Freitag, 15. Dezember: Ein Verhör und ein Geständnis
12Schön dass Du endlich da bist.
„Sina!“
Ich freue mich, Dich kennenzulernen.
„Siiiiina!“
Das ist doch eine Chance!
„Siiinalein! Siiiiinchen!“
Vielleicht unsere einzige. Die einzige, Sina! Was meinst du? Sag doch was!
„SINA! Aufwachen!“
„Was ist passiert?“
Über Sina lehnt Annika. Sie fuchtelt mit den Armen.
„Geh weg, Betül. Sie ist wach. Kein Wasser.“
„Bist du sicher? Schade.“
Betüls Stimme. Geräusche am Waschbecken. Wenig später ein zweites paar Hände über Sina, Wassertropfen, viele Wassertropfen.
„Ein paar Spritzer schaden nicht, Hoch mit dir.“
Betül steht mit verschränkten Armen vor Sina. Ein paarmal zuckt sie mit der Hand zur Seite und spritzt Annika nass, die neben ihr steht.
„Haha. Lustig. Sina, bist du bei uns?“
Ja, das ist sie. Langsam kommt die Erinnerung zurück. An gestern Abend. Wie sie mit einem mulmigen Gefühl ihr Handy ausgeschaltet hat. Aber auch mit der Aussicht: Heute Nacht schlafe ich durch. Warum bekämpfen, was unausweichlich ist?
„Wie spät ist es?“
„Gleich acht. Wenn du noch frühstücken willst, dann ruckizucki.“
Im Bad traut sich Sina kaum in den Spiegel zu schauen.
Lass es nicht im Gesicht sein! Bitte noch nicht im Gesicht!
Es ist im Gesicht. Das erste Mal, dass Sina eine unsichtbare Stelle im Gesicht hat. Sie ist sehr klein, zwischen ihrem rechten Nasenflügel und ihrer Oberlippe. Eigentlich sähe es sogar ganz hübsch aus, fast wie ein winziges, rundes Muttermal, wenn da nicht diese Gewissheit wäre: Es „fehlen“, nicht nur ein paar Millimeter. Es fehlen auch die 20, 30 Zentimeter Kopf dahinter. Sina winkt hinter ihrem Hinterkopf und sieht die schnell wechselnden Schatten durch das Millimetergroße Loch.
Als hätte mir jemand mit einer feinen Stricknadel durch’s Gesicht gestochen.
Nur ohne das Blut. Und den Schmerz. Und ich wäre sicher tot und so… Whatever.
Sina hat von Kess geträumt. Die Sphinx stand irgendwo im Sand herum, wahrscheinlich in Ägypten oder wo auch immer Sphinxen so herumstehen und Sina hat mit einem megacoolen Schwert gegen irgendwas gekämpft, das sich der Sphinx genähert hat. Käfer? Tote Pharaonen? Außerirdische? Sina weiß es nicht mehr. Sie weiß nur: Sie musste das dusselige Ding beschützen und dann ging’s trotzdem kaputt. Es floss literweise Blut heraus und Chris und Ola standen neben Kess am Rand und haben das Blut aufgeleckt.
„Damit’s nicht einfach versickert“, sagte Chris und Ola stand ungläubig daneben, zeigte immer wieder zum Himmel und rief: „Und das bei Neumond, Leute, ich fass es nicht! Aber lecker ist es schon!“
„Träume sind Schäume“, sagt Roswitha und schlürfen ihr Müsli zu Ende. „Es sei denn, es sind keine Träume, sondern versteckte Botschaften und Prophezeiungen, aber das ist nicht dein doom, oder?“
Sie sitzen zu dritt vor dem Büro der Direktorin. Nur dass nicht Frau Döpfner auf sie wartet, sondern der Stifter. Minotaurus Asterios Krampus. Eine von ihnen ist bereits drin, Odette. Die anderen sind Roswitha, Charlie und Sina.
„Mein doom?“, fragt Sina. „Tjaaaaa: Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins… Ist es nicht so? Einfach zu viele Regeln in dem Schuppen hier.“
„Es ist Teil meines dooms, nichts von meinem doom zu erzählen“, sagt Roswitha. „Praktisch, oder? Stimmt wirklich, frag Niederlage. Möchtest du was von meinem Ei-Brot? Du hattest nix zum Frühstück, oder?“
„Urg, nee danke. Ich hätte gerne etwas Tee, aber das hier war ja wichtiger als Frühstück und Englisch-Unterricht.“
Das hier, also der Grund, warum die vier Schüler*innen kurz vor Beginn der ersten Stunde vor Döpfners Büro aufschlagen mussten, hat irgendwas mit dem Erpresser*innenbrief zu tun, den die Schule letzte Woche bekommen hat.
