Ich hab ziemlich großes Glück. Erstens materiell. Der Faktencheck zeigt, dass es mir materiell besser geht, als vielen anderen Menschen. Zweitens aber auch: psychosozial. Ich bin von Menschen umgeben, die ich liebe und die mich lieben. Hauptgewinn. Auch leide ich nicht unter Depressionen oder anderen Krankheiten, die verhindern würden, dass ich meine tägliche Portion Glücksbotenstoffe bekomme. Darüber hinaus aber, und damit komme ich zum Punkt, kenne ich einen Trick. Besser gesagt, ich kann etwas überdurchschnittlich gut, das wir alle machen, ohne dass es vielen bewusst ist:

Ich kann mir mein Leben richtig erzählen.

Wir alle sind Erzähler. Wir denken in Sprache, wir fühlen sogar ein bisschen in Sprache! Wenn ich eine Gänsehaut habe und denke „Oh, Gänsehaut!“, dann verstärkt die Gänsehaut. Alles bewusste Nachdenken über uns hat große sprachliche Anteile. Auch wenn wir den Mund gar nicht aufmachen. Das klingt für die einen banal und für die anderen esoterisch. Aber der Punkt ist: Wir erzählen uns unser Leben fortlaufend selbst. Es ist nicht so, dass wir das Leben immer steuern können. Scheiße passiert, und ich kann mir dreimal sagen, dass es Zucker ist. Es bleibt zunächst mal Scheiße. Wenn man sich sein Leben aber richtig erzählen kann, wenn man also über die angemessene narrative Technik verfügt, kann man der Scheiße zum Beispiel eine andere Perspektive geben. Man kann ihr Kontext hinzufügen, der sie relativiert oder zumindest plausibler macht. Man kann sie mit Metaphern beschreiben, die eine Wendung zum Guten hoffen lassen. Man kann die Scheiße mit sprachlichen Mitteln wie Reimen oder gängigen Wendungen verspotten… Es gibt viele narrative Mittel, Krisen (er-) lebbar zu machen. Genauso kann ich Glück für eine Weile mithilfe von Sprache festhalten oder – noch wichtiger – zu einem gewissen Maß konservieren. Genauso, wie bei uns Menschen Denken und Sprechen untrennbar und bidirektional miteinander verknüpft sind, sind es auch Erleben und Erzählen.

Einer der populärsten narrativen Verkaufstricks (anderen, aber auch sich selbst gegenüber), ist das so genannte Happy End. Trick deshalb, weil es ja gar nicht existiert. Existieren kann. Denn: Wann genau endet etwas, und was genau ist eigentlich „happy“? Und vor allem: für wen? Das Happy End ist einfach der Beschluss eines Geschichtenerzählers, an einem bestimmten Punkt aufzuhören zu erzählen. Oder, aus der Sicht des Publikums: Aufzuhören zuzuhören. Den Saal zu verlassen. Einem Punkt, an dem die Figur mit der größten Leser/innen/-Empathie einen (letzten/überraschenden/ersehnten) Höhepunkt an Glück oder vermeintlich verdientem Schicksal erreicht. Wenn man versucht, sich sein eigenes Leben richtig zu erzählen, kann man durchaus mal versuchen diesen Trick anzuwenden. Die versaute Prüfung einfach nicht als Ende der Geschichte zu definieren, sondern als notwendige Durchgangsstation. Oder anders herum: Ein kleines emotionales Zwischenhoch einfach mal als Happy End einer Geschichte zu erklären. Fortsetzung folgt, aber erst mal wird ruhig und gut geschlafen. Mir ist schon klar: Das steht so ähnlich wahrscheinlich in jedem Sinnspruchbüchlein. Aber wenn man ernsthaft versucht, sich selbst sein Leben zu erzählen, wenn man mit Kontext, Perspektivwechseln ud ein paar sprachlichen Schenkelklopfern arbeitet, kann das funktionieren. Bei mir funktioniert es häufig. Manchmal erst im Nachhinein, aber okay.

In Ratgebern zu Kinderliteratur und Kindersendungen liest man ja manchmal, dass kleine Kinder Geschichten mit Happy End brauchen. Häufig wird dieser Ratschlag auch auf einzelne Kapitel bzw. Sendungen bezogen. Weil, schon klar: Ein schlimmes Ende bedeutet zunächst emotionalen Stress. Und kognitiven Aufwand. Wie sollen sich die Kinder die Geschichte selbst plausibel erzählen, wenn am Ende etwas Schlimmes passiert, oder zumindest die gute Auflösung ausbleibt? Sie verfügen noch nicht über die nötige Kompetenz, zu verstehen, dass sie es mit einem narrativen Mittel zu tun haben. Dass es möglicherweise eine Fortsetzung, oder ein weiteres Kapitel gibt. Oder dass man auch in Traurigkeit über ein Ende „baden“ kann. Dass Trauer, dass Wut, dass ungelöste Spannung ein starkes, vielleicht sogar gutes Gefühl sein können. Aber auch das ist ein Lernprozess, und hier sehe ich auch einen Denkfehler bei den ganzen Ratgebern. Es ist ja nicht so, dass ein Kind eines Morgens aufwacht, zehntausend neue Verknüpfungen in seinem Gehirn bemerkt und ruft: „Hey, Eltern, ich bin jetzt reif für meine erste Tragödie!“ Oder: „Gebt mir einen Cliffhanger, ich komm da jetzt mit klar!“ Auch der Cliffhanger will gelernt werden. Damit man später mal das volle Repertoire beherrscht, sich sein Leben richtig zu erzählen.

In diesem Sinne folgt als nächstes: Kapitel 18, Das verrückte Labyrinth.

Enden

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