Samstag, 16. Dezember: Besuchstag

Der Stifter wohnt im Einzelzimmer. In genau dem Raum, in dem Sina ihre erste Nacht auf Krahenstein verbracht hat. Sie schüttelt sich bei dem Gedanken, dass er im selben Bett schläft wie sie vor zwei Wochen.

Doch hat sie gerade ein anderes Problem. Ana ist nicht zu finden und Sina benötigt dringend ihre Hilfe. Schließlich entdeckt sie sie, wie sie im Hof in aller Herrgottsfrühe zusammen mit Chris, Becca und Frau Döpfner Kartons in die Schule trägt.

„Ana, hier bist du! Ich hab schon Odette geweckt, weil ich dich gesucht habe.“

„Samstags um 8 Uhr… Wow, Sina, schätze du hast eine neue beste Freundin gewonnen.“

Stimmt. Sina ist ganz froh, dass sie das Zusammentreffen überlebt hat… Andere Geschichte.

„Was machst du hier draußen?“

„Nicht quatschen, Ana“, brummt Döpfner. „Arbeiten. Sina kann auch helfen, wenn sie eh schon da ist.“

„Wir müssen die Kisten mit dem Nahrungsersatz reinbringen.“

„Bluuuhuuut!“, haucht Chris in einem wenig hauchigen Tonfall und schlägt mit der Hand auf eine der Metallboxen. „Nur die Uhrzeit ist echt scheiße.“

Seitdem sie weiß, dass Chris ein Vampir ist, hat Sina sich gefragt, wie er die Schulstunden bei Tageslicht ertragen kann. Von Annika konnte sie während der Normalzeit keine Antwort erwarten, doch Betül glaubt, dass Tageslicht so lange okay ist, wie Chris noch kein vollständig ausgebildeter Vampir ist.

„Aber wird man Vampir nicht durch einen Biss und dann ist man’s einfach?“

„Wenn’s so einfach wäre, wär er kaum hier auf Krahenstein“, meinte Betül. „Die Transformation dauert lange und Chris hat sogar Glück gehabt, dass er so früh gebissen wurde. Da kann er hier zu uns, nach Krahenstein.“

„Sina“, schnauft Döpfner, „Hilf mit oder geh frühstücken. Hier rumstehen is nich!“

„Sorry. Ana, ich brauch deine Hilfe. Hast du ein Tuch für mich?“

„Klar. Warum? Ach… darum…. Hab mich schon gewundert, warum du den Kopf so komisch hältst.“

Ana stellt ihre Kiste ab und sucht nach der Direktorin.

„Frau Döpfner, ich muss mal kurz mit Sina reingehen. Notfall. Ein, äh, Frauending.“

„Du bist’n Zombie, Ana! Ach so, bei Sina. Aber beeil dich!“

„Becci trägt bestimmt meinen Teil. Machst du gerne, oder Becci?“ 

Blick zu Becca, mehrere dubiose Handbewegungen, mit denen die beiden einen Handel abwickeln, den nur jahrelange Zimmergenossinnen verstehen können.

Dann nickt Becca.

„Ja, stimmt. Ich mach das.“

„Was hast du bei Becca eingetauscht?“

Ana und Sina sind auf dem Weg zu Anas Zimmer.

„Hat mit dem Zeug in den Kartons zu tun. Willst du nicht wissen, glaub mir.“

Stimmt, Sina will’s nicht wissen.

„Danke, Ana. Ich brauche ein paar Tücher von Dir. Hast du was, was du nicht mehr’ magst, das aber zu mir passt?“

Sina nimmt ihre Kapuze ab und zeigt Ana die zwei Zentimeter große unsichtbare Stelle an ihrem rechten Unterkiefer.

„Autsch! Hast wohl wieder durchgeschlafen.“

„Wie ein Stein.“ 

„Wenn du’s so schlimm findest, warum ziehst du’s dann durch? Ist die Halb-Stunden-Routine (für die Vorleserin: Routine Englisch vorlesen) so schlimm?“

„Ja. Das, und die Unausweichlichkeit. Wie lange halte ich das durch? Zwei, drei Monate? Ich hab keinen Bock mehr, Ana. Und… Vielleicht will ich wissen, was danach kommt… Keine Ahnung.“

„Es geht schnell bei dir, weißt du. Viel schneller als bei Betül. Hast du mit jemandem drüber gesprochen? Mit Betül? Oder mit… Du weißt schon.“

„Niederlage?!“

„Quatsch! Ovid!“

„Gib mir einfach ein paar Tücher, Ana. Du kriegst sie zurück. Bald. Ach fuck…“

 Sinas Eltern rufen nach dem Frühstück an. Sie sind schon auf dem Weg zu ihr. Ob es ihr gut geht? Ob die Leute okay sind, die Lehrer*innen, das Essen…?

