Es schlendert eine alte Krähe
Über einen Weihnachtsmarkt
Nicht, dass, was sie darauf sähe
Ihr Verlangen steigern mag
Nein, die Krähe namens Günter
Hasst im Grunde, was sie sieht
Heizpilzfestival im Winter
Ist, wovor sie meistens flieht
Heute aber ist besonders
Heute folgt sie einer Spur
Denn ein Ohrwurm, der woanders
Herstammt, ist hier heut auf Tour
Bleibt jedoch das Quiz zu lösen
Wo genau steckt dieses Wesen?
„Krah!“, ruft Günter, „All die Stände
All die Buden voller Kram
Stehn im Weg, ich seh kein Ende
Wo ich besser sehen kann!“
Dann jedoch hört Günter einen
Flötenspieler, der gequält
Einen Song spielt und sonst keinen
Immer wird dies Lied gewählt
„Bingo!“ denkt er leicht gehässig,
„Dieser Mann folgt einem Zwang
Das sieht äußerst Ohrwurmmäßig
Aus. Der Ohrwurm ist jetzt dran!
„Hört mich an!“ ruft er, er hält sein
Vogelfunkgerät gedrückt
„Ohrwurmsichtung!“ Und er hat ein
Päckchen Ohropax gezückt
Als Niklas zusammen mit Günter und einem völlig verängstigten Fremden in die Geschenkewerkstatt kommt, ist allen sofort klar, dass Günter einen Volltreffer gelandet hat. Endlich eine gute Nachricht, denkt Günter. Am Morgen beim Frühstück hat Niklas erzählt, dass es mit dem Aufstand im Zoo nicht gut läuft. Das Gelände ist von Sicherheitskräften und Mitarbeitenden der Forstbehörde umstellt und innen drin gibt es nach allem was die Bot*innen der Krähenpost vermelden, Streit zwischen verschiedenen Fraktionen der Tiere. Beffaná hat das Ganze ziemlich mitgenommen, aber gesprochen hat sie beim Frühstück nicht.
Der Mann, den Günther mit Niklas Hilfe in die Werkstatt gelotst hat, schwitzt, obwohl er aus der Eiseskälte des Weihnachtsmarktes kommt. Sein hektischer Blick wandert immer wieder zu der Flöte in seiner Hand.
„Bitte“, stammelt er, „ich muss auf meiner Flöte spielen. Ich halte es nicht mehr aus!“
Niklas hebt die Hände.
„Bitte, bitte, es ist nicht verboten. Die He… meine Freundin Beffaná hier hat nur gesagt, ich solle Sie freundlich darum bitten, möglichst wenig zu spielen. Um weitere Ansteckung zu vermeiden. Aber kein Problem, spielen Sie…“
„Stopp!“ ruft Günter. „Haben alle ihr Ohropax parat?“
„Jetzt.“ Niklas steckt schnell die Ohrstöpsel ins Ohr. Beffaná schüttelt den Kopf.
„Brauch ich nicht. Und Helena macht sich nicht viel aus Musik, oder Helena?“
Die Ziege zupft an der Tischdecke und kümmert sich nicht weiter um die anderen.
„Günter?“
„Was? Ich hab Ohropax drin, Beffana!“
„Fang ruhig an zu spielen“, fordert Beffaná den Fremden auf und erleichtert setzt der seine Flöte an den Mund
(Song: El condor pasa).
„Ah, sehr gut!“ ruft Beffaná. „El condor pasa! Ein chilenischer Ohrwurm! Ich frag mich nur…“
Während der Fremde mit versteinertem Gesicht weiterspielt, geht sie dicht zum ihm , zückt eine Taschenlampe von ihrem Nachttisch („Darf ich?“) und leuchtet dem Mann in beide Ohren. Beim rechten seufzt sie: („Ach deshalb!“) und wendet sich an Niklas.
