Am Dienstag ist es immer spät. Am Dienstag dauert die Schule ewig. Die Busse fahren nie nach Plan, und wenn der erste einmal pünktlich ist, dann wartet sie stundenlang auf den zweiten. Oder der erste ist verspätet und der zweite ist schon weg. Und heute war auch noch die Bushaltestelle verlegt und es hat geregnet. Eisig kalt geregnet und an der Ersatzhaltestelle gab es keine Überdachung. Manchmal glaubt Beffaná, dass der Regen extra wartet, bis sie draußen ist und weit und breit kein Unterstand. Und dann, dann legt er los. So richtig. Manchmal bekommt der Regen eine gesalzene Standpauke von ihr zu hören. Egal, was die anderen Leute neben ihr auf der Straße sagen. Dann stellt sie sich breitbeinig auf den Bürgersteig, stemmt die Hände in die Hüften, schaut nach oben und brüllt den Regen an:
„Ey, Regen!“ brüllt sie. „Spiel doch mal mit jemand anderem. Ich find das langsam nicht mehr lustig.“
Das ist allerdings ein klitzekleinesbisschen gelogen. Denn obwohl der Regen kalt ist und die Sachen an ihr kleben, mag Beffaná es irgendwie, wenn ihr die Tropfen über das Gesicht rinnen. Trotzdem: Soll der Regen jetzt woanders spielen gehen. Oder bis zum Frühling warten. Heute ist es kalt. Und fast schon dunkel. So lange hat der Schultag gedauert. Und Beffaná will endlich nach Hause. Trockene Sachen anziehen. In der Küche sitzen. Die leicht verbrannten Kekse ihres Vaters futtern und in die erste Kerze auf dem Adventskranz starren. Bis spät in Abend. Und am besten ihren kleinen Bruder nicht ertragen müssen.

Doch zu allererst kommt es an diesem Dienstag noch schlimmer als bloß kalter Regen. Denn als sie im Treppenhaus steht, sieht sie das Schild. „Der Fahrstuhl ist defekt!“. Potzblitz! Acht Stockwerke die Treppe laufen, mit nassen Stiefeln und einer Schultasche so schwer wie Madagaskar. Beffana weißt zwar nicht, wie schwer Madagaskar ist, aber sie weiß, dass Madagaskar eine riesengroße Insel ist. Die wird schon ein paar Kilo auf die Waage bringen, denkt sie. Heute im Bus war M dran. Beffaná lernt Länder, Städte und Flüsse auswendig. Für Stadt, Land, Fluss. Damit sie ihren Vater endlich einmal schlägt. Denn der kennt alle Länder, irgendwie. Und Flüsse. Und Städte. Himmel, er kennt Städte, die kann es gar nicht geben. Gibt es aber. Jedesmal, wenn sie später heimlich im Atlas nachschaut, findet sie sie. Darum lernt sie seit Wochen wie verrückt. In der Pause und im Bus. Heute waren es Länder mit M. Macao, Madagaskar, Malaysia, Malediven, Malta, Marokko, Martinique, Mauretanien. Nie im Leben kennt ihr Vater Martinique. Niemand kennt Martinique. Das sind mindestens 10 Punkte! Aber erst mal Treppen steigen. Erstes Stockwerk. Beffaná sieht, dass sie eine nasse Spur auf der Treppe hinterlässt. Zweiter Stock. Die nasse Spur wird gar nicht kleiner, so nass ist Beffaná geworden. Dritter Stock. Hauptsache die Alte aus dem Vierten kommt nicht raus und sieht die nasse Spur. Dann gibt’s Gemecker. Wie bei einer Ziege, nur viel ziegigier. Und meckriger. Und lauter. Und…
„Bleib steh’n!“
Und überraschender! Hat sie sich hinter ihrer Tür versteckt? Hat sie auf Beffaná gewartet?
„Komm herein!“
Beffaná zuckt zusammen. Sie war noch nie da drinnen. In der Wohnung von Frau Schniggenfittich. Beffaná hat fast vor nichts Angst. Aber vor Frau Schniggenfittich schon. Die ist ihr schon immer unheimlich gewesen. Obwohl ihr Vater sagt, dass sie okay ist.
„Beffaná!“
„Ich muss wirklich schnell nach oben zu…“
Doch Frau Schniggenfittich hat sie bereits am klatschnassen Arm ihrer Jacke gepackt und zieht sie in die Wohnung.
Drinnen riecht es seltsam. Gar nicht Alte-Leute-Seltsam, sondern Buchladen-Seltsam. Alte-Leute-Seltsam, das ist mehr Kohl und nasse Handtücher. Buchladen-Seltsam ist eben Buchladen-Seltsam. Altes Papier und Einsamkeit. Beffaná hat kaum Zeit sich umzuschauen, da hat sie bereits die Hand der Alten vor dem Gesicht.
