Ein Rüsseltier in Rage

Es piept und blinkt, die Krähe sitzt
Im Flur,. mit sehr viel Blut bespritzt
Und im OP brüllt lange schon
In schrillem Ton ein Mastodon
Die Vogelscheuchenschwester rennt
An ihm vorbei. Oh nein, sie flennt!
Und scheint sich nicht mehr einzukriegen.
Um sie her eintausend Fliegen
Summend ins Gespräch vertieft.
Kein Zweifel, hier lief etwas schief…
Im Flur sitzt auch, mit kreidebleicher
Miene, Martha, ihres Zeichens
Taxifahrerin aus Freude
Nur nicht heute, liebe Leude

„Krah!“ ruft Günter. „Welche Hektik!
Und das nur der Dialektik
Einer Zeitverschiebung wegen!“
Apropos, da hinten regen
Sich schon wohlbekannte Krallen
Einer Katze, deren drallen
Körper Günter nun fixiert:
„Schrödinger!“ ruft er und stiert
Böse auf die Miezekatze.
Die zieht eine miese Fratze
Leckt ihr Fell und lächelt keck
Rumms! Und ist auf einmal weg.

„Hört mich an!“ krächzt Günter, „Bitte!“
Und macht kleine Trippelschritte
Zum OP. Und hört das Droh’n
Und Schrein vom doofen Mastodon

Ohne die doppelt dusseligen Schnecken wär das alles nicht passiert. Er hätte einfach nicht noch mal hinfliegen sollen, denkt Günter. Aber was tut man nicht alles. Angeblich konnten sie sich plötzlich erinnern, wer Beffaná ist und wer sie selbst sind und angeblich hatten sie auch ein Geschenk für Beffaná. So lautete die Nachricht auf Günters Mailbox in der Redaktion der Krähenpost. Wer auch immer wie auch immer diese Nachricht hinterlassen hatte. Aber seit drum. Günter war mal hingeflogen und wurde, als er zwischen ihnen im sumpfigen Marschland landete nur sehr ausdruckslos angestarrt?
„Beffaná?“
„Du bist!“
„Ich hab keine Zeit zum Spielen, ich muss denken.“
„Du bist!“
„Und wer bist du?“
Günter hatte sich sogar noch ein wenig umgeschaut, vielleicht hatten die Schnecken Beffanás Geschenk irgendwo abgelegt und vergessen. Aber Günter fand nur braunes, matschiges Gras und noch mehr Schnecken.
So ein Reinfall.
Wäre Günter genau in diesem Augenblick zurück in sein Nest geflogen und hätte sich für ein paar Stunden die Decke über den Kopf gezogen: Alles wäre gut geworden. Aber Günter war wütend auf die dummen Schnecken und weil er nun mal eine Krähe ist und kein Engel, hatte er beschlossen, ein oder zwei von Ihnen ganz vielleicht ein klitzekleinesbisschen anzuknabbern. Aus Rache für die zwei Stunden Flug, die er umsonst unterwegs gewesen war und ein bisschen auch aus Hunger. Schnecken schmecken furchtbar, aber Vögel sind nun mal keine Vegetarier. Zumindest Günter nicht. Und irgendwann muss auch ein Günter mal essen, denn der Kuchen vom Vortrag hielt auch nicht ewig vor. Eine hastig und mit geschlossenen Augen heruntergewürgte Schnecke später jedenfalls war es dann passiert. Es machte „Rumms!“ Und Schrödinger saß auf Günters Kopf. Und allem anderen auch.
„Günter!“ rief Schrödinger. „Sehr gut. Das ist mal ne Punktlandung! Hast Du Zeit? Du siehst aus als hättest du Zeit! Aber wie kriege ich dich da jetzt hin…? Hat Du zufällig eine Zeitmaschine? Warte mal, irgendwo hab ich doch eine gesehen. Hui, das ist lange her und weit weg, aber egal. Warte hier, wir brauchen nur eine Wegbeschreibung.“ Dann war Schrödinger wieder weg, aber nur kurz. Als er da nächste Mal auftauchte, saß er in einer Zeitmaschine. DER Zeitmaschine! Der Zeitmaschine, die Knurps, der Pläneschmied vor langer Zeit einmal gebaut haben… werden… wird? Günter hat es vergessen. Aber er hatte auch keine Muße, darüber nachzudenken, denn Schrödinger war nicht alleine gekommen, sondern saß vollkommen eingequetscht am Steuer der Zeitmaschine neben einer griesgrämig aussehenden Frau und, tja, tatsächlich, einem Mammut. „Mastodon!“ röchelte das Mammut näselnd. „Wir bevorzugen Mastodon, ganz egal was die Wissenschaflerinnen sagen.“
Das Mastodon sah nicht gut aus. Es blutete. Und ein Bein wirkte nicht so als sollte es so geformt sein, wie es gerade von seinem Körper abstand. Und der Rüssel war seltsam abgeknickt.
„Die Kurzversion ist die“, sagte Schrödinger. „Das da ist Martha. Du kennst sie vielleicht aus der ersten Ausgabe der Krähenpost. Martha und ich haben Skiurlaub gemacht. In der Eiszeit. Mit Marthas neuem SUV.“
„Jeep“, sagte Martha, als würde das irgendetwas besser oder zumindest logischer machen.
„Und da ist uns dieses Mastodon vor’s Auto gerannt.“
„Ey, ich wohne da!“ jammerte das Mastodon. „Das ist mein verdammter Privatgletscher! Und ihr seit einfach in mich reingefahren!“
„Wie auch immer!“ sagte Schröderinger. „Er – sie…?“ Das Mastodon schüttelte den Kopf „Er stand jedenfalls im Weg und Marthas Jeep hat ganz schön was abbekommen.“
„Mein Bein ist gebrochen!“ jaulte das Mastodon. „Und der Rüssel auch!“
„Ja, ist ja gut“. Schrödinger tätschelte dem Mastodon etwas halbherzig den Kopf und berührte dabei den gebrochenen Rüssel.
„Aua!“ schrie das Mastodon.
„Ich suche jedenfalls jemanden der*die mir den Weg zu den Fliegenärzten zeigen kann. Also: Wo ich sie finde und WANN ich sie finde.“
„Das ist kein Problem“, sagte Günter und auch das war natürlich ein Riesenfehler. Ruckiezuckie saß Günter eingequetscht zwischen einem blutenden, jaulenden Mammut und einer mies gelaunten SUV-Fahrerin in Schrödingers Zeitmaschine und war bald über und über mit Mammutblut beschmiert.