„Hast du Ohrenstäbchen und eine kleine Pinzette?“
„WIE BITTE?!“
„Ach, warte kurz…“ Sie schreibt es Niklas auf einen Zettel und der verschwindet unten im Bad.
„Wieso merkt ICH eigentlich nix?“ fragt Lilith, die ruchlose Rübe. Sie liegt auf ihrem Kissen vor dem Fernseher und glotzt von einer zum andern.
„Ich hab da `ne Ahnung. Wir werden’s gleich sehen.“
Als Niklas mit Ohrenstäbchen und Pinzette zurückkehrt, bedeutet Beffaná dem Flötenspieler, dass sie kurz sein rechtes Ohr untersuchen möchte.
„Er sitzt fest.“ sagt Beffaná . „Normalerweise springt er von einem zum anderen, sobald jemand sein Lied mit summt oder pfeift. Aber der hier kommt nicht raus. Das passiert ziemlich häufig. Sie leben vom Ohrenschmalz und wenn sie sich fett gefressen haben, wird’s schwer.“
Ein kurzer, beherzter Griff mit der Pinzette und Beffaná hält ein sehr kleines, ohne Lupe kaum erkennbares Tierchen zwischen den Schenkeln der Pinzette in die Luft.
„Ein Prachtexemplar, oder?“
Ohne weiteres Zögern steckt sie die Pinzette in ihr linkes Ohr. Dann schaut sie den Flötenspieler an.
„So. Besser? Günter, Niklas, ihr könnt die Ohrstöpsel herausnehmen?“
„WAS?“
„Wie fühlen Sie sich“ fragt sie erneut den Flötenspieler. Der hat sich völlig erledigt in einen Sessel gesetzt.
„ICH – HASSE – DIESES -LIED!“
„Alle hassen dieses Lied!“ Günter hat’ inzwischen verstanden und das Ohropax entfernt. „Wie lange musste’s Du’s denn aushalten?“
„Vier Tage und drei Nächte“, stöhnt der Mann. „Darf ich?“ Er rollt sich auf seinem Sessel zusammen und ist sofort eingeschlafen. Dass er soeben eine tischdeckenfressende Ziege, eine sprechende Krähe und eine ruchlose Rübe gesehen hat, ist ihm offenbar ziemlich schnuppe.
„Was ist denn mit dir, Beffaná? Bist du immun?“ Fragt Günter.
„Nee. Aber ich habs besser unter Kontrolle.“
Eine zeitlang horcht sie in sich hinein.
„Also: Unser Ohrwurm heißt Salvador, er stammt aus Santiago de Chile, er ist ein genauso alter Knochen wie ich es bin und er freut sich, euch alle kennenzulernen!“
„Und was machen wir jetzt mit ihm?“ fragt Lillith.
„Erst mal mach ich mein Mittagsschläfchen“ sagt Beffaná. „Und danach holt Godzilla uns ab. Ist doch richtig Günter?“
„Das ist zumindest der Plan. Weiß du schon, wo wir hingehen?“
Doch Beffaná wirkt abwesend. Sie starrt in Günters Richtung, antwortet aber nicht.
„Beffaná!“
„Entschuldigung. Ich bin nur mit Salvador seine Setlist durchgegangen. Das ist eine sehr beeindruckende Liste an Liedern, kann ich euch sagen.“
„Ob du schon einen Plan hast, hab ich gefragt. Wegen des Ohrwurms. “
„Ich weiß es nicht, Günter. Lass mich mal drüber schlafen und dann sehen wir weiter.“
Als Polly pünktlich zur Abenddämmerung in seinem Godzilla-Kostüm vor Niklas’ Haustür aufkreuzt, ist die ganz Bande fertig zur Abreise. Beffaná ist dick eingemummelt in einen von Niklas’ alten Wintermänteln und Niklas hat Lilith in einem Rucksack dabei und die Ziege Helena an einer Leine neben sich.