Das hier ist aber auch ziemlich praktisch. Jede verpasste Niederlage-Stunde ist eine Stunde ohne gestammelte Entschuldigung. Ja, irgendwann muss sie das durchziehen, aber sie hat es echt nicht eilig.
Döpfner hat nichts weiter gesagt, warum genau Odette, Roswitha, Charlie und Sina beim Stifter vortanzen müssen, aber ausgerechnet die kleine Odette hat eine einleuchtende Theorie:
„Was haben wir vier gemeinsam? Ist doch klar. Wir haben mentale Fähigkeiten. War er bei Euch gestern … auch in den Köpfen?“
Ach? Sina war also nicht die einzige, mit der der Stifter gestern während der Kunststunde telepa…tisiert hat. Sagt man das so? Was er wohl zu Odette gesagt hat? Sie überlegt. Aber dass er in ihren Köpfen war, heißt noch lange nicht, dass sie selbst so etwas auch können. Oder? Bei Odette und ihr ist die Sache mit dem Gedankenlesen klar. Aber Charlie? Und Roswitha?
„Ja Sina, sie können es beide.“
„Geh aus meinem Kopf raus, Odette!“
„Dann denk schneller, Sina, echt jetzt! Warum hat deine Hexe Dienstag auf dem Sportfeld wohl Charlie gebeten, ihr mit den Aliens zu helfen? Und vorher hat sie mit Roswitha gesprochen.“
Das stimmt. Sina war bei dem Gespräch dabei, als Döpfner sich bei Beffaná darüber beschwert hat, dass sie Charlie ausgewählt hat, um die Erinnerungen der Aliens zu löschen. Nicht Roswitha. Odette hat recht! Sie alle vier können bestimmte Dinge in den Gedanken oder Gefühlen von anderen lesen. Odette ist darin noch viel besser als Sina. Sie kann sich mit Odette sogar telepathisch unterhalten! Außer gestern beim Stifter hat das noch nie funktioniert.
Wie es bei den anderen ist, kann Sina nicht einschätzen. Wenn Roswitha und Charlie sogar Erinnerungen verändern können, müssen sie ziemlich gut sein. Und sie können die Sache offenbar gut kontrollieren. Sowohl Roswitha als auch auch Charlie sind eine ziemliche black box. Von Charlie empfängt sie nie etwas, von Roswitha nur ganz selten. Wie beispielsweise damals im Kunstraum, als Roswitha sie fast mit dem Pinsel abgeschossen hat und total erleichtert war, als Sina völlig gesund wieder aufgetaucht ist.
Warum nicht einfach fragen?
„Roswitha, kannst du Gedanken lesen?“
„Es ist Teil meines dooms, anderen nichts davon zu erzählen, was ich kann und was ich nicht kann. Frag Niederlage. Am Sonntag. Im Normalzeit-Break.“
„Ey, Roswitha! Du bist schlimmer als `ne Mailbox! ‚Die von Ihnen gewählte Nummer ist nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal‘ !“
„Roswitha stellt die Müsli-Schalte zur Seite und legt sich eine von den Krahenstein-Broschüren aufs Gesicht, die vor Döpfners Büro auf dem Tischchen herumliegen.
„Chill mal, Sina. Chill.“
„Sina, du bist dran.“
Charlie steht vor Döpfners Bürotür. Sie grinsen die anderen an und verschwinden in Richtung Klasse.
Der Stifter hat das Büro verdunkelt. Er sitzt an Döpfners Schreibtisch und bittet Sina mit einer Handbewegung, am Konferenztisch Platz zu nehmen.
„Was hältst du von Charlie?“, fragt er, noch bevor sie sitzt.
