Ein kalter Wind, die Krähe friert
Als sie in die Arena stiert
Der Spinnenkopf auf dem Display
Starrt wütend über Yukon Bay.
Um Günter füllen rechts und links
Die Plätze sich mit schlechterdings
Jedwedem Vieh, Reptil, Getier
Das wohnhaft ist hier im Quartier.
Im Dickicht großer Glasvitrinen,
Käfiggitter, Fresskabinen,
Damen-, Herren-, Kinderklo
Na klar, die Rede ist vom Zoo.
Und bald beginnt, so Günters Ahnung,
Hier der Tiere Vollversammlung
„Krah!“ ruft Günter. „Wo ist Martha?“
Denn für sie wär’s sehr viel smarter
Nicht alleine in der Menge
Wilder Tiere abzuhängen!“
Und da sieht er sie, sie wispert
Mit `nem Gnu, dem alten Gisbert
Und schaut grimmig in die Runde
So als kenne sie die Kunde
Die die Spinne auf der Leinwand
Gleich verkündet über Breitband
Hektisch testen Technik-Ochsen
Bis zuletzt noch Sound und Boxen
„Hört mich an!“ will Günter rufen
Doch da stampfen tausend Hufen
Beifall, als das Licht angeht
Die Spinne ihre Stimme hebt
Es ist unmöglich auch nur ansatzweise abzuschätzen, wie viele Tiere sich in dieser Nacht in Yukon Bay, der großen Show-Arena des Zoos, versammelt haben. Günter schätzt, dass es tausende sein müssen. Zum Glück, denkt er, ist Schrödinger nicht hier. Schrödinger wäre begeistert von so viel Chaos, so viel Adrenalin, so vielen Möglichkeiten, eine Massenpanik anzuzetteln. Doch Schrödinger hat sich schnell wieder aus dem Staub gemacht, nachdem er sich endlich – ENDLICH – dazu herabgelassen hatte, Günter und Martha, die uralte Taxifahrerin, zurück in die richtige Zeitlinie zu transportieren. Günther schätzt, dass Martha und er ungefähr zwei Wochen in der Vergangenheit verbracht haben, bis sie die treulose Katze schließlich zu fassen bekamen. Günter hatte den richtigen Riecher bewiesen und sich immer in der Nähe von Beffanás Wohnung – also: der Wohnung der jungen Beffaná – aufzuhalten. Sie hatten jeden Kontakt mit der jungen Hexe vermieden, um nicht noch mehr Chaos anzurichten und Martha hatte zwischendurch Matilde und den Fliegenärzten beim Umzug geholfen, um den Anwält*innen des verunstalteten Mastodons zu entkommen. Nach ungefähr 14 Tagen jedenfalls hatte Günter den Zeitreisehasadeur Schrödinger dabei erwischt, wie er versuchte einen Pizzaboten an Beffanás Haustür abzufangen.
„Ja, ja!“ hörte Günter Schrödinger noch sagen. „Die sieben Jumbo-Pepperoni-Sardellen-Familienpizzen sind alle für mich und das mit der Rechnung ist alles mit Frau Grimm geklärt. Kannst Du einfach in den Briefkasten werfen.“
Im diesem Moment hatte sich Günter von seinem Aussichtspunkt aus so schnell auf die Katze gestürzt, dass Schrödinger nicht schnell genug verschwinden konnte. Womöglich wollte Schrödinger auch einfach die Pizza nicht zurücklassen. Wie auch immer, Schrödinger lies sich überreden, Günter und Martha in ihre Zeit zurückzubringen und an was genau sich der Pizzabote erinnern würde, wenn er aus seiner Ohnmacht wieder aufwachte, konnte Günter im Prinzip nur raten. Womöglich war dies der Beginn einer produktiven Fantasyschriftstellerkarriere oder die Eintrittskarte in jedes Internetverschwörungsmythenforum auf der Welt.
Die Spinne auf der Leinwand beginnt zu sprechen. Es wird mucksmäuschenstill in der Yukon-Bay-Arena.
„Willkommen!“ dröhnt es aus den Lautsprechern. „Willkommen Freunde, Mitgefangene, Genossinnen und Genossen.“
Da die Spinne von irgendwo zugeschaltet ist und die Kamera auf den Kopf der Spinne fokussiert ist, ´kann Günter ihre tatsächliche Größe nicht einschätzen. Aber von ihrer Form her tippt er auf irgendetwas vogelspinnenartiges.