„Also: Wohin?“ fragt Günter. „Was machen wir mit Salvador? Oder behält du ihn?“
„Nee. Ich weiß noch nicht genau. Ich…“
Sie schaut in die Runde. „Ich hab so eine vage Idee Aber die ist vielleicht dumm. Und gefährlich. Vielleicht bringen wir Salvador einfach zurück auf den Weihnachtsmarkt. Da hat er bestimmt Spaß.“
Sie schaut eine Weile ins Leere und schüttelt sich.
„Nee, er will nicht. ER mag meine Idee. Er sagt, das sei ein schönes Geschenk.“
„Was denn? Na los, raus mit der Sprache!“
„Gut, Es ist nicht weit. Wird ein kurzer Weg für dich, Godzilla. Wir gehen in den Zoo.“
Die Sache gestaltet sich schwieriger als erwartet. Vor dem Haupteingang ballen sich Dutzende von Einsatzfahrzeugen verschiedener Polizei- und Rettungskräfte. Irgendein kurzgeschorener Uniformierter mit traurigen Dackelaugen bellt Befehle nach rechts und links und hinter den Absperrbändern wimmelt es von Presse und Schaulustigen. Was genau im Zoo vor sich geht, scheint niemand zu wissen, aber nachdem er Zoodirektor in Lianen gewickelt und mit einem Gummiball im Mund hochkant vor dem Eingangstor gelandet ist, wurde die höchste Alarmstufe ausgelöst. Godzilla hätte wenig Probleme durchzubrechen und das Zootor niederzuwalzen, aber diese Art von Aufmerksamkeit nutzt gerade niemandem, am wenigsten den Tieren innerhalb der Mauern. Nachdem Günter einen Spionageflug unternommen hat, kommt er mit schlechten Nachrichten zurück.
„Sie haben gerade beschlossen zu stürmen. Da hinten sammeln sich bereits Wasserwerfer und Scharfschützen!“
„Hmmmmhmmmmhmmm!“ tönt es auf Niklas Rucksack und als er ihn endlich öffnet, meldet sich Lilith zu Wort.
„Wir müssen hinten rum in den Zoo und die Tiere warnen. Sie rücken garantiert erst gegen das Haupttor vor. Sie sind so stark in der Überzahl, da werden sie diesen Weg wählen.“
Günter schaut ihn mit großen Augen an.
„Unsere Rübe, die große Strategin, oder wie?“
„Nee, nur sechs Wochen täglich Soldat spielen mit Panzerfahrer Paul und ihrem Trecker“, murmelt Lilith.“Das Mädchen war eine echte Gefahr für die Nachbarschaft!“
Sie schlagen einen großen Bogen und schleichen hinten durch den Wald zur rückwärtigen Mauer. Schleichen. Naja. Godzilla-Schleichen. Ein paar Bäume und mehrere Dutzend am Wald parkende Autos müssen dran glauben. Aber Polly-Godzilla tritt relativ sanft auf die Autos, bevor er sie zerquetscht.
Als sie über der Mauer sind, bietet sich ihnen ein erbärmlicher Anblick. Die meisten größeren Pflanzenfresser drängen sich hier im hinteren Bereich des Zoos unter die Unterstände. Im Amphibienhaus und im Tropenhaus brennt kein Licht, auch im Aquarium ist dunkel. Die Technik-Ochsen haben zwar ein paar Notstromaggregate zum Laufen gebracht, aber das reicht gerade so zum Heizen. Die Raubtiere haben sich zerstritten. Eine Fraktion ist nach vorne zum Tor, um es gegen mögliche Eindringlinge zu verteidigen. Eine andere Fraktion schleicht in einem Halbkreis um die Pflanzenfresser herum und lauert auf eine Chance, endlich wieder eine vernünftige Mahlzeit zu bekommen.
