Das fühlt sich nass an. Irgendetwas verschluckt Beffanás Hand, sehr leise, sehr langsam, sehr glitschig. Nicht so tragisch, denkt sie, ich hab noch mindestens eine andere. Dann wacht sie auf. Dämmerung. Was ist mit ihrer Hand? Warum liegt da ein faulender Finger auf dem Nachttisch?
„Beffaná! Wach auf!“
„Was?“
„Es ist Zeit, Beffaná!“
Sami beginnt erneut, an ihrer Hand zu lecken. Sami, richtig. Ich bin böse auf Sami. Warum bin ich böse auf Sami? Weil er mir nicht die Wahrheit sagt, genau! Weil er ein doppeltes Spiel spielt. Weil er für den Krampus arbeitet. Was nicht wirklich schlimmm ist, nur hätte er es mir sagen müssen. Er ist ein Verräter!
„Du bist ein Verräter!“ Beffaná zieht ihren Arm zurück. „Und du hast meine ganze Hand vollbesabbert!“
Sofort lässt Sami von ihr ab und trippelt ein paar Hundeschritte zurück.
„Was hast du denn auf einmal?“
„Ich bin müde!“ brummt Beffaná. „Und du hast mir nicht die Wahrheit erzählt. Du steckst hinter dem Brief. Und Jacobs Übernachtung. Und der Bulldogge! Was ist das? Hundemagie? Ich hätte sofort ahnen müssen, dass du hinter all dem steckt!“
„Naja“. Sami leckt seine Lefzen. „Du kannst mit mir sprechen. Ist doch eigentlich Hinweis genug, dass ich kein x-beliebiger Kläffer bin…“
„Ich dachte, wir hätten uns angefreundet!“ ruft Beffaná und hält sich schnell die Hand vor den Mund. Bestimmt ist ihr Vater irgendwo ganz in der Nähe.
„Haben wir doch auch!“ knurrt Sami. „Ich hab nur dafür gesorgt, dass du dein Versprechen einlöst.“
„Weil du für ihn arbeitest!“
„Weil ich nicht will, dass du Ärger bekommst! Der Krampus kann manchmal ungemütlich werden, wenn man wortbrüchig wird.“
„Ich wollte kein Versprechen brechen, es ist nur nicht so richtig einfach für ein Schulmädchen, nachts alleine zum Haus eines Fremden zu marschieren, um Unterricht in was auch immer zu bekommen!“
„In Hexerei, Beffaná! Er bringt dir das Hexenhandwerk bei!“
„Ich will einfach nur lernen, wie andere anfangen mich zu mögen!“
„Du willst lernen, wie du einen bestimmten jungen Mann gegen seinen Willen verliebt in dich machen kannst, das willst du, Beffaná! Das nennt man Hexerei, sag’s doch endlich, wie es ist! Und ich helfe dir dabei!“
„Du machst irgendwelche Dinge mit meiner Familie, die ich dir niemals erlaubt habe. Das ist nicht in Ordnung!“ ruft Beffaná und bevor Sami etwas erwidern kann, klopft es an ihrer Zimmertür.
„Alles in Ordnung, Beffaná?“ hört sie die Stimme ihres Vaters. „Hast du endlich ausgeschlafen? Es ist gleich schon wieder Abend…“
„Komm ruhig rein, Papa“, sagt Beffaná und Sami schafft es erst im allerletzten Augenblick, unter ihr Bett zu springen.
„Puh, ganz schön stickig hier“, meint ihr Vater und macht ihr Fenster auf. „Du hast fast 12 Stunden geschlafen, Große. Ihr habt wohl wirklich durchgemacht, gestern.“
„Hab ich doch gesagt.“
„Kommst du zum Abendbrot“ fragt ihr Vater und grinst sie dabei fast unsicher an. „Oder gibt’s heute Nacht gleich wieder die nächste Jessie-Verabredung?“
Beffaná ist plötzlich unschlüssig. ‚Natürlich nicht!‘ denkt sie. ‚Ich lass mir von einem Zwerg und einem sprechenden Bettvorleger doch keine Vorschriften machen, wie ich meine Abende verbringe!‘ Andererseits spürt sie, dass irgendetwas wirklich dringend wieder zurück in das graue Haus in der Senke mitten im Wald zurück will, um mehr… zu lernen. Hatte Sami nicht Recht? Geht es nicht genau darum? Ist es nicht das, wie Sami es genannt hat? Hexerei? Magie? Vielleicht. Wahrscheinlich. So wahrscheinlich so eine Sache eben sein kann und wäre sie nicht selbst Zeugin geworden, wie ein Hund ganz selbstverständlich mit ihr spricht und ihr eigener Vater sich auf ein Date mit einer Bulldogge freut, hätte sie all das nicht selbst erlebt, käme es ihr vollkommen absurd vor. Doch so oder so! Das ist noch lange kein Grund, sie auf solch hinterhältige Weise zu manipulieren! Das müssen sie lernen! Der Hund, der Zwerg und wer auch immer noch in der Sache mit drinsteckt.
„Keine Sorge, ich bleib heute Abend zuhause“, sagt Beffaná und funkelt in Richtung ihres Bettes. Ihr Vater scheint ihrem Blick gefolgt zu sein, denn plötzlich verzieht sich sein Gesicht.
„Was ist das denn?! Das sieht ja aus wie ein… Finger!“
„Ach…!“ stammelt sie. „Ach Papa, noch von Halloween! Du weißt doch, ich bin doch als…“
„…als Robin Hood gegangen, ich weiß“, sagt ihr Vater. „Und?“
„Und das…, das ist der Finger des Sheriffs von Nottingham. Hab ich ihm im Kampf abgeschlagen!“
„Die Geschichte kenn ich irgendwie anders“, sagt ihr Vater, aber er hat schon wieder sein Interesse verloren. „Was ist jetzt, kommst du?“

