Im ersten scheuen Morgenlicht
Sind alle Läden leer und dicht
Als uns’re Krähe sie passiert
Ihr folgt, fast gänzlich unsichtbar
Ein Grimm, und dies absurde Paar
Wirkt dabei etwas derangiert
„Wo ist der Laden, den du meinst?“
Kräht Günter. „Er ist weg, so scheint’s!“
Doch Jacob Grimm strebt weiter fort
Er weiß, dass das Spezialgeschäft
Für Kuchen, Torten und Gebäck
Ein wenig abseits liegt vom Ort
Und dann, aus einer Seitengasse
Steigt ein Duft auf ihre Straße
„Krah!“, ruft Günter. Und er liest
Das Ladenschild: „Gâteau surprise“
Bevor er durch die Türe fliegt
Und knallt vor Staunen fast vor’s Glas
Die Tür ist zu, was er vergas
Als er die tollen Torten sieht
Sie stapeln sich auf Tischen, Tresen,
Kekse duften sehr erlesen
Unter wohl verzierten Hauben
Kuchen und Pralinen prangen
Schüren jedermanns Verlangen
Diesen Laden auszurauben
„Hör mich an“, krächzt Günter, „welcher
Bäcker hier am Werk ist, solcher
Imbiss käm uns sehr gelegen
Beffanás Geschenke wegen.
Miguel ist groß und schlank. Gutaussehend. Glattrasiert, dunkle Harre mit grauen Strähnen, und er trägt eine Brille mit einem dünnem Rand aus Horn. Bevor Günter oder Jacob etwas sagen können, weist Miguel ihnen einen Platz an einem kleinen Bistrotisch zu, serviert Kaffee und Wasser in einer Vogeltränke für Günter und verschwindet dann in einer Tür hinter dem Verkaufstresen, in dessen Auslagen herrliche Kuchen, Torten und Pralinen arrangiert sind. An der Wand hängt ein schwarz gerahmtes Foto von Miguel und seinem Vater Jorge. Günter hat Jorge nie persönlich getroffen, aber er kennt ihn aus vielen der alten Erzählungen in der Krähenpost-Redaktion. Jorges Vorstellungen von Ordnung und Sauberkeit waren… ungewöhnlich und Günter ist außerordentlich überrascht, dass der Sohn offensichtlich einen ganz anderen Stil hat. Günter weiß, dass Jorge vor einigen Jahren in einem märchenhaft hohen Alter gestorben ist. Zuletzt hatte er sich aus dem Geschäft zurückgezogen und seinem Sohn die Konditorei überlassen, die die beiden bereits vor geraumer Zeit gemeinsam eröffnet hatten.
Miguel kehrt in den Verkaufsrum zurück, er trägt mehrere Platten mit silbernen Hauben darauf und stellt eine davon auf den kleinen Tisch.
„El pastel, por favor“, sagt er. Und dann: „Guten Appetit, die Herren.“
Damit hebt er die Haube von einer der Platten und lässt Günter und Jacob mit einer herrlichen Zitronen-Sahne-Torte allein.
Jacob greift sofort zu und lädt sich ein großes Stück Torte auf den Teller.
„Hm! Hab ich zuviel versprochen?“, mampft er. Und nein, hat er nicht. Von wegen „ein paar Kekse besorgen“. Günter probiert selbst etwas von der Torte und obwohl er nicht sonderlich auf Süßkram steht, ist das hier einfach exzellent. Kaum haben die beiden sich an der Torte bedient, tritt Miguel wieder an den Tisch, bedeckt die Zitronen-Sahne-Torte mit der Silberhaube, stellt sie zur Seite und reicht seinen beiden Gästen vom zweiten Tablett einige Kekse.
„Zur Entspannung“, sagt er. „Jetzt müssen wir ein wenig warten. Erzählt mir währenddessen: Was bringt euch hier in die Gegend?
Günter berichtet Miguel von dem Plan, Beffaná die gesamte Adventszeit mit Geschenken zu überraschen und Miguel nickt.
„Ja, Beffaná! Ich hab das was in der Küche, das könnte Euch interessieren, aber zuerst müsst ihr die Torte probieren!“
Damit stellt er die Torte zurück auf ihren Tisch.
„Nein danke!“, sagt Günter, „aber ich hatte schon ein wirklich großes Stück…“
„Aber nicht hier von“, sagt Miguel lächelnd und hebt die Silberhaube von der Platte.
„WAS…?“ Günter ist baff. Statt der Zitronen-Sahne-Torte steht vor ihm eine kleine Schneemann-Skulptur aus Sahne. Der Schneemann hält einen Besen aus Schokostäbchen…
„Pfefferminzstäbchen“, korrigiert Miguel, und statt eines Hutes trägt der Schneemann eine Art Lorbeerkranz aus…
„Zitronenmelisse“ erklärt Miguel. „Ihr müsst es probieren, ich bestehe drauf.“
Die Torte hat ihren zitronigen Geschmack behalten, der aber durch Pfefferminz ud Schokolade wunderbar ergänzt wird.
„Donner“, krächzt Günter. „Eine coole Zaubershow!“
„Nein, nein, nein!“ wehrt ich Miguel, während er die Haube zurück auf die Torte stellt, „In meinem Haus gibts es nur ehrliches Konditorenhandwerk!“
Während er ein Schälchen anderer Kekse reicht – Günter ist nun wirklich vollständig abgefüllt mit Fett und Zucker – sagt er: „Mein Vater hielt große Stücke auf die Weihnachtshexe. Er war regelrecht vernarrt in sie und auch in die Geschichten über sie. Gehörst du…“ er wendet sich an Günter „… zur Krähenpostreaktion, die das alles aufgeschrieben hat?“
„Allerdings!“ sagt Günter. „Unsere erste Hexenreporterin war eine Maus und den habe ich den Job gemacht.“
„Dann bestehe ich drauf, dass du als höchstes Maß meiner Anerkennung unsere Schwarzwälderkirschtorte probierst!“ sagt Miguel und hebt erneut die silberne Haube von der Torte. Da! War da nicht irgendetwas auf der Torte? Günter schaut genau hin. Nein. Nichts. Alles ist perfekt. Ja genau! Absolut perfekt! Vor sich sieht er eine kleine, aber einfach großartig hergerichtet eSchwarzwälderkirschtorte mit perfekt dunkelroten Kirschen als Zierde auf den kunstvoll gespritzten Sahnehäubchen.
