Die Glocken schlagen, Mitternacht
Die Schar der Ratten ist erwacht
Und eilt vom Fluss zum Schein der Lampe
Licht im Nebel gelblich-weiß
Die Nager bilden einen Kreis
Ums große Tor der Laderampe
Dunkel lauert das Geäst
Das drohend Schatten hinterlässt
Es steigt der Ratten Ungeduld
Doch bleibt es still, es geht kein Wind
„Was ist denn?“ piepst ein Rattenkind
Da regt sich in der Schar Tumult
Denn in des Weidenbaumes Höhe
Regt sich krächzend eine Krähe
„Krah!“ ruft Günter „Heut gibts kaum
Ein Stück vom Schattenspielerbaum
Ganz morsch ist er und ohne Laub!“
Und wie zum Nachweis geht ein Zittern
Durch den Baum, zwei Äste splittern
Krachend in den kalten Staub.
Es ächzt der Stamm und leises Klopfen
Hallt herüber, letzte Strophen
Eines Baumes Untergangs
Blitzschnell verziehen sich die Ratten
Fern vom Baum und seinem Schatten
Lauschen sie dem Grabgesang
„So hört mich an“, krächzt Günter, „Heute
Werdet Ihr zu Zeugen, Leute!
Wie aus Fäulnis und Verlust
Ein neues Leben keimen muss“
Es ist kalt geworden und die alte Reporterkrähe fliegt vom hohen Ast der alten Weide hinunter ins besser geschützte Gebüsch. Günter ist ein bisschen erschöpft vom Abend. Nachdem er das Sturmgespenst bei Matilde und den Fliegenärzten abgeliefert hatte, musste er Beffaná noch das Album mit den Fotos ihres Vaters übergeben. Sie wirkte überrascht, als sie das Büchlein vom Rasen aufhob an der Stelle, wo das Sturmgespenst hingefallen wear. Ihr Gesicht blieb reglos, während sie das Album durchblätterte. Immerhin folgte ihr die ganze Zeit das kleine Zicklein Helena, das von Polly geschickt worden war.
„Immerhin“, denkt Günter. „Ein gutes Zeichen.“
Die Ratten haben sich verzogen. Es ist nicht das erste Mal in den letzten Wochen, dass sie vergebens zum Supermarktparkplatz nahe des Flusses gekommen sind, um am großen Tor der Laderampe auf ein neues Stück des Schattenspielerbaumes zu warten. Einige der Rattenjungen haben noch kein einziges Stück gesehen und kennen die Geschichten von den großartigen Aufführungen der Vergangenheit nur von ihren Eltern und Großeltern. Es ist schon viele, viele Jahre her, dass Beffaná zusammen mit ihrer Küchenmaus den Schattenspielerbaum besucht und ihm ein Windspiel geschenkt hat. Längst ist es von Wind und Wetter in alle Richtungen davongetragen worden, Günter sieht keine Spur mehr davon. Er kann nur raten, wie alt die mächtige Silberweide inzwischen ist, aber er würde sich nicht wundern, wenn sie die 200 Jahre bereits überschritten hat. Während sich die Ratten nach und nach verziehen und in den Mülltonnen neben dem Supermarkt einen Mitternachtssnack zusammenstellen, inspiziert Günter den Zustand des Baumes. Die vollkommen blattlose Weide scheint ihr Laub nicht erst in den letzten Wochen verloren zu haben. Während einige ihrer Artgenossen wegen des bisher milden Dezembers noch immer einige Blätter tragen, ist die Silberweide offensichtlich schon länger fast kahl. Günter versteht kein bäumisch und kann sich im Gegensatz zu Beffaná nicht mit Bäumen unterhalten. Umso gespannter ist er, warum er heute Nacht von Jacob Grimm, Beffanás Bruder hierher bestellt wurde. Jacob hat lediglich mitteilen lassen, dass es sich um einen schönen Anlass handelt. Und dass das Treffen etwas mit einem Geschenk für Beffaná zu tun hat. Günter hüpft näher an den Stamm des Baums heran und da hört es es wieder: Eine Art leises Klopfen. Ist das der Baum, der da zum ihm sprechen will?
