen. Betül hat sie bereits aufgefangen, als sie am Vertretungsplan in die Tiefe gefallen ist und Betül hat ihr alles über Krahnenstein erzählt, als Niederlage sie darum gebeten hat. Sina dagegen…

‚Bei Licht betrachtet bin ich eine absolut miese Freundin‘, denkt Sina. ‚Immer ist alles andere wichtiger. Ich hab nie gefragt, wie es Betül geht.‘ Sie denkt nach. ‚Ja. Stimmt tatsächlich.‘ 

Sina geht zu Betül und drückt sie fest.

„Ich hätte Bescheid sagen können, du hast Recht. Sorry.“

Betül schlägt  ihr auf den Rücken. 

„Ja, genau! Aber: Musketiere halten sowas aus. Solange du mir nicht die große Liebe ausspannst…“ Sie stockt. Sina schluckt. Betül schaut fast trotzig in ihre Richtung. Sie beide wissen, dass das nie passieren wird. Ihr doom ist nicht darauf darauf ausgelegt, eine große Liebe zu haben. 

Oder?

Schnell dreht Sina sich zu Becca. 

„Und wie siehts aus? Dufte ich schon nach Wiener Schnitzel und Panade?“

Becca zieht an ihrer Zigarette. 

„Ey, du hast keine Ahnung! Wenn dich jemand auf einen Teller mit Pommes und Mayo legt, ich glaube ich tick aus! Aber gleich wird’s hell, dann wird es besser.“ 

In Bio und Französisch hängt die Klasse derart durch, dass Herr Birnbaum nach der dritten Stunde aufgibt und einen Film über den musikalischen Impressionismus zeigt. Roswitha schnarcht so laut, dass Birnbaum schließlich Chris und Rico bittet, sie aus dem Klassenraum zu tragen, was wiederum dazu führt, dass Rico, der breit ist wie ein Gabelstapler, unter der Last zusammenbricht. 

„Der hat mindestens einen Liter gespendet letzte Nacht“, wispert Ana, „Wir sollten ihn ins Krankenzimmer schaffen!“

Da auch Jobst Birnbaum nicht eingeweiht ist, erzählt Chris ihm irgendeine wilde Geschichte über Ricos Blutfaktor-X-Men-Mangel und bekommt schließlich die Erlaubnis, Roswitha mit Hilfe von Ola und Ana ins Schlafzimmer zu schaffen und anschließend Rico hoch ins Krankenzimmer zu begleiten.

Die Klasse ist also deutlich kleiner geworden, als das Mittagessen vorbei ist und der Kunstunterricht beginnt. Alle sind sie ein bisschen gespannt, welche Art von Ersatz Frau Dr. Döpfner für die verohnmachtete (sic! – für die Erzählerin) Frau Liebetruth besorgt hat. 

Als Döpfner in die Klasse kommt, hat sie einen schmalen, dunkelhaarigen Typen mitgebracht und… einen Vogel. Der Mann hat schmale, graue Augen mit ungewöhnlich langen Wimpern. Sina spürt Konzentration, Wachsamkeit, eine gut verborgene Prise Herablassung, vielleicht auch Stolz…

„Jeder hier sollte stolz sein“, sagt der Mann, kurz schweift sein Blick über Sina hinweg, dann spürt sie ihn nicht mehr. Einen kurzen Augenblick verzieht sich der Mund des Mannes zu einem Lächeln. 

„Stolz auf das, was wir alle sind. Wir sind keine Freaks, keine Monster, und wir sollten aufhören, uns selbst so zu nennen. Ich sehe ein Klasse junger Menschen vor mir“,… „junger Wesen“, verbessert er sich, „und wir sollten alle stolz darauf sein, zu einer ausgewählten Gruppe zu gehören.“

Dann hält er inne und plötzlich hört Sina eine Stimme in ihrem Kopf:

„Schau an! Ich hätte nicht erwartet, heute jemanden wie dich zu anzutreffen! Willkommen, willkommen… Sina!“

„Liebe Leute, darf ich euch jemanden vorstellen?“ 

Döpfner lächelt etwas gezwungen dem Mann neben ihr zu und bemüht sich um einen herzlichen Ton, den wirklich nur sie so schlecht imitieren kann. Denn Dorothea Döpfner ist vieles. Herzlich ist sie nicht.