„Ich bestehe darauf.“ sagt Miguel.
„Absolut erstaunlich!“ sagt Günter mit vollem Mund und wendet sich Jacob zu. „Weißt Du, was der Trick ist?“
Jacob zuckt mit den Schultern. „Ist kein Trick. Lass mal in die Küche gehen. Miguel, du wolltest uns doch etwas zeigen.“
Die Küche hinter dem Verkaufstresen ist genau wie der Verkaufsraum absolut sauber und modern eingerichtet. Auf blank polierten Metallischen sind einige Torten und Kuchen in der Mache.
„Schau!“ sagt Miguel lächelnd und zeigt auf eine Rührmaschine.
Günter kommt nicht mit. „Ja, und?“
„Es ist der Thermomix, verstehst du?“ sagt Jacob. „DER Thermomix. Den Beffaná Jorge geschenkt hat.“
„Ah….“ Das ist wirklich lange her, überlegt Günter. Das war noch vor seiner Zeit bei der Krähenpost. Aber die Geschichte kennt er natürlich. Wie Beffaná Jorge diese Maschine geschenkt hat, damit seine Mehlmotten und Kakerlaken nicht so viel Arbeit in der Küche haben. Denn Jorbes Küchencrew bestand immer ausschließlich aus einer Horde kulinarisch geschulter Schädlinge. Diese Marotte scheint Miguel nicht übernommen zu haben, in dieser blitzblanken Küche hier…
Moment. Ist das nicht…
„Cheffe!“ Irgendetwas piepst hier…?
„Cheffe, das funktioniert einfach nicht – hicks – hinten und vorne nicht!“
Da! Ist das nicht ein fetter Mistkäfer, der aus der einen Torte auf der Arbeitsplatte steigt. Er trippelt im Zickzack auf die Männer und die Krähe zu.
„Cheffe, das mit der Eierlikörtorte is’ ne gefährliche Sache!“ piepst der Mistkäfer, „da ist zu…, zu viel Alkohol drin – hicks. Definitiv. Das schaffen wir nicht.“
Aus dem Boden der Eierlöikörtorte kriechen nun weitere Mistkäfer heraus.
„10 Minuten. Minimum – hicks!“, kräht einer der Käfer. „Sonst wird das mit dem Umbau nichts! Und wir brauchen mehr Leute. Doppelt. Minimum! Hicks!“
„Unmöglich!“, ruft Miguel. „Die sind noch alle vorne in der Zitronen-Schwarzwälder! Und by the way, Ernesto, man hat dich gesehen, wie du unter die Torte zurück bist. Du hast ihn doch gesehen, Günter, oder? Du hast so geguckt!“
´“Ich, ich dachte ich hätte da was…“ stammelt Günter, aber das reicht Miguel schon.
„Leute, das ist UN-PRO-FESSIONELL! Und außerdem hat die Kirsch noch ganz schön nach Zitrone geschmeckt. Was haben die Mehlwürmer während des Umbaus gemacht? Geschlafen? Die müssen die Zitrone wegfressen, sonst geht die Kirschnote unter!“
Von drüben aus dem Verkaufsraum trippelt jetzt eine große Schar verschiedenster Insekten, Motten und Würmer zu ihnen in die Küche. Günter sieht, dass sie alle aus dem Boden der Schwarzwälderkirschtorte herausgekrochen kommen.
„Und Du, Daniello, Du wärest doch beinahe wieder aufgegessen worden!“, schimpft Miguel. „Ich hab genau gesehen, wie Du Jacob im letzten Augenblick noch von der Gabel gerollt bist!“
„Tschuldigung“, stöhnt Daniello. „Ich wollte noch Gertrud retten, aber für die war’s dann zu spät.“
Der kleine Mehlwurm senkt den Blick und für ein paar Sekunden ist die ganze Crew in Schweigen versunken.
„Das ist der Weg.“ sagt Miguel schließlich mit feierlicher Stimme und alle Würmer, Motten, Käfer und Fliegen stimmen ein.
„Das ist der Weg!“
Dann hält Miguel Günter und Jacob eine Tüte Plätzchen hin, die mit einer wunderbaren Schleife versehen ist.
„Das ist für Beffaná“, sagt er. „Das Team des „Gâteau surprise“ wünscht guten Appetit!“
„Und Du bist sicher, dass ihr nicht jemanden das drin vergessen habt?“ ´fragt Günter.
„Ganz sicher!“ sagt Miguel. „Alwine und Gustav sind völlig freiwillig da drin!“
In der transparenten Tüte nicken zwei Mehlwürmer Günter mit erster Miene zu.
„Ich hab ja gehört, die Hexe macht sich nicht mehr allzu viel aus Plätzchen. Aber die beiden und ihre Nachkommen können auch Eintöpfe und belgische Waffeln, wenn das mehr nach Beffanás Geschmack ist.
„Können sie auch Ziegen hüten?“ fragt Günter und als Miguel ihn nur fragend anguckt schüttelt er den gefiederten Kopf.
„Schon gut, Potzblitz“, sagt er. „Es wird sich schon Arbeit finden.“