„Ich begrüße auch alle Tiere, die, so ich selbst, aus dem Tropenhaus zugeschaltet sind“ dröhnt es nun wieder über die versammelte Menge. „Ich grüße alle Fische in den Aquarien, alle Bewohner*innen des Amphibienhauses, die Faultiere, die’s nicht bis in die Arena geschafft haben und ich begrüße ebenfalls die anwesende Presse!“
Zwei Spots richten sich auf Günter, der verlegen in die Meng blinzelt.
„Liebe Freunde, der Tag ist gekommen! Der Tag ist gekommen, an dem die entrechteten Kreaturen sich erheben um niemals wieder niedergedrückt zu werden!“
Ein kurzer Jubel unter der Menge in der Arena braust auf, aber die Spinne bedeutet ihnen, zu schweigen.
„Genossinnen und Genossen. Das Leid und die Ungerechtigkeit, die jeder und jede von Euch so lange ertragen musste, ist zu Ende. Ich werde ganz ehrlich sein: Ich kann euch nicht versprechen noch am Leben zu sein, wenn diese Nacht vorbei ist. Aber ich KANN euch versprechen, dass ihr frei sein werdet. Lebendig oder tot! Ihr werdet freie Tiere sein, die ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben. Und alle Türen, alle Schlösser, alle Gräben, alle Gitter: Sie werden aufgebrochen, gesprengt, zugeschüttet und durchschnitten sein. Und die Entscheidung, wie viele Schritte wir bis zum Horizont unseres Schicksals gehen, diese Entscheidung werden wir ganz alleine treffen! Kein Tor, kein Käfig, ein Elektrozaun wird für uns entscheiden, sondern NUR WIR GANZ ALLEINE!“
Jetzt ist keine Halten mehr. Um Günter herum springen die Tiere auf, die klatschen, brüllen, flattern hoch, eine Ente neben ihm legt vor Aufregung ein Ei und das Zebra auf Günters rechter Seite schielt, während es die Hufe hebt immer mal wieder ängstlich zu den Löwen drei Reihen weiter vorne.
Auf dem großen Display spricht erneut die Spinne.
„Wir werden uns jetzt wie geplant in die Artenräte begeben und uns in einer Stunde erneut im Plenum treffen. Bis dahin möchte ich dich, Günter…“ die Spots erfassen erneut die Krähe „…sowie deine Begleitung bei mir im Amphibienhaus sprechen. Und jetzt viel Erfolg uns allen. Vive les Animaux, Vive la Revolution!“
Es ist tatsächlich eine Vogelspinne. Als Martha und Günter vor dem Spinnenterrarium im Tropenhaus stehen, brauchen sie Einiges an Geduld, bis die Spinne Zeit für sie hat. Neben zwei Technik-Dachsen, die andauernd an der Verkabelung der Mikros herumzerren, wuseln noch ein Wieselweibchen, einige Schlangen sowie zwei Make-up-Schwäne um die Spinne herum. Ganz hinten in der Ecke regt sich etwas Großes. Als Günter genauer hinschaut, erkennt er, dass es Polly ist!
„Polly!“ zischt er, „Was machst Du denn hier?“
„Beraten“, flüstert Polly zurück, doch er wird von einer Brillenschlange unterbrochen:
„Die Vibes waren gut“, raunt sie der Spinne zu. „Du hast den richten Ton getroffen. Nur die explizite Begrüßung der Fische könnte ein Problem werden. Die Quallen sind schnell beleidigt, verstehst du? Da müssen wir deutlich inklusiver werden.“
„Klar“. Die Spinne nickt. „Ist notiert. Wir müssen uns sowie ausdenken, wie ich direkt von der Bühne sprechen kann. Hier drin krieg ich die Stimmung einfach nicht mit.“
„Keine Sorge Schätzchen, die Stimmung da draußen ist super“, säuselt einer der Make-up-Schwäne.
„Stimme ich zu“, sagt die Brillenschlage. „Die Zeit ist einfach reif.“
„It’s happing, baby!“, flötet der andere Makeup-Schwan und pudert die Vogelspinne in einer Wolke dunklem Staub ein.