„Alles genau wie auf dem Merkblatt“, sagt Sina und legt auf.

„Alter. Bitch.“, sagt Betül. Aber sie hilft Sina beim Aussuchen des richtigen Tuches.

Ich sehe aus wie eine Beduinenprinzessin, denkt Sina. Wer weiß. Vielleicht sind das auch alles Bettenmonster… Oh, wow. Das kann man auch falsch verstehen… 

Als Sina um zehn am Gemeinschaftsraum vorbei läuft, trifft sie Ovid zusammen mit Rico. 

„Ricos Eltern kommen gleich“, sagt Ovid. „Wir müssen unser Zimmer herrichten.“

„Ihr wohnt doch mit Emil zusammen?“

Sina kann sich nicht vorstellen, dass es ein Ordnungsproblem gibt, wenn man mit einem Heinzelmann zusammenwohnt.

„Bei uns sind selbst die Taschentücher im Mülleimer gefaltet, Sina! Genau das ist das Problem. Wir müssen’s auf Normalmaß bringen!“

Rico ist der Jüngste in ihrer Klasse. Er ist zwar breit wie ein Schrank und strubbelig wie ein Pirat, aber sein Gemüt ist eher sechs oder sieben Jahre alt. Sina hat Ricos Eltern noch nie gesehen, obwohl sie jedes Wochenende kommen. 

„Meine Eltern“, sagt Rico, „finden Ordnung, also DIESE Art von Ordnung, ziemlich furchtbar.“

„Warum erklärst du’s ihnen nicht? Sie wissen doch, was für eine Art von Schule das hier ist.“

„Ja, hab ich.“

„Und?“

„Sie wollten Emil aufessen.“

„Oh.“

„ Sie sind noch sehr traditionell.“

„Was…? Also, darf ich… das fragen?“

„Wir sind Yetis.“

„Hui, hätte ich gar nicht…, ähm, gedacht!“

Na klar, jetzt ergibt das alles einen Sinn! Natürlich ist Rico ein Yeti! 

„Ovid, kann ich dich kurz mal sprechen?“

„Klar, pass auf, ich muss nur kurz mit Rico unser Zimmer verwüsten und eine Stunde lang Wache stehen, damit Emil nicht kommt und alles wieder sauber macht und dann bin ich ganz für dich da. Okay?“

„Ja okay.“

Ja okay, Ovid. Weil ich unendlich viel Zeit habe. Auch wenn ich jetzt schon aussehe wie ein verdammter Zombie. Und, hey, ich trage auch schon die Klamotten eines Zombies! Aber lass dir ALLE ZEIT DER WELT! Dann stehst du als Vogelscheuche auf einem Feld herum und ich bin unsichtbar und suche nach dem Ort, wo ich den Rest meines Lebens unter einem Bett rumliege! Geh und schmeiß mit deinem Kumpel ein paar Klamotten durch die Gegend! Das ist genau das, was du jetzt tun solltest!

„Sina, alles klar bei dir?“

„Alles klar. Beeil dich besser.“

„Was?“

„Weil… die Eltern von Rico kommen gleich.“

„Oh, ja klar! Hau rein!“

Sinas Eltern sehen nicht gut aus. Sinas Anblick, als sie kurz das Tuch herunterzieht, macht die Sache nicht gerade besser.  

„Sina, es ist schlimmer geworden.“

Sina denkt: Was hast du gedacht? Das hier ist eine Schule, kein Krankenhaus für Freaks!

Sina sagt : Gar nichts und zuckt mit den Schultern.

„Was hast du am Telefon gemeint? Mit dem Merkblatt?“

„Nur das Merkblatt, das alle kriegen. Außer mir. Weil ihr’s mir nicht gegeben habt.“

„Haben wir nicht?“

„Verarschen kann ich mich alleine! Du hast mir ein Pausenbrot mit Wellenkante mitgegeben, Papa! Aber das wichtigste Merkblatt habt ihr vergessen? Und das Elterngespräch vorher? Das Gespräch, um das Euch Aranea Appelbaum gebeten hat, weil sie ALLE Eltern darum bittet?!“

Ihre Eltern blicken betreten zu Boden. Die drei laufen den Waldweg nach unten in Richtung Krahlheim. Annika meint zwar, das sei im Winter zu glatt und zu gefährlich, aber wenigstens haben sie hier Ruhe vor den fetten Alien-Eltern-Autos.

„Wir… wir standen unter Schock“, sagt ihr Vater.

„Wir… wir konnten es einfach nicht glauben“, sagt ihre Mutter.

„Wir… wir standen unter Schock“, sagt ihr Vater.

