n tiefer Winternacht sitzt er,
Der Kräherich, im Baum und schwer
Drückt ihm das alte Vogelherz.
In seiner Brust schlägts eine Terz
Nach unten, eine kleine nur,
Denn Günters Herz schlägt Moll, nicht Dur.
Man ist zurück am Hügel wo
Der Castorp wohnt. Wo, fern vom Zoo,
Der unsichtbar geworden ist,
Man eine ruhige Nacht genießt.
Nicht so die Krähe! Günter wacht
Und sorgt sich schon die ganze Nacht
Was soll, fragt er, in Zukunft werden
Mit der Hexe hier auf Erden?
„Krah“, ruft er und dreht sich um
Zum Wohnstatt-Provisorium,
Zu Niklas’ Haus, wo Zuflucht man
Gefunden hat vor’m Feuerwahn.
Wie lange kann die alte Frau
Hier bleiben unterm Dachverhau?
„Hey Günter, kennst du den schon?“ kräht
Da jemand. „Huch?“ Wer kräht so spät?
Von unten zu der Krähe hoch?
Das wird doch nicht…? Das kann nicht… Doch!
„Wie nennt man einen Champignon
Der giftig ist? Na? Hurensohn!“
„Oh. Tu mir das nicht an!“ Die Krähe
Sieht, was lieber sie nicht sähe:
Unten stehn am Baumstamm viele
Pilze, die nach oben schielen.
Es gibt unter den hunderttausenden Schimmelpilzarten nur recht wenige, die sich größerer Beliebtheit erfreuen. Die beiden alten Kumpels Penicillium roqueforti und Penicillium camemberti zum Beispiel haben eine gewisse Beliebtheit unter Käse-Nerds erfahren und ihre Abkömmlinge machten sich schnell in jedem Käseregal diesseits des Ärmelkanals breit. Von den Menschen werden sie als Camembert und Roquefort-Käse gegessen.
Ihre Schwippschwägerin dritten Grades,Penicillium chrysogenum, hat die aus menschlicher Sicht praktische Eigenschaft, nervige Bakterien zu vergiften. Unter den Namen Penicillin und Antibiose findet man ihre Produkte in jeder gut sortierten Apotheke.
Betties Zweig der Familie hat – zumindest bei den Menschen – einen schlechten Ruf. Bettie ist eine ungesunde Mischung mehrerer Rot- und Schwarzschimmelpilzsorten, was ihr eine lustig gesprenkelte Farbgebung verleiht. Bettie mag kalte, feuchte Plätzchen und hatte es sich daher vor vielen Jahren unter Esmeralda Schniggenfittichs Wohnzimmerfenster gemütlich gemacht. Als Esmeralda irgendwann in ein Pflegeheim umzog und die Wohnung von Grund auf saniert wurde, hatte Bettie das unverschämte Glück, die ganze Sache fast unbeschädigt zu überstehen. Denn die Malerin, die das Wohnzimmer vollständig neu tapezierte und strich, war eine gewisse Martha. Und Martha mochte Schimmelpilze einfach zu sehr, um sie so mir nichts, dir nichts von der Wand zu kratzen. Die uralte Martha, in ihren jüngeren Jahren und im Nebenjob immer nochTaxifahrerin und seit jeher Freundin der einzig wahren Weihnachtshexe Beffaná, war dem jungen Paar, das in Esmeraldas Wohnung einzog, von ihrer neuen Nachbarin Beffaná vermittelt worden. Martha mochte als Rentnerin nicht nur zu Hause rumsitzen, war mit handwerklichen Dingen sehr geschickt und brauchte das Geld für die zwei Stangen Zigaretten, die sie inzwischen täglich rauchte. Sie fand, dass man ab 80 ruhig anfangen konnte, ein paar weniger gesunde Dinge zu tun, weil: Was sollte Schlimmstenfalls schon passieren? Die jungen Leute wiederum waren knapp bei Kasse, weil sie gerade ein Baby bekommen hatten, und Martha arbeitete für einen sehr fairen Preis.
Als Martha den Schimmelpilz unter der Fensterbank beim Tapezieren entdeckte, setzte sie sich mit knackenden Knien in die Hocke, beugte sich nah zur Wand und sagte:
„Wenn du mir nix tust, tu ich dir auch nix. Aber du musst mir versprechen, dass du das Baby in Ruhe lässt.“
Es kommt nicht besonders häufig vor, dass Wandschimmel sprechen kann. Letztlich war es reiner Zufall, dass Bettie jahrelang gegenüber dem Fernseher aufwuchs und dort, weil Esmeralda dauernd vergaß, den Fernseher auszuschalten, täglich viele Stunden mit „Rote Rosen“, „Prommi-Wer-Wird-Millionär“ und Disney-Filmen allein in einem Raum war. Bettie konnte bald vieles von dem verstehen, was auf der anderen Seite des Zimmers vor sich hin flimmerte. Etwas später kapierte sie auch, was für einen Schrott sie da täglich anschauen musste.