So viel zur Vorgeschichte. Womit Günter nicht gerechneter hatte, war, dass die zappelige Katze nach 20 Minuten Warten in der Klinik der Fliegenärzte die Geduld verlor und einfach abhaute. Schrödinger schnupperte ein wenig in der Luft herum, sagte so etwas wie
„War ich hier schon mal? Es riecht nach Ärger…“
Und war verschwunden.
Jetzt sitzt die Krähe mit Martha auf dem Flur und lauscht den Schreien des Mastodons im OP. Inzwischen lässt er sich von Martha erzählen, wie sie Beffaná früher manchmal herumgefahren hat, zum Beispiel damals zu Nibbel, der alten Lebkuchenhexe, und wie sie von Beffaná zum Dank ein Autoradio bekommen hat.
„War gut gemeint“, sagt Martha. „Leider’n bisschen leise. Ich habs inzwischen wieder verkauft. Nur dass meine wirklich sehr gute und sehr teure neue Anlage jetzt zusammen mit meinem Auto auf einem Gletscher in der Steinzeit herumsteht!“
Im Nebenraum schreit das Mastodon laut auf.
„Was ist denn da los?“ fragt Günter Matilde, als sie tränenüberströmt den Gang entlang kommt.
„Und er sind sie?“ schluchzt Matilde.
„Hä? Ich bins, Günter!“
„Sind sie ein Angehöriger?“
Günters Blick fällt auf den Kalender an der Wand. Dritter Mai. Moment… Wie, was? Welches Jahr? So! Eine! Doofe! Sch…!“
Es besteht kein Zweifel, Schrödinger hat sie irgendwo in der Vergangenheit abgesetzt. In einer Zeit, als Matilde und Günter sich noch nie vorher getroffen haben.
„Ich, äh,…“ Günter wird auf einmal schwindelig. „Ich, äh, ja genau. Ich, äh. Bin der Sohn.“
Matilde mustert die Krähe kurz von oben bis unten. Dann zuckt sie mit den Schultern.
„Es gab Probleme, als wir ihn zusammengeflickt haben.“
Aus dem OP hört man ein „Ich verklag euch alle, ihr absoluten Volltrottel!“
Immerhin, denkt Günter, das Näseln ist weg.
„Wir haben aus Versehen den, äh, Schwanz, äh, vorne, also, und den Rüssel, äh, hinten“ stottert Matilde und fängt wieder an zu schluchzen.
„Wo ist diese Krankenschwester!“ brüllt es aus dem OP. „Wie war gleich ihr Name? Matilde? MATILDE! Ich will sofort mit meinem Anwalt sprechen.“
Okay, denkt Günter, wie kriegen wir das alles wieder hin?
„Matilde?“
“Ja?“
„Kennst Du, also, kennen Sie die Weihnachtshexe Beffaná? Vielleicht kann sie ja helfen?“
„Von Weihnachtshexe weiß ich nichts“, sagt Matilde. „Aber Beffaná? Klar. Junges Ding. Helfersyndrom. Emotional manchmal bisschen labil. Aber sehr, sehr nett. Hartmir schon wirklich geholfen. War erst vor einem halben Jahr hier. Depressive Verstimmungen. Irgendwas mit Schnecken, wenn ich mich re hat erinnere…? Aber, pssst, das hast du nicht von mir,. Schweigepflicht.“
„Junges Ding?“ Jetzt ist Martha hellhörig geworden. „Wieso junges Ding?“
Günter zieht sie beiseite und bringst sie flüsternd auf den neusten Stand bezüglich ihrer aktuellen Lage im Raum-Zeit-Kontinuum.
„Ich wette, Beffaná kann helfen in der Sache mit… dem da“, sagt Günter zu der Vogelscheuche und deutet in Richtung des OPs. Dann setzt er sich bei Martha auf die Schulter.
„Wir müssen jetzt weiter. Eine verdammte Katze finden.“
Aus dem OP schreit schon wieder das Mastodon: „MATILDE! Ich habe mir deinen Namen gemerkt, Matilde, und ich verspreche dir, ich verklage dich und deine Fliegen von hier bis Alaska und wieder zurück!“
Bereits im Gehen begriffen, wendet sich Martha noch einmal zu Matilde um und steckt ihr eine Visitenkarte zu.
„Tun Sie mir einen Gefallen? Wenn Beffaná hier vorbeikommt, geben Sie ihr die Karte und sagen Sie ihr: Wann immer sie mal eine Fahrerin braucht, sie muss nur anrufen. Sagen Sie ihr das? Martha fährt sie überall hin, auch ans Ende der Welt.“
Dann lassen sie die verwirrte Vogelscheuche Matilde in der Klinik der Fliegenärzte zurück und treten an die frische Luft.
„Seltsam“, sagt Günter. „Es ist fast, als könnte ich den Nordwind riechen. Potzblitz! Es duftet nach Schnee und Abenteuer.