„Weiß nicht. Ich kenne Charlie kaum. Sie sind Außenseiter in der Klasse.“
„Das weiß ich alles. Ich will wissen, was du von ihnen hältst. Leute bilden sich eine Meinung, noch bevor sie jemandem die Hand geschüttelt haben. Das ist zwar nicht sehr höflich, aber es ist die Wahrheit. Wer etwas anderes sagt, ist naiv. Oder lügt. Meistens lügen sie.“
„Ich, ähm, ich halte sie für schwierig. Nicht gerade sympathisch. Ein bisschen unheimlich.“
„Schon besser. Kennst du Charlies doom?“
„Nein. Kennen Sie’s?“
„Ja. Sie haben’s mir nicht gesagt, aber es ist ziemlich offensichtlich.“
„Und?“
„Ich bin erstaunt. Du wirst als zurückhaltend beschrieben. Eher angepasst. Dafür scheinst du mir sehr direkt. Fast unhöflich. Ich bin der Stifter von Krahenstein, nicht wahr? Ja, die Aliens zahlen viel Geld, doch ohne mich gäb es das alles hier nicht. Du könntest freundlicher sein, kleine Sina.“
„Versteh ich nicht. Was hab ich Schlimmes gesagt? Und… ich bin nicht klein.“
„Sina, du hast gar nichts gesagt. Niemand hat etwas gesagt in den letzten Minuten.“
Sina schaut auf den Mann im Halbdunkel hinter Döpfners Schreibtisch. Er hat recht. Er ist in ihrem Kopf.
„Und du in meinem, Sina. Nur so funktioniert es. Was haben wir früher geübt, damit wir reden können, ohne die geheimen Gedanken des anderen zu lesen.“
„Wir?“
„Ich und Beffaná“
„Sie kennen die Weihnachtshexe?“
„Ohne mich gäb es die Weihnachtshexe nicht! Ich und mein Vater, wir haben sie… geformt. Aber das ist eine andere Geschichte, Sina. Wege trennen sich irgendwann. Die eine wird Weihnachtshexe, der andere geht in die Bildung. Meine Familie hatte schon immer… eine ausgeprägte pädagogische Ader. Mein Vater hat es gründlich gemacht, hat einen nach der anderen ausgebildet. Ich schaue eher auf das Große und Ganze. Ich hab gleich eine ganze Schule gegründet.“
„Wie gut kennen sie Beffaná?“
„Eine ANDERE Geschichte, Sina. Ja, kram nur in meinem Kopf herum. So gut bist du nicht, Liebes.“
Ist das ein Lächeln da in Halbdunkel?
„Ich habe dich wegen anderer Angelegenheiten kommen lassen. Was weißt du über die Erpressung?
„Gar nichts. Hab ich Döpfner auch schon gesagt.“
„Aber es kann ja sein, dass du irgend etwas, wie nennst du es, empfangen hast? Darf ich mal nachsehen?“
„Was…? Ich… verstehe…NEIN!“
Es ist unangenehm, wenn man merkt, dass jemand so gut in etwas ist, dass man überhaupt keine Chance hat, sie oder ihn darin zu übertreffen. Irgendwann, nach einigen lächerlichen Versuchen, fängst du an, es zu akzeptieren oder Ausreden zu erfinden warum man gar keine Chancen haben kann.
Es gibt aber auch die Situationen, in denen jemand so gut in etwas ist, dass es dich einfach umhaut. In denen du gar nicht erst probierst, so gut zu werden. Wenn zum Beispiel eins dieser Mathe- oder Klavier-Wunderkinder auf YouTube etwas vorträgt, das so beeindruckend ist, dass da auch ein Alien (und zwar ein echter, keine dieser Neubaubewohner*innen von Gegenüber) stehen könnte. Du versuchst gar nicht erst, so gut zu werden.
Und dann sind da die Situationen, in denen das, was dieses überlegene Gegenüber tut, persönlich ist. Da geht es nicht um ein Klavierspiel oder ein Mathewunder. Es geht um dich. Um deinen Kopf. Um alles, was nur dir allein gehört und niemand anderes sollte es jemals ohne deine Erlaubnis sehen dürfen.
Und genau so ist es, als der Stifter in Sinas Erinnerungen eindringt und anfängt sie zu durchwühlen. Was hat sie gesehen, gespürt, empfangen, das auf den oder die Erpresser*in schließen lässt? Und da ist noch viel mehr, er gräbt und gräbt, und sie ist ohnmächtig. Das, was der Stifter da tut, ist so falsch! Es ist so unglaublich falsch, dass er dafür bestraft werden müsste!
„Und dennoch sitze ich hier, vor dir, als freier Mann. Und du kannst nichts dagegen tun!“
Sina fühlt sich erschöpft. Es geht ihr eigentlich ganz gut. Doch gegen das Durchwühlen von Erinnerungen gibt es garantiert eine Regel. Sowohl in Krahenstein, als auch in der Welt da draußen.
„Du bist sehr fixiert auf Regeln, Sina! Das war auch damals das Problem. Als ich Beffaná zum ersten mal traf.“
„Ich halte mich nur an Regeln, wenn sie richtig sind. Der Rest interessiert mich nicht.“
„Ich sag’s ja. Genau wie Beffaná…“
Was könnte dieser Mann ihr noch antun? Er ist so viel mächtiger als sie.