Nach dem Essen spielen sie eine Runde Stadt-Land-Fluss. Weil Jacob keine Chance gegen den beiden anderen hat, spielt er Schiedsrichter. Er darf die Buchstaben auswählen und bekommt den Atlas mit dem langen Index am Ende in die Hand. Lesen ist kein Problem, im Gegenteil. Er ist verdammt schnell im Nachschauen. Es gelten nur Länder, Städte und Flüsse, die hinten im Index stehen. Die weiteren Kategorien sind „Krankheit“ und „Dinosaurier-Art“. Dinosaurier lassen sich im Streitfall in Jacobs dickem Dinosaurierbuch nachschlagen, um die Krankheiten gibt’s natürlich dauernd Streit. Beffaná hat nach vier Runden eigentlich schon keine Lust mehr. Ihr Vater gewinnt immer, auch wenn es bei M ziemlich knapp war. Beffaná war ziemlich stolz auf Maiasaura und Malaria, aber die hatte ihr Vater auch. Und bei Fluss hatte sie einen Blackout. Mississippi, Main. Es wäre so einfach gewesen. Ihr Vater hat Mekong. Das war der Sieg.
„Noch eine Runde?“ fragt ihr Vater. Jacob nickt begeistert, er findet die Schiedsrichter-Rolle super, weil er über Sieg und Niederlage entscheiden kann. Beffaná schüttelt den Kopf, da hört sie plötzlich ein Bellen aus ihrem Zimmer.
„Was war das denn?“ fragt ihr Vater. Zum Glück ist sie geistesgegenwärtig genug für eine Antwort.
„Das Fenster!“ sagt sie. „Das Fenster in meinem Zimmer ist auf, und auf der Straße hat bestimmt ein Hund gebellt, Warte, ich mach es zu.“
Sie läuft in ihr Zimmer, schließt die Tür hinter sich und zischt Sami an:
„Entweder du bist still, oder du schläft draußen!“
„Beffaná, es ist schon acht Uhr!“
„Ich. Gehe. Heute. Nicht. Basta.“ sagt sie. „Also: Ruhe oder draußen?“
Sie hält eine Hand aus dem Fenster. „2 Grad Celsius. Maximal. Deine Entscheidung.“