Auf dem Weg nach vorne zum Tor treffen sie Cosette mit ihrem Gefolge. Sie wird in einem mobilen Terrarium von zwei erbärmlich frierenden Orang-Utans getragen und erteilt Anweisungen zu allen Seiten.
„Günter“, sagt sie. „Beffaná. Ihr kommt zu einem schlechten Zeitpunkt.“
„Läuft nicht?“
„Es gibt keine Einigkeit. Zu viele verschiedene Interessen. In den ersten Stunden lief alles gut. Alle waren motiviert. Alle hatten ein klares Ziel vor Augen. Die Menschen aus dem Zoo vertreiben. Die Sache selbst in die Hand nehmen. Aber dsnsach wurde es schwierig. Und jetzt… Ich fürchte, wir erleben die letzten Stunden des Zoo-Aufstandes.“
„Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns. Vor uns liegen die Mühen der Ebenen“, murmelt Beffaná.
„Wir brauchen Lösungen, Hexe. Keine schlauen Sprüche.“
„Ich muss heute Nacht noch ein Geschenk verteilen“, sagt Beffaná. „Wenn du mir dabei hilfst, dann versuche ich Dir mit deiner Lösung zu helfen.“
„Geschenk!“ Die Spinne lacht höhnisch auf. „Das ist deine Antwort auf alles, oder, alte Weihnachtshexe?“
„Das ist nun mal, worin ich immer gut war.“ sagt Beffaná. „Ich weiß nicht, ob ich’s noch bin. Denn du hast recht, ich bin ein bisschen zu alt für diesen Scheiß.“
Aber dann lächelt sie.
„Doch selbst die dunkelste Nacht wird enden und die Sonne wird aufgehen! Schick mir deine größten Sänger*innen, Cossette. Und die mit den besten Ohren. Ich bitte dich.“
Und genau dies sind die Worte, die Cosette noch viele Jahre lang ihrer Brut erzählen wird, wenn sie abends nach der Geschichte über die Weihnachtshexe Beffaná fragen. Denn am Abend ihrer größten Not kam eine Hexe zu den Tieren und sie brachte ein Lied mit, das sprang von Ohr zu Ohr und von Mund zu Mund sprang es, wurde gesummt und gesprochen, bis schließlich die Gorillas und die Schimpansen es hörten und von der Spitze des Affenberges weit über den Zoo brüllten, so dass es alle hören konnten. Eine sagen, man konnte sogar sehen, wie das Lied von einer zum nächsten sprang. Und genau in dem Augenblick, als die Menschen den Befehl zum Angriff gaben, schallte der Ruf nach Freiheit und einem besseren Morgen durch zehntausend Kehlen den Angreifern entgegen.
(Zur Melodie von El Pueblo Unido)
El pueblo unido, jamás será vencido,
Die Tiere zusammen, nichts wird uns stoppen können!
Steh auf und sing
Dass wir erfolgreich sind
Wir gehn voran
Auch wenn die Hoffnung schwind’
Und du? Wirst sehn!
Auch du wirst mit uns gehn
Das Lied erklingt, noch lauter wenn du mit uns singst
Die Fahne schwingt, ein roter Morgen zwingt
Ein Leben, das uns endlich Freiheit bringt
El pueblo unido, jamás será vencido,
Die Tiere zusammen, nichts wird uns stoppen können!
Steh auf, steh ein!
Wir müssen standhaft sein
Die Freiheit kommt
Doch nicht von ganz allein!
Das Glück erringt
Nur wer das Leben zwingt
Nur wer die Welt mit seinem Schrei zum Beben bringt
Wer Freiheit liebt, wer alles dafür gibt
Ein Leben, dass uns endlich Freiheit bringt
El pueblo unido, jamás será vencido,
Die Tiere zusammen, nichts wird uns stoppen können!
Steh auf und sing
Dass wir erfolgreich sind
Wir gehn voran
(Für) ein Leben, dass uns endlich Freiheit bringt