„Wir… wir haben nichts auf die Reihe gekriegt“, sagt ihre Mutter

„Wir haben gedacht, dass es dieses mal bestimmt etwas Anderes ist“, sagt ihr Vater.

„Wir wollten das nicht noch einmal“, sagt ihre Mutter.

„Wir dachten, Grimm erledigt das“, sagt ihr Vater.

Wr wollten das nicht noch einmal?

Grimm erledigt das?

Das Café in der Fußgängerzone ist gut gefüllt. Es ist Weihnachtsmarkt in Krahlheim, außerdem ist Elternbesuchstag und viele Möglichkeiten eines Ausflugs gibt es nicht in dieser Gegend. 

Sinas Eltern sind nicht sonderlich gut darin, Dinge zu organisieren. Sie sitzen an einem Tischchen für zwei, direkt neben dem Klo. Sina hat ihr Tuch fest bis über den Mund gezogen. Immer wieder bekommt Sinas Vater die Toilettentür in den Rücken gerammt, aber er sagt:

„Schon okay. Ist gut für meine Bandscheibe.“

„Wir waren alleine bei Frau Appelbaum. Und die hat eine Kollegin dazugerufen. Du wirst sie natürlich kennen, weil sie uns viel über dich erzählt hat.“

„Grimm.“

„Genau. Wo ist sie? Habt ihr in gutes Verhältnis?“

„Geht so. Weiter.“

„Sie hat gesagt, wir sollen alles Weitere ihr überlassen. Dass sie die Schule sehr gut kennt, dass sich kümmert, dass für dich am Anfang alles ziemlich überwältigend sein wird.“

„Und ihr habt ihr einfach so vertraut?! Warum habt ihr mir dann nichts gesagt?“

„Frau Appelbaum hat mit ihrem Leben für sie gebürgt. Und für ihre Methoden. Sina: Das ist alles sehr schwer für uns. Doch Grimm hat Appelbaum jeden Tag berichtet, wie es dir geht.“

„Wir gehen immer noch regelmäßig zu Frau Appelbaum. Sie ist uns eine große Hilfe.“

„Sina“. Ihr Vater setzt sich nah an sie heran, damit er Sina und ihre Mutter gleichzeitig umarmen kann. 

„Vor siebzehn Jahren, da… da hatten wir ein Kind.“

„Deine Schwester“, sagt Sinas Mutter und Tränen fließen über ihre Wangen.

„Wir haben sie verloren.“

Sina kann nicht sprechen. 

„Wir haben sie auf eine der schlimmsten Weisen verloren, die du wir vorstellen kannst.“

Sinas Vater räuspert sich.

„Sie ist verschwunden. Am Abend nach ihrer Geburt lag sie in ihrem Bett auf der Geburtsstation. Und als ich nach fünf Minuten nachgeschaut habe…“

„Da war sie weg“. Die Hand ihrer Mutter krallt sich ins Tischtuch.

„Wir sind durch die Hölle gegangen“, sagt Sinas Vater. „Und wir haben nach jedem Strohhalm gegriffen, den uns jemand hingehalten hat.“

„Eines Tages“, sagt ihre Mutter, „wurde ich von einem Mann angesprochen. Er sagte, er könne uns vielleicht helfen. Er sagte, dass manche Kinder nicht wirklich verschwinden, auch wenn wir sie nicht sehen. Er…“

Ein Mann und ein Junge kommen aus der Toilette und der Schwung der weit aufgerissenen Tür rammt Sinas Vater zur Seite.

„Entschuldigung, der Tisch steht nicht optimal.“

„Wie dämlich kann man sein, sich direkt vor das Klo zu setzen!“

Der Mann trägt einen teuren Mantel, Sina erkennt sofort den Alien-Style. Vor allem erkennt sie den Alien-Jungen: Sebastian Liebwitz von Stöckendorf. Sebastian erkennt Sina zuerst nicht unter ihrem Tuch, dann aber mustert er ihre petrolfarbene Beanie-Mütze. Er wispert seinem Vater etwas ins Ohr.

„Schau an, schau an“, sagt Herr von Stöckendorf. Sina erinnert sich: Helmut. Der Mann von Adelind. Manche Namen vergisst man nicht.

„Du brauchst dich nicht zu verstecken, junge Dame. Also Du hast in Sebastians Zimmer randaliert?“

„Das stimmt nicht, ich war unten auf dem Schulhof, als es passiert ist! Zusammen mit Sebastian! Er kann es selbst bezeugen!“

„Ich weiß.“ 

Herr von Stöckensdorf hat sich inzwischen zwischen Sinas Eltern gestellt wie ein Baum zwischen zwei Grasbüschel, und funkelt Sina böse an.