Endlich schaut die Spinne zu Günter und Martha.
„Ah, die Krähe!“ sagt sie. „Mit dir wollte ich sprechen.“
„Ich bin ein bisschen überrascht!“ Sagt Günter. „Eigentlich wollte ich nur in die Krähenpost-Redaktion, die Geschenke für Beffaná von den Zoo-Tieren abholen. Und da haben sie mich in die Arena geschickt.“
„Verstehe“, sagt die Spinne. „Günter, richtig? Ich bin Cosette. Pass auf Günter. Die Pläne haben sich geändert. Es gibt keine Geschenke. Es gibt eine Revolution.“
„Ihr wollt abhauen?“
„Ha!“ Die Spinne funkelt Günter an. „Schau mich an, Krähe! Wie soll ich ausbrechen? Wohin soll ich gehen? Was glaubst du, wie lange dauert es, bis ich erfroren bin? Was denkst Du, wie lange dauert es, bis die Zebras da draußen abgeschossen werden? Was sollen wir mit den Fischen machen, Günter? Ins Klo schütten und hoffen, dass sie den Weg ins Meer finden? Das ist hier nicht Findet Nemo, Günter! Das ist die verdammte Realität. Wir können nicht einfach abhauen! Das hab ich Polly auch schon gesagt!“
Im Hintergrund zuckt der Zyklop mit den Achseln.
„Was wir hier versuchen, ist größer, Günter! Hier geht’s nicht darum eine Krähenzeitung zu gründen, um das Leben im Zoo ein bisschen erträglicher zu machen! Hier geht’s auch nicht darum ein paar Tiere zu besuchen, um ihnen ein nettes kleines Geschenk zu machen, Günter von der Krähenpost! Es geht um Freiheit, Günter! Um Selbstbestimmung für alle! Es geht um Politik, Günter! Statt ein bisschen Guthexentum zu Weihnachten, bieten wir den Tieren die Chance, sich selbst eine Zukunft aufzubauen! Ab morgen früh liegt die Verwaltung dieses Zoos allein in unsren Händen! Wir brechen nicht aus Günter, wir machen diesen Zoo endlich zu unserem Land, zumindest von allen, die sich dafür entscheiden.“
„Fünf Minuten“, raunt die Brillenschlange, „dann schalten wir dich wieder ins Plenum.“
Cosette, die Vogelspinne, nickt und wendet sich Günter zu.
„Ich hab wenig Zeit, Günter. Unser provisorischer Ausschuss für auswärtige Beziehungen hat beschlossen, die Geschenke für die Weihnachtshexe einzubehalten. Stattdessen bitte ich dich, ihr diesen Brief von uns zu übergeben.“
Einer der Make-up-Schwäne reicht Günter einen Umschlag.
„Darin danken wir Beffaná für ihre Unterstützung in all den Jahren und versichern ihr unsere kritische Solidarität. Ihre Arbeit hat zweifellos Einiges bewirkt. Aber Günter, das reicht nicht. Kitschige Adventsstories über ein paar arme Tiere, die Geschenke bekommen, sind nicht genug. Eine privilegierte Hexe wie Beffaná mit so unfassbaren Möglichkeiten muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht mehr hätte tun können. Ob sie, statt bloß Symptome zu lindern nicht besser die Verhältnisse hätte ändern müssen.“
Günter ist baff nach diesem Monolog. Er schaut Martha an. Die nickt ihm zu.
„Da ist schon was dran“, sagt sie. „Kri-ti-sche So-li-da-ri-tät! Könnte von mir sein.“
„Aber was sage ich Beffaná?“ fragt Günter. „Sie strampelt sich ihr Leben lang für die Monster und Tiere ab und das ist der Dank dafür? Kein einziges Geschenk von den Zootieren“
„Tja“, sagt Martha, als die beiden den nächtlichen Zoo durch das große Tor verlassen. Die beiden Bären, die als Torwächter agieren, nicken ihnen freundlich zu und schließen das Tor hinter ihnen.
„Weißt du, Günter. Hier geht’s nicht um Dank und Höflichkeit, hier geht’s um Freiheit, Anerkennung und Selbstbestimmung. Ich glaube Beffaná versteht das ziemlich gut.“
„Potzblitz! Ich hoffe du hast Recht.“