„Ich höre nichts!“
„Ruhe.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“

Irgendwie erleichtert setzt Beffaná sich wieder an den Küchentisch. ‚Richtige Entscheidung‘, denkt sie.
„Na los“. Sie guckt zu Jacob. „Nächste Runde.“
Jacob schließt die Augen, zählt stumm herunter.
„X!“
„Noch mal“, sagt ihr Vater.
„Nein“, sagt Beffaná. „Machen wir.“
„Wirklich?“
„Los.“
Es ist seltsam. Und ganz einfach.
„Fertig“, sagt Beffaná nur ein paar Sekunden später. „Stift runter.“
„Nie im Leben!“ ruft ihr Vater. „Los, zeig her!“
Er reißt seiner Tochter ihren Zettel aus der Hand.
„Xiamen“, liest er vor. „Was soll das sein?“
„Stadt in China. Jacob, schlag’s nach.“
Jacob schlägt nach. „Stimmt“, sagt er. „Gibt’s“.
„Alle Achtung…“ Ihr Vater klopft bewundernd auf den Tisch.
„Land… Es gibt kein Land mit X. Was soll das hier heißen?“
„Xizang“, sagt Beffaná mechanisch. „Chinesischer Name für Tibet. Politisch brisant, steht aber im Atlas.“
„Stimmt.“ Jacob hält seinem Vater den Atlas unter die Nase.“
„Heilige Scheiße…“ sagt ihr Vater.
Und so geht es weiter.
„Xiliao He. Fluss. Xenotarsosaurus. Dino. Xenophobie. Krankheit.“
„Was ist Xenophobie?“ fragt Jacob.
„Die Angst vor dem Fremden“, murmelt sein Vater und schaut Beffaná nachdenklich an.
„Donnerwetter, Beffaná. Gib’s zu. Du warst vorbereitet!“
Und sie lacht. „Stimmt.“ Doch das Lachen fällt ihr schwer. Denn es stimmt nicht. Sie ist bisher noch nie bis X gekommen.

Die Nacht ist furchtbar. Beffaná schläft schlecht und auch Sami neben ihrem Bett wirft sich unruhig hin und her. Beffaná träumt, dass Wesen auf ihrer Fensterbank sitzen und traurig zu ihr ins Zimmer starren. Einmal hört sie sogar ein Klopfen an der Scheibe, aber als sie hinschaut, erkennt sie nichts. Sie zieht sich die Decke über den Kopf. Gerne würde sie jetzt Sami zu sich ins Bett holen. Aber der sture Hund hat sich weder bei ihr entschuldigt, noch sieht er überhaupt ein, dass er einen Fehler gemacht hat.

Doch es geht vorbei. Die Sonne geht auf, es ist ein strahlender, kalter Morgen. Nikolaustag, wie Beffaná erst bemerkt, als sie aufsteht und Jacob im Flur jubeln hört. „Ja guck sich das einer an!“ ruft ihr Vater etwas zu offensichtlich überrascht.
„Da habt ihr vergessen, die Schuhe zu putzen und sie vor die Tür zu stellen, und trotzdem hat da jemand was hineingelegt. Wie kann das denn sein?“
Jacob strahlt: „Weil der Nikolaus kein miesepetriger Vollidiot ist, sondern ’ne richtig coole Sau, oder Beffaná“
„Ghetoo-Faust drauf, kleiner Bruder“, sagt sie und freut sich, eine Rolle ihrer Lieblings-Chips-Sorte in einem ihrer hohen Stiefel zu finden. Und was ist in dem Karton daneben? Beffaná nimm den Deckel ab und fühlt unter dem Papier. Es ist weich, aus Stoff. Neue Winterstiefel? Oder eine Jacke?
„Ein Hut“, sagt ihr Vater. „Der hat Eurer Mutter gehört, Große. Und jetzt ist es deiner.“
Beffaná ist sprachlos. Es sind nur ein paar wenige Dinge, über die ihr Vater freiwillig niemals spricht. Aber das hier gehört definitiv dazu. ‚Eure Mutter…‘
Der Hut ist… groß. Ziemlich cool, ziemlich auffällig. Kann man sowas in der Schule tragen? Beffaná fallen ein paar ältere Mädchen ein, die sie nur vom Sehen kennt, die könnten das. Aber sie? Warum nicht?! Es ist der Hut ihrer Mutter! Sie schnuppert. Hm, wahrscheinlich Mottenkugeln. Was hat sie gedacht? Dass sie Parfüm riecht? Oder ein bestimmtes Shampoo?

Das Telefon klingelt. Es ist Jessie. Ihr Vater gibt den Hörer weiter: „Jessie fragt, ob du heute Zeit hast. Von mir aus schon. Und jetzt gibt’s Frühstück.“