Schimmelpilze sind von Natur aus vorsichtig und haben allen Grund dazu. Es gibt in Bau- und Supermärkten ganze Regale voll mit Schimmelvernichtungsmitteln und darum ist es für Schimmel eine gefährliche Angelegenheit, die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken. Bettie blieb also jahrelang stumm. Sie verfolgte interessiert das Leben ihrer Gastgeberin, war aber auch viel allein, da Esmeralda häufig „auf Jüt“ war, eine Redensart, die Bettie bei einem Fernsehkoch aus Grevenbroich gelernt hatte.
Als sich Martha eines Tages so eindeutig direkt an sie wandte und ihr ein vernünftig klingendes Friedensangebot machte, brach Bettie ihr jahrelanges Schweigen und antwortete mit einem
„Deal. Ich tu euch nix, ihr tut mir nix.“
Zum Glück war Martha viel zu abgebrüht, um daraufhin in Ohnmacht zu fallen. Sie war sogar derart abgebrüht, dass sie die ganze Sache kurze Zeit später vergaß und daher auch Beffaná nie davon erzählte. Sie hatte einfach nur ein Stück frische Tapete vorsichtig über Bettie gelegt und beim Tapezieren darauf geachtet, dass Bettie nicht zu doll eingequetscht wurde.
Ein Jahr verging und eines Tages brannte das ganze Haus fast vollständig nieder. Die Hitze und der Rauch setzen der armen Bettie ordentlich zu, doch glücklicherweise bliebt Esmeraldas altes Wohnzimmer bis auf den beißenden Rauch überall von Feuer und Hitze fast vollständig ausgespart. Dennoch: Betties beste Tage waren vorbei. Nur mit schweren Schäden und einem furchtbar chronischen Husten überstand sie die ganze Sache.
Wer weiß wie lange sie an ihrem Platz noch hätte ausharren können. Immerhin steht nach Ende des Feuers erneut eine Renovierung an. Und dieses Mal wird vermutlich niemand wie Martha zur Stelle sein und Bettie beschützen.
„Günter, kennst du den schon…?“
„NEIN!“ Pilze sind die Pest, denkt Günter, und bei aller Liebe für die verschiedenen Wesen, Monster und Absonderlinge auf dieser Welt, auf Pilze und ihre furchtbaren Witze könnte Günter jederzeit gute verzichten und würde sogar dafür bezahlen.
Aber Beffaná hat entschieden und was tut eine alte Krähe nicht alles, um eine noch viel ältere Weihnachtshexe glücklich zu machen.
Pilze haben die unangenehme Angewohnheit, wenig zu denken und viel zu sprechen. Und da sie die viele Sprechzeit mit nur wenigen zusammenhängenden Gedanken füllen können, überbrücken sie die restliche freie Zeit mit Pilzwitzen. Pilze kennen nur Pilzwitze, weil sie nur Pilzwitze verstehen und sie verstehen andererseits überhaupt gar nicht, warum alle anderen überhaupt nicht darüber lachen können.
„Günter, was sagt die Stewardess zur Morchel auf einem Transatlantikflug?“
„Ich wills wirklich nicht…“
„Ich wusste gar nicht, dass es das so hässliche Fliegenpilze gibt!“
Das ist natürlich Liliths Stichwort, die heute in einen Einkaufsnetz getragen wird, damit man sie besser verstehen kann:
„Hier, Pilze, Eure Meinung: „Stewardesszelt“ bei Scrabble – ja oder nein?“
Doch Pilze können nur schlecht auf andere Themen wechseln.
„Kennst du den schon? Kommt eine Rübe zum Arzt. Herr Doktor, ich habe einen Pilz an der Rübe. Sagt der Pilz. Na toll. Und für die Riesenfurunkel an meinem Hintern interessiert sich wieder keine Sau!“
Sie sind auf dem Weg zu Beffanás altem Haus beziehungsweise dem, was von übrig ist. Die Straßen sind, zumindest wenn man ein wenig genauer hinschaut, gesäumt von Pilzen. Einige halten Schilder in die Luft: „Solidarität für Bettie!“, „Luxusrenovierung Nein!“ „Spore Lives Matter“ und „Kennt ihr den schon…?“ Und Günter ist sehr froh, dass der Rest zu undeutlich geschrieben ist, um ihn zu erkennen.