Minotaurus Asterios Krampus, der Stifter und treue Unterstützer von Krahenstein und insbesondere natürlich der Gründer der Inklusionsklasse!“

„Sagen wir nicht mehr ‚Schwarze Klasse‘? Mein Vater  hätte ‚Schwarze Klasse‘ mit Sicherheit bevorzugt!“ Der Mann lächelt in die Klasse.

„Aber ich möchte euren Unterricht gar nicht weiter stören. Ich habe eure liebe Frau Döpfner gebeten, im Schlaftrakt bei Euch übernachten zu dürfen. Denn drüben bei, ihr wisst schon, den Aliens, halte ich des nie sehr lange aus. Wir sehen uns, Klasse!“

Er nickt Döpfner zu und verlässt mit leichten Schritten, fast lautlos, den Raum.

Döpfner streckt sich, fast sieht man sie aufatmen, dass der Stifter außer Hörweite ist und redet weiter:

„Im Zuge einer schrittweisen Neuaufstellung unseres pädagogischen Konzepts, möchte ich euch auch eure neue Lehrkraft für das Fach Kunst und Gestaltung vorstellen. Wir haben beschlossen, deutlich weniger auf Nicht-Eingeweihte Lehrkräfte zu setzten und da Fachkräfte rar sind, freue ich mich umso mehr, eine, wenn auch nicht-menschliche, Kraft für diese Aufgabe gewonnen zu haben. 

Tritt ein wenig hervor, dann sehen dich alle besser! Heißt alle bitte Günter herzlich Willkommen!“

Mit diesen Worten hopst der Vogel, eine zerzauste, schwarze Krähe, bis an die vordere Kante des Lehrer*innen-Pults und beugt kurz den Schnabel nach unten. Dann beginnt er zu sprechen:

„Schön, Euch kennenzulernen, Klasse! Meinen Namen kennt ihr bereits. Günter. Nach Volontariat und Studium der Journalistik an der Hochschule für Angewandte interkulturelle Regionalgeschichte, Stemwede – Oppenwehe – Rahden, habe ich ein Aufbauseminar für Kunst- und Textilgestaltung absolviert und bin damit qualifizierter Quereinsteiger für das landesweite Programm ‚Machs nicht schwerer, werde Lehrer’!  Außerdem bin ich ein guter Kumpel von Dee hier…“ Er weist auf Döpfner, „Und sie meinte, meine Vorgängerin sei eine solche Trantüte gewesen, das könne auch ihre Oma besser!“

„Ich sagte Putzkraft“, murmelt Döpfner, „Meine Oma ist tot.“

„Was auch immer“, krächzt Günter. „Gibt es irgendwelche Fragen?“

Hinten tuschelt Hannes mit Ovid. Dann meldet er sich.

„Mein Kumpel hier fragt sich nur, ob es – jetzt mal rein theoretisch – ein größeres Problem darstellt, sollte das doom eines der hier anwesenden Schüler*innen zufällig mit der Vertreibung von Vögeln im Zusammenhang stehen?“

Günter blickt Hannes scharf an, der nickt mit dem Kopf zur Seite und zeigt auf Ovid. Ovid grinst und macht einmal ganz kurz: „Buh!“

Es dauert fünf, maximal zehn Minuten, da hat sich die Lage wieder beruhigt. Döpfner hat ihre Haare geordnet, die Klassentür wieder geschlossen und sich alle schwarzen Federn aus dem Kostüm gewischt. Dann strahlt sie die Klasse mit einem bleiernen Lächeln an: 

„Wie auch immer: Ich bin eure neue Kunstlehrerin. Hat jemand ein Problem damit? Wer kann mir den Unterschied zwischen rot und blau erklären?“