„Lass das mal besser nicht die Herren oben finden, besonders nicht den kleinen Quälgeist.“
In Frau Schniggenfittichs Hand flattert ein Zettel. Beffaná erkennt ihn auf der Stelle. „Aber wie…?“
„Waschkeller.“ sagt die Alte. „Ist bestimmt aus deiner Hosentasche gefallen und dein Hans-Guck-in-die-Luft-Vater hat es nicht bemerkt.“
Der Zettel ist von Joshua. „Liebe Beffaná, willst Du mit mir ins Kino? Joshua“ steht da drauf. Stand da drauf, wie Beffaná jetzt erschrocken feststellt. Der Zettel hat ganz offensichtlich eine Wäsche nur halb überstanden. Jetzt erkennt sie nur nur noch „Liebe“ und „Joshua“.
„Aber woher wussten Sie, dass das meiner ist?“
„Hier im Haus gibt’s nur eine, die Joshua-Zettel bekommt, hab ich nicht Recht?“
„Danke sehr, Frau Schniggenfittich…“
„Du bist nass. Du tropfst die Wohnung voll.“
„Tut mir leid. Es regnet draußen.“
„Du sprichst in Rätseln, kleine Beffaná.“
Das ist das Schlimmste. Wenn die Leute ‚kleine Beffaná‘ zu ihr sagen.
„Ich bin nicht klein.“
„Oh doch, das bist du, Liebchen. Klein und ahnungslos. Verschwinde jetzt.“
Und wusch! ist die Alte irgendwo in den Tiefen ihrer Wohnung verschwunden. Beffaná wartet. Wo ist sie wohl hingegangen? Endlich hat sie Zeit, sich umzuschauen. Sie steht in einem fensterlosen, schlauchigen Flur, von dem rechts und links Türen in andere Zimmer führen. Direkt neben Beffaná steht eine niedrige Kommode, über der ein paar alte, verblichene Fotos hängen. Ob Frau Schniggenfittich Kinder hat? Das junge Paar auf dem Foto, rechts und links von einer mittelalten Frau, das könnten ihre Kinder sein. Denn das in der Mitte, erkennt Beffaná sofort, das ist die Alte. Nur in jünger. Aber irgendetwas lässt sie stutzen. Komisch. Nur, was ist es? Beffanás Blick schweift über die Kommode.
„Tropf nicht alles voll und mach die Tür hinter dir zu!“ tönt es aus einem der Zimmer am Ende des Flures. Beffaná dreht sich zum Ausgang. Doch gerade, als sie gehen will, bleibt ihr Blick an einem Buch hängen, dass ganz am Rand der Kommode liegt. Der Titel lautet „Kaitus, der Zauberer“ und unten am Buchdeckel klebt ein sehr alter, blassgelber Post-it-Zettel mit vier Buchstaben darauf. „ANIL“. Beffaná erstarrt. Das kann nicht sein!
„Muss ich erst kommen und dir Beine machen?“
Aus dem Zimmer am Ende des Flures schlurfen Schritte heran. Für eine Sekunde lang dreht sich die ganze Welt um Beffaná herum, nichts steht an seinem Platz. Dann kommt sie zur Besinnung. Ohne weiteres Zögern greift sie nach dem Buch und rennt aus der Wohnung. Fünfter, sechster Stock. Hinter sich hört Beffaná die Stimme von Frau Schniggenfittich. Doch sie schreit nicht und sie schimpft und meckert nicht.
„Nimm dich bloß in Acht!“ ruft sie und dann fällt unten im vierten Stock die Tür ins Schloss.
Erst oben im achten, vor ihrer Wohnungstür bleibt Beffaná stehen. „ANIL“, das kann kein Zufall sein. Anil ist der Name ihres Vaters. Und Beffaná kennt niemanden sonst, der Anil heißt. Trotzdem hat sie etwas Verbotenes getan. Sie hat etwas gestohlen. Und die Alte hat es bestimmt bemerkt. Das hat sie doch gemeint mit „Nimm dich bloß in Acht!“. Beffaná beschließt, Dienstage noch ein bisschen weniger zu mögen, als eh schon. Und gerade, als sie die Wohnungstür aufschließt, da fällt es ihr ein. Das war es. Das auf dem Foto, das waren nicht die Kinder von Frau Schniggenfittich! Der junge Mann, da ist sie sich jetzt sicher. war ihr Vater. Und in Beffaná kriecht eine Ahnung hoch, wer die junge Frau gewesen sein muss. Potzblitz!

Beffaná (St. 5, Kap. 1): Zwei-Zettel-Dienstag
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