„Es ist nicht der Baum, falls du das überlegst“, ertönt da eine Stimme hinter ihm. Es ist Jacob Grimm. Jacob hat stark abgenommen. Damals, als er sich noch fast ausschließlich im Kaufhaus herumtrieb, war er ziemlich fett gewesen. Jahrelang hat Jacob das Kaufhaus in der Innenstadt unsicher gemacht. Verkäufer*innen in den Wahnsinn getrieben und die schönsten Ausstellungsstücke immer für sich selbst behalten. Inzwischen ist aus dem dicklichen Quälgeist ein eher langes, dünnes, fast unsichtbares Männchen geworden.
„Ach Mist“, denkt Günter. „Bestimmt liest er…“
„Deine Gedanken?“ Jacob nickt. „Es ist nicht so, dass ich’s drauf anlege, Krähe. Aber du bist so durchsichtig wie der Kaffee im Spielkasino.“
Richtig, seit das Kaufhaus geschlossen hat, geht Jacob gerne ins Spielkasino und verhagelt den Leuten dort ihre Glückssträhnen.
„Irgendwas muss man ja machen mt seiner Zeit“, sagt Jacob. „Die Kaufhäuser sind langweilig, leer und inzwischen meistens geschlossen, und Amazon-Versandzentren durcheinanderzubringen macht auch keinen Spaß. Es ist den Versandrobotern völlig egal, ob ich ein Regal durcheinanderbringe oder nicht. In Kasinos dagegen…“
Jacob klopft an den Stamm des Schattenspielerbaums, „…im Kasino ist noch Spannung und Leidenschaft zu spüren. Dort hin und wieder einer pensionierten Studienrätin die Tour vermasseln und sie ihre Monatsrente verzocken lassen, das ist schon sehr lustig!“
Jacob hat sich offensichtlich kaum geändert. Dabei war der jüngere Bruder der Weihnachtshexe, wenn Günter Beffaná richtig verstanden hat, früher mal ein süßer, begabter Zauberer.
„Was möchtest du?“ fragt Günter. „Du sagtest, du hättest ein Geschenk?“
„Nicht ich“, sagt Jacob. „Der Baum hat eins. Dafür müssen wir zwei Stockwerke höher.“
Jacob schwebt mühelos am Stamm der Weide zwischen ihren dickeren Ästen nach oben, bis er sich auf einer stabilen Astgabel niederlässt. Günter fliegt ihm hinterher.
„Warum eigentlich braucht Beffaná einen Besen und du schwebst einfach durch die Gegend?“, fragt ar, als er oben bei Jacob angekommen ist, aber der winkt nur ab.
„Das muss du die Zauberlehrerinnen und -lehrer fragen“, sagt er. „So wie ich das sehe, kann jede Hexe und jeder Zauberer ganz spezielle Sachen. Und einige andere Sachen eben auch nicht. Beffaná kann nicht alleine schweben, ich kann keine Krähen ertragen.“
Jacob lacht, als hätte er einen außerordentlich guten Witz gemacht und macht sich an dem Ast neben sich zu schaffen. Mit einem beherzten Ruck bricht er den Ast ab und hält ihn Günter entgegen.
„Hör mal, Krähe.“
„Was, hören?“
„Den Ast, Idiot“, entgegnet Jacob. Natürlich ist Jacob genau wie Beffaná inzwischen ziemlich alt geworden, aber er redet und verhält sich noch genauso, wie er es als Kind getan hat.
Günter horcht an dem Ast. Da ist es wieder, das Klopfen.
„Was ist das?“!
„Das Geschenk. Für Beffaná. Und ja, es ist okay für die Weide, dass ich das abgebrochen habe. Es war ihr Wunsch.“
„Aber was bedeutet das Klopfen?“ fragt Günter.