„Und an die Wand über dem Vertretungsplan haben du und deine behinderten Kumpane unseren Jungen auch nicht gefesselt, nicht wahr?“

„Entschuldigung, wir sind hier gerade in einem familiären Gespräch und wir lassen uns auch nicht beleidigen“. 

Sina ist noch nie aufgefallen, wie leise die Stimme ihres Vater ist.

„Ach, die Eltern! Das trifft sich gut! Ich bin Helmut von Stöckendorf! Ich bin der Vater von Sebastian und Sie kennen mich vielleicht nicht, aber mein Unternehmen sagt ihnen bestimmt etwas. MTH. Messe- und Touristik-Holding!“

„Ja, äh, nein, um ehrlich zu sein. Wenn meine Tochter sagt dass sie nichts mit diesen Dingen zu tun…“

„Sie wissen ganz genau, was Ihre Tochter ist. Sie ist ein Freak! Ein gefährlicher Freak! In einer ganzen Klasse voller Freaks! Und wenn sie sich nicht augenblicklich bei Sebastian entschuldigt…“

„Entschuldigung. Sorry, Sebastian! Tausendmal Entschuldigung! Wirklich. Ich hab versucht, dich von der Wand herunterzuholen, und ich weiß nicht, wie du da hingekommen bist aber okay…. Und die Sache mit dem Schweizer Konto deiner Eltern hast du wirklich ganz alleine durch die ganze Schule geschrien, und zwar noch bevor ich überhaupt in der Nähe war. Erinnerst du dich?“

„SEBASTIAN!“ DU HAST… WAS?!“

„Papa, ich konnte gar nicht anders, ich…“

„Wir sind noch nicht fertig miteinander, Sina!“, brüllt von Stöckendorf und zieht seinen Sohn aus dem Café.

„Was war das gerade?“, fragt Sinas Mutter.

Aliens“, sagt Sina. „Idioten.“ Eigentlich ist sie schon wieder ganz woanders.

„Leute! Jetzt erzählt endlich! Der Mann! Der euch helfen wollte! Der gesagt hat, manche Kinder verschwinden nicht wirklich! Was war mit dem Mann?!“

  „Er hat uns Hoffnung gemacht, damals, auch wenn es total irrsinnig war.“

Sinas Mutter nimmt ihre Hand.

„Ich weiß nicht mal, warum wir ihm überhaupt so lange zugehört haben! Er hatte eine sehr überzeugende Art…“

„Er hat uns manipuliert“, sagt ihr Vater. „Wir mussten ihm alles erzählen, von der Schwangerschaft, der Geburt, alles. Er hat stundenlange Einzelgespräche mit uns geführt. Es war manchmal, als würde er in meinen Kopf hineinschauen.“

„Das alles kam wieder hoch, als Aranea das erste Mal von der Schule erzählte. Erst hatte ich nur ein ungutes Gefühl, aber dann hab ich mich wieder erinnert. Er hat uns erzählt, dass er Leiter einer Schule ist, die Krahenstein heißt.“

„Was? Mama, Papa? Hieß der Mann irgendwas mit Mino… tauros?“

„Nein. Nein, nein, Er hieß… Krampus. Asterios Krampus. Er ist der Grund, warum ich so skeptisch war, als Aranea ausgerechnet Krahenstein vorschlug. Später erzählte  sie, dass es in Krahenstein keinen Schulleiter gibt, sondern eine Schulleiterin. Die Frau Dr. Döpfner. Und ich dachte, vielleicht erinnere ich mich falsch, oder dieser Krampus war wirklich mal auf Krahenstein und ist inzwischen lange weg, oder er hat uns von Anfang an belogen.“

„Natürlich hat er das“, sagt Sinas Vater. „Er hat sich nie wieder bei uns gemeldet.“ 

Sina ist wie vom Donner gerührt. Minotauros Asterios Krampus. Der Stifter. Er war dieser Mann. Und jetzt, ausgerechnet zwei Wochen, nachdem sie hier, ist taucht er wieder an der Schule auf? 

Krahenstein, das riesige Netz mit den losen Enden wickelt sich um Sinas Hals und lässt sie kaum noch atmen.

„Warum habt ihr mir nie von… ihr erzählt?“

Ihre Mutter schüttelt den Kopf. Sie weint. Auch ihr Vater weint. Beide sitzen auf ihren Stühlen an dem viel zu engen Tisch neben der Toilette eines stickigen Cafés in Krahlheim und Sinas Mutter holt aus ihrem Portemonnaie ein kleines, aufklappbares Amulett in Herzfom. Sie gibt es Sina und Sina klappt es auf. Statt der üblichen Fotos sind zwei Namen von innen in das Amulett geprägt: 

Auf der rechten Seite: Sina.

Auf der linken Seite: Kassandra.

Sina schluckt, klappt das Amulett zu und umarmt ihre Eltern.