„Ich würde nie etwas tun, was anderen schadet“, sagt sie leise.
„Und wie erkennst du was falsch ist?“
„Ich weiß es einfach!“
„Interessant. Welche Regeln sind denn falsch? Weißt du, das interessiert mich sehr. Ich bin schließlich Gründer dieser Schule und viele der Regeln hab ich mir selbst ausgedacht.“
Du weißt es sehr genau und es hat dich nicht abgehalten! Es hat keinen Sinn, es dir zu sagen.
„Die Sache mit den dooms“, sagt Sina.
„Dass sie sind, wie sie sind, und dass man nichts dagegen tun kann.“
„Wer sagt das?“
Sina stutzt.
„Alle! Alle sagen das! Das ist doch das Ding hier in Krahenstein. Diese Transformation und alles. Das wir unser doom akzeptieren.“
„Ist das so?“
Der Stifter lächelt und schweigt ein Zeit lang.
„Wir sind hier fertig, Sina. Ruf Odette herein und geh zum Unterricht. Zögere es nicht länger heraus. Früher oder später muss du dich deinem ‚Niederlage‘ stellen.“
Hat sie da wieder ein Lächeln im Dunkeln gesehen? Egal. Einfach nur raus und die anderen vorwarnen.
„Ich glaube nicht, dass du das tust. ‚Odette‘, wirst du sagen, ‚Du bist dran.‘“
Und ganz genauso geschieht es.
Manchmal sind Dinge, die vorher unglaublich schwer oder peinlich schienen, ganz einfach.
„Herr Dr. Sieg, entschuldigen Sie bitte.“
Diese Dinge sind einfach, weil es neue Dinge gibt, die noch viel schwerer sind. Und die die alten Probleme aussehen lassen, wie völlig…
„N-nebensächlich“, sagt Niederlage. „Sch-schon ver-g-gessen.“
War’s das?!
„Es tut mir wirklich leid! Auch wie ich Sie genannt habe.“
„I-ich weiß. I-ich hab v-vielleicht auch F-fehler gemacht.“
„Mach verdammt noch mal deinen Job und krieg deine Klasse in den Griff, NIEDERLAGE!“
Und er sagt „Schon vergessen“? Er hat sich sofort krank gemeldet!!!
„Ich wollte Sie nicht so an…ranzen. Dass Sie sich krankmelden und so.“
„I-ich f-fand d-das („Mann, Niederlage, was muss eigentlich passieren, damit du mit dem Stottern aufhörst? Was kann ich sagen,, damit du deine Hemmungen ablegst?“) sch-schon ein b-bischen v-viel, a-aber…“
„Wir wissen, dass Sie Beffaná Grimm daten! Und ich weiß, dass Sie Beffaná schon kennen, seit Sie ein Kind sind. Mit dem fliegenden Fahrrad und so… Das ist okay. Es ist… cool. Auch, weil Sie mit Beffaná so relaxed sind. Und gar nicht… Na ja. Stottern. Sorry, keine Kritik, aber mit Beffaná sind Sie doch ganz anders. Und sie ist eine verdammte Naturgewalt!“
Niederlage schweigt.
„I-ich hab mich nicht d-d-deinetwegen kr-r-ankgemeldet. N-nicht wirklich. I-ch bin ein b-bisschen zurück in meinem Zeitplan und war g-ganz froh, einen Tag m-mehr Zeit zu haben.“
What? Du hast dir FUCKING URLAUB genommen und mir die Schuld in die Schuhe geschoben?!
„Was?!“
„W-was du weißt du ü-über Beffaná?“
„Sie ist eine Hexe. Eine Weihnachtshexe, was immer genau das ist.“
„Sie beschenkt d-diejenigen, d-die’s am allernötigsten haben. Sie ist das B-beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Ich helfe ihr. Jedes Jahr verteilen wir G-geschenke. Und weil Beffaná dieses Jahr so häufig hier ist, m-müssen wir uns die Arbeit g-gut aufteilen.“
Niederlage lächelt.
„Eigentlich schaffen wir’s nie ganz. Liegt ein bisschen an der chaotischen Planung, aber auch daran, dass wir uns zu viel vornehmen. Wir haben sooo viele Ideen und die Listen sind ewig lang, aber naja, es ist besser als nichts.“
„Herr Sieg, darf ich was sagen?“
„Hm?“
„Sie haben nicht gestottert eben. Sie sind auch total relaxed, wenn sie von Beffaná erzählen.“
„Das stimmt wohl…“ Niederlage nickt.
„Potzblitz. Da hast du recht.“