Eine ganze Delegation von Pilzen war am Abend nach der Verhüllung des Zoos bei ihnen vor Niklas Haus aufgetaucht und hatte verlangt, die Weihnachtshexe zu sprechen. Über ihr geheimes und weit verzweigtes Pilznetzwerk im Boden hatte sich die Nachricht verbreitet, die altehrwürdige Weise Bettie, die einzige unter allen Pilzen, die alle Staffeln Matlock und Rote Rosen gesehen hatte, sei fast bei dem Feuer umgekommen, das Beffaná verschuldet hatte. Und nun schwebe die kranke Bettie in allergrößter Gefahr, Opfer einer Grundsanierung ihrer Wohnung zu werden.
Und ja, selbst Günter musste zugeben: Ohne Beffaná hätte es kein Feuer gegeben und Bettie würde noch immer schiedlich-friedlich in Esmeraldas alter Wohnung leben. Was also tun? Letztlich ließe sich das nur durch eine Ortsbesichtigung klären und so hatte man sich auf den Weg gemacht. Günter in der Luft, Niklas mit dem Rübenbeutel in der Hand zu Fuß und der Rest zusammen mit Godzilla unter der Zitterspinnentarnkappe. Da es inzwischen heller Morgen ist, bemüht sich Polly-Godzilla sehr darum, auf Zehenspitzen zu schleichen, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen. Und als sie schließlich am vom Feuer stark gezeichneten Haus ankommen, hat er lediglich einen Hydranten zertreten und den Weihnachtsmarkt verwüstet. Günter merkt Beffaná an, dass sie nur sehr unwillig ihr altes Haus betritt. Sie arbeiten sich über Absperrbänder und Schutt hinweg und steigen die Treppe hoch bis zu Esmeraldas Wohnung.
„Der schöne Ghul-Treppenlift!“ denkt Günter als er die angekohlten Knochenschienen herumliegen sieht. Dann betreten sie gemeinsam die ehemalige Wohnung von Beffanás alter Freundin.
„Da seid ihr ja endlich!“ hustet es aus dem Wohnzimmer und nachdem sie es betreten haben, ist ziemlich schnell klar, dass Bettie hier unmöglich bleiben kann.
„Wir müssen dich evakuieren, Bettie“, sagt die Hexe.
„Na, ganz toll!“
Günter wundert sich, dass Bettie für einen Pilz ganz normal spricht undes durchgehend schafft, keine Witze zu erzählen.
„Das ist die evolutionäre Anpassung der Schimmelpilze“, sagt Beffaná. „Sie überleben nur, wenn sie möglichst wenig auffallen. Ein Schimmelpilz, der fortwährend dumme Witze erzählt, hätte kaum Überlebenschancen.“
„Wie weit sitzt du denn in der Wand?“ fragt die Hexe schließlich und untersucht Bettie aus dr Nähe.
„Da hilft alles nichts, wir werden wohl ein großes Stück Wand rausnehmen und zusammen mit Bettie abtransportieren müssen“, sagt sie. „Bettie ist ganz schön groß. Sind wir sicher, das sonst niemand im Haus ist? Ich fürchte, es könnte bei der Aktion einstürzen.“
Für Godzilla ist es natürlich kein Problem, Bettie aus der Wand zu reißen, aber sollte dabei das Haus einstürzen, will Beffaná zumindest noch einmal oben in ihrer Wohnung schauen, ob noch irgendetwas da ist, was gerettet werden könnte. Doch nach einer halben Stunde kommt sie niedergeschlagen nach unten.
„Da ist nichts mehr“, murmelt sie und gibt Godzilla das Zeichen, Bettie aus der Wand zu nehmen. Als sie alle unten weit weg vom Haus in Sicherheit sind, beginnt Godzilla mit der Arbeit und er hält kaum das große Stück Wand in seinen Stummelhänden, als das Hochhaus erzittert und dann unter einem ohrenbetäubenden Lärm zusammenkracht und sie alle in eine Staubwolke hüllt. Von Beffanás Wohnung im achten Stock im Hochhaus mitten in der Stadt existiert nur noch ein Haufen Schutt.
„Kennt ihr den schon…?“ fragt ein dünnes Stimmchen aus der Staubwolke heraus und zu seiner Überraschung hört Günter Beffaná nur antworten: „Halt einfach die Klappe.“
Dann sagt sie kein Wort mehr. Den ganzen restlichen Tag nicht.