„Das ist die Totenuhr“, entgegnet Jacob. „Wirklich, so nennt man das. Oder wissenschaftlich ausgedrückt: Xestobium rufovillosum, der Gescheckte Nagekäfer.“
„Kapier ich immer noch nicht“, sagt Günter.
„Du kannst auch einfach Holzwurm dazu sagen“, seufzt Jacob. „Der neue Bewohner des Schattenspielerbaums. Er klopft auf das Holz, in dem er wohnt.“
„Ach, DIE Totenuhr!“ Günter hat schon von dieser Holzwurmart, also eigentlich Holzkäferart gehört. Wenn sie durch ihre Gänge im Baum kriechen und mit dem Kopfpanzer an das tote Holz stoßen, hört man dieses Klopfgeräusch. Früher haben die Menschen, wenn sie dieses Geräusch in ihren Häusern aus Holz oder Fachwerk gehört haben, geglaubt, dass das Klopfen der Holzwürmer ein böses Zeichen und ein Vorzeichen des Todes ist.
„Für die arme Weide ist es das ja auch“, sagt Günter laut, aber Jacob schüttelt energisch den Kopf.
„So ein Quatsch, Krähe! Der Schattenspielerbaum ist heilfroh, dass es in seinem Holz neue Bewohner gibt. Bäume sind irgendwie entspannter mit dem Lauf des Lebens. Gestern hab ich einem Molkereizubehörvertreter im Kasino so richtig die Tour vermasselt! 3.000 Euro hat er verzockt und war so richtig angepisst. Was natürlich Blödsinn ist“, sagt Jacob. „Das Geld ist ja nicht weg. Es wandert nur weiter. So ist das Leben. Der Molkereizubehörvertreter bringt das Geld zur Spielbank, verzockt es, von dort kommt es auf ein Konto bei einer richtigen Bank, dann in einen Aktienfonds, wo es sich vermehrt, dann weniger wird, dann wieder vermehrt und so weiter und so fort. Der Molkereizubehörvertreter ist trotzdem sauer. Ein Baum versteht die größeren Zusammenhänge. Alles ist im Wandel, nichts verschwindet einfach.“
„Und was soll ich jetzt mit dem Ast da machen?“
„Beffaná schenken, natürlich“, sagt Jacob. „Die versteht das schon. Sie hat unter der Arbeitsplatte in der Küche ein schönes Stück feuchtes, pilziges Holz verarbeitet, dahin kann sie die Käfer aus dem Ast wunderbar umsiedeln.“
„Ich glaube, Holzwürmer sind in ihrem Mietvertrag nicht erlaubt“, sagt Günter, aber im selben Augenblick merkt er, wie spießig sich das anhört. Immerhin redet er von der Weihnachtshexe Beffaná.
„Den Zweig musst du ihr schon selbst vorbei bringen“, sagt er. „Zu schwer für mich.“
In diesem Augenblick heult eine Windböe heran, rüttelt an einigen Zweigen, bricht sie ab und zerrt auch ein wenig an Jacob Grimm, der immer noch hoch in der Weide in der Astgabel sitzt.
„Na, na“, brummt Jacob. „Der ist neu hier, den kenne ich noch nicht.“
„Der Windstoß?“, fragt Günter.
„Wohl eher Stößchen“, sagt Jacob. „Roch nach Südwesten. Und nach Übermut. Irgendein kleiner Racker.“
Ob das derselbe ist, der bereits das Sturmgespenst von der Fassade gepustet hat?
„Was ist jetzt, Jacob, bringen wir Beffaná den Ast vorbei?“
„Ja meinetwegen!“ mault Jacob, „aber lass mal vorher noch ein paar Kekse holen und mitnehmen.“
„Ich glaube, Beffaná isst kaum noch Kekse mehr“, sagt Günter.
„Sind ja auch nicht für sie“, sagt Jacob. „Potzblitz, Kekse sind immer nur für mich.“