Die Geschichte zwischen Thomas Mann und mir ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Oder vielleicht auch einfach ein Paradebeispiel für mieses Timing. Zum ersten Mal begegnete ich dem weltberühmten Literaturnobelpreisträger in der siebten Klasse. Unsere 250 Jahre alte Deutschlehrerin hatte sich für die Weihnachtszeit ein besonderes Highlight ausgedacht. Nachdem sie uns wochenlang mit Theodor Storms „Pole Poppenspäler“ und Gottfried Kellers „Kleider machen Leute“ gequält hatte (beide Werke ihrem Verständnis nach leichte Literatur für das 13-jährige Publikum), wollte sie uns nun, in der stressigen Adventszeit, mit ein wenig Entspannungslektüre jeweils am Ende der Stunde erfreuen. Und so las sie uns in den letzten 10 Minuten jeder Deutschstunde des Dezembers aus Thomas Manns bahnbrechendem Werk „Herr und Hund“ vor. Während sie beim Lesen vor sich hin kicherte, waren wir bereits nach 3 Minuten komplett paralysiert. Ein Mann geht mit seinem Hund spazieren. Jeden Tag. Was für ein Plot! Und wie detailliert er jede Eigenart des Hundes seitenlang in Bandwurmsätzen beschreiben konnte: unvergleichlich.
Unsere nächste Deutschlehrerin war deutlich jünger. Sie machte tolle Sachen mit uns im Unterricht. Aber auch sie hatte einen Narren an Herrn Mann gefressen. Und so gab sie uns schließlich, kurz vor Ende der zehnten Klasse, die „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ zu lesen. Es sei ein exzellentes Beispiel für die Gattung des so genannten Schelmenromans, sagte sie dazu. Das einzig schelmische, was ich damals lernte, war, im Unterricht über ein Buch zu reden, von dem ich nur die ersten fünf Seiten gelesen hatte. Thomas Mann war bei mir, freundlich formuliert, unten durch.
Das änderte sich erst, als ich viele Jahre später während eines studienbegleitenden Praktikums zwei Monate lang keinen Fernseher hatte und auch kein Internet. Also laß ich. Unter anderem die „Buddenbrooks“. Das Buch also, für das Thomas Mann den Literaturnobelpreis bekommen hatte. Und ja, dieses Buch war richtig super-großartig! Von der ersten Seite an! Warum hatten uns unsere wohlmeinenden Deutschlehrerinnen in der Mittelstufe mit banalem Scheiß abgefertigt? Und uns den einzigen Grund, Thomas Mann zu lesen, jahrelang vorenthalten?! Ich war jedenfalls versöhnt mit Herrn Mann, zumindest bis ich krank wurde.
Kurz vor Ende des Studiums lag ich zwei Wochen lang mit einer Grippe im Bett. Ich vertrieb mir die Zeit mit Hörbüchern, da mir wegen einer starken Migräne das Lesen schwer fiel. Die Harry Potters hatte ich alle schon zweimal durchgehört, wie auch zwei Dutzend anderer Hörbücher. Dann fiel mir eine vielstündige Hörbuch-Aufnahme von Thomas Manns „Zauberberg“ in die Hände. Und ich fand ihn furchtbar. Wie bei „Herr und Hund“ und bei den „Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull“ war es wahrscheinlich vor allem mieses Timing. Aber es hilft ja nicht wirklich, wenn man das weiß. Ich lag einfach mit über 39 Grad Fieber und hämmernden Kopfschmerzen im Bett und musste mir das Geschwafel eines Hypochonders in einem Schweizer Sanatorium anhören. Hölle! Nicht falsch verstehen: ich fand es ja auch blöd, dass er, kaum aus dem Sanatorium entlassen, im Krieg stirbt. Aber sympathischer machte mir das den Zauberberg trotzdem nicht. Allerdings mochte ich den Namen des Protagonisten: Hans Castorp.
Viele Jahre später überzeugte mich ein Kollege (von Haus aus Psychologe), dass der Zauberberg ein ganz tolles Werk sei und dass ich ihm doch bitte noch eine zweite Chance geben solle. Aus Zeitmangel und Unlust tat ich es nicht, hatte aber ab diesem Zeitpunkt ein leicht schlechtes Gewissen über mein unter Umständen vorschnelles und durch die Krankheit getrübtes Urteil gegenüber dem Zauberberg. Als mir für die Beffaná-Geschichte lange kein passendes Szenario für eine erneute Konfrontation der Hexe mit dem bösen Zauberer Mino einfiel, kam mir die Idee für einen Endkampf in einer Hügellandschaft. Und aus der Assoziationskette Zauberer – Berg heraus kam mir die Idee, Hans Castorp und seinen Zauberberg ein Stück weit vor mir selbst zu rehabilitieren. Indem ich den Zauberberg Castorp zu einer Hauptfigur von Kapitel 21 mache. Einer Hauptfigur mit einem ausgesprochen guten Timing übrigens. Ein elender Hypochonder ist er trotzdem geblieben.