Die Mädchen treffen sich nachmittags in der Stadt. Es ist verkaufsoffener Sonntag, die Menschenmassen wälzen sich an den Schaufenstern vorbei und Beffaná hat höllisch Angst, dass Sami unter die Räder gerät. Sie hat beschlossen ihn mitzunehmen. Der Hund war den ganzen Tag gestern nicht draußen und Jessie nicht von ihm zu erzählen, hätte sowieso höchstens 5 Minuten funktioniert. Jessie ist ziemlich still. Als Beffaná fragt, was die letzte Tage bei ihr los war, sagt sie nur „Erkältung“. Und auf die Geschichten aus der Schule hat sie anscheinend auch keine große Lust. Irgendetwas an ihr ist seltsam, dabei hatte sie doch angerufen, um sich zu verabreden. Schließlich rückt sie mit der Sprache heraus:
„Dein Vater sagt, du hast ein neues Buch bekommen?“
„Was für ein Buch?“ fragt Beffaná.
„Sag du’s mir.“ Jessie bleibt vor einem Schaufenster stehen. „Hat du Geheimnisse vor mir?“
Sie ist wirklich komisch. Kaum wiederzukennen.
„Wann hast du denn mit meinem Vater gesprochen?“ fragt Beffaná.
„Ich hab irgendwann letztens angerufen, du warst nicht da und da hat er es mir erzählt.“
Sami drückt sich eng an Beffanás Bein, als wären sie wieder die besten Freunde.
„Das wüsste ich!“ sagt Beffaná. „Ich versuche seit Tagen, Dich zu erreichen und dann rufst du an und Papa erzählt mir nichts davon?“
„Hat er wohl vergessen?“
„Wann soll das denn gewesen sein?“
„Ähm. Gestern? Gestern morgen irgendwann.“
„Das kann nicht sein!“ ruft Beffaná. Was wird hier denn gespielt? „Gestern morgen hab ich geschlafen und du auch! Offiziell zumindest! Hättest du wirklich angerufen, dann hätte ich jetzt Hausarrest bis Ostern! Ich hab dich nämlich als Ausrede benutzt, warum ich vorgestern Nacht nicht zuhause war. Mein Vater denkt, ich war bis gestern morgen bei Dir! Hättest du gestern morgen angerufen, dann wär die ganze Sache aufgeflogen! Und außerdem hätte mein Vater dieses Buch niemals erwähnt! Das ist anscheinend ein wunder Punkt bei ihm. Auch wenn ich nicht verstehe, warum? Es ist einfach nur ein Kinderbuch. Mit seinem Namen drauf. Und wenn du’s schon wissen willst, ich hab’s unserer völlig duschgeknallten Nachbarin geklaut!“
Jessie schaut sie ausdruckslos an. Sie ist wie versteinert.
„Sag was, Jessie! Warum lügst du mich an?“ Da fällt Beffaná etwas ein. Sie schaut zu Sami herunter. „Ist das wieder eins deiner Spielchen?“
Der Hund klemmt die Ohren ein. Schon klar, hier draußen wird er kaum anfangen zu reden. Aber was auch immer hier läuft, Beffaná wird es jetzt wirklich zu bunt.
„WAS IST HIGER LOS?! ICH WILL ES JETZT WISSEN! JETZT! DIE GANZE WAHRHEIT“ schreit sie, viel lauter, als sie es eigentlich geplant hat. Und da geschieht es. Jessie verschwindet. Nein, sie löst sich nicht in Luft auf, im Gegenteil, sie ist mehr da, als vorher. Nur ist sie nicht Jessie. Vor Beffaná steht zitternd und schwer atmend Frau Schniggenfittich, ihre Nachbarin, und dann rennt sie los. Rennt los, schneller als Beffaná jemals jemanden hat rennen sehen. In zwei Sekunden ist sie schon auf der Mitte des Kirchplatzes, wie ein Irrwisch umkurvt sie die staunenden Fußgänger im Zickzack und ist schon fast um die nächste Ecke, als Beffaná endlich die Verfolgung aufnimmt. Sie achtet nicht mehr Sami oder andere Fußgänger, sondern folgt im Laufschritt der Schniggendfittich über den Platz. Doch die wird immer schneller. Beffaná weiß, dass sie sie gleich endgültig verlieren wird. Sie ist nicht weinmal halb so schnell wie die sausende Alte. Doch so schnell gibt sie sich nicht geschlagen. Nicht jetzt, wo sie womöglich viele Antworten bekommen kann auf Dinge, die sie immer noch nicht versteht.
„STOPP!“ dröhnt Beffaná, als Frau Schniggenfittich gerade um eine Ecke saust und wie vom Donner gerührt erstarrt die ganze Welt um Beffaná herum. Die Menschen vor ihr, die quengelnden Kinder, der Leierkastenmann, der ein paar Meter weiter steht, und sogar ein Luftballon, der gerade einem dicken Kind mit einem viel zu großen Softeis in der Hand entwischt ist, hängt nun in der Luft wie ein vergessener Zaubertrick. Beffana geht langsam auf die Seitengasse zu, in der die Alte verschwunden ist. Und dort sieht sie sie. Im vollen Lauf erstarrt vor einer Metzgerei. „Potzblitz!“

Beffaná (St. 5, Kap. 6): Stadt, Land, Fluss
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