Vielleicht habt Ihr Folge 10 schon gehört, „Das Hotel zu Sonne“. Diese Folge ist aus vielerlei Hinsicht problematisch. Sie hat eine Widmung am Anfang und ein ungewöhnliches Lied am Ende. Sie ist sehr persönlich und eigentlich nur im Kontext meiner eigenen Biographie zu verstehen. Und selbst ohne Widmung und Lied ist die Folge schwierig. Es geht um Verlust, um Trauer und sogar ein bisschen um persönliche Rache. Hätte ich jemals die Gelegenheit bekommen, Beffaná bei einem Verlag zu platzieren, wäre Kapitel 10 ein Problem geworden. Man hätte es ja leicht anders schreiben können. Mit einem Setting in einem leeren, halb verfallenen Hotel. Ohne einen Rezeptionisten und Gäste im Speisesaal, so dass man sich am Ende nicht fragen muss, was mit denen eigentlich passiert. Es hätte vielleicht eine Widmung gegeben, aber ohne den expliziten Hinweis auf die Partei, in der meine Großeltern so lange Mitglied waren (bei meinem Großvater sind es genau 70 Jahre). Und natürlich hätte es auch das Lied am Ende nicht gegeben. Das wäre „runder“ gewesen, hätte sich auf einen inhaltlichen Aspekt, den persönlichen Verlust der Weihnachtshexe, und auf einen literarischen -Effekt, das Verschwinden des Hotels, konzentriert. Es wäre „kindgerechter“ gewesen. Wäre es das?

Ich bin ja nicht blöd. Ich weiß wie Geschichten funktionieren. Ich habe inzwischen ein ganz gutes Gefühl dafür, was (meine) Kinder verstehen und ich selbst verstehe ganz gut, wie sich Dinge vermarkten lassen. Aber die Geschichte von Beffaná ist bei keinem Verlag erschienen. Sie muss niemandem gefallen, außer meinen Kindern und meiner Familie. Und natürlich freue ich mich riesig, bin superstolz und glücklich, wenn ich noch weitere Hörer/innen erreiche.

Wenn ich von „gefallen“ spreche, meine ich etwas anderes, als dass sich die zuhörenden Kinder und Erwachsenen am Ende der Geschichte fröhlich angucken und sich auf die nächste Geschichte morgen freuen. Das ist natürlich schön und auch wichtig. Aber wenn’s nur darum ginge: Schaut bei Disney. Die Walt Disney Company kann das viiiiiiel besser. Ich bin nur Vater von zwei Kindern und Mitglied einer großen Familie von Großeltern, Eltern, Geschwistern, Tanten, Onkels, Neffen, Cousins und Cousinen.

Und in dieser Familie stirbt gerade ein Großvater, mein Opa. Er war ein einfacher Mann, kam aus einer Familie pommerscher Landarbeiter und hat eigentlich ziemlich wenig erzählt. Aber er hatte feste politische Überzeugungen, ist seit 1946 Mitglied der SPD. Eine solche Mitgliedschaft bedeutete zu dieser Zeit etwas sehr viel anderes als heute. Mein Opa war nach dem Krieg Straßenarbeiter in einer kleinen Stadt in Ostwestfalen. Er kämpfte damals mit der Partei und der Gewerkschaft für die Einführung der 40-Stunden-Woche. Später ging es um freie, bezahlbare Bildung für alle und die Ostverträge unter Willy Brandt. All diese Dinge waren sehr wichtig für meinen Großvater. Formulieren konnte er das nie besonders gut, zumindest nicht uns Enkeln gegenüber. Das tat meine Großmutter. Sie hatte einen anderen Hintergrund als er. Sie kam aus einer größeren Stadt in Ostpreußen, und hatte als junges Mädchen lange an die Versprechungen und pathetischen Reden ihres Führers, Adolf Hitler, geglaubt. Erst als sie nach Kriegsende, nach Vertreibung und lebensgefährlicher Flucht zum Nachdenken kam, wurde ihr bewusst, dass nicht nur ihre Heimat verloren war, sondern auch ihr Weltbild. Objektiv gesehen hatte sie nichts. Keinen Besitz, keine rosige Zukunft und kein moralisches Fundament, auf dem sie aufbauen konnte.

Und dann traf sie auf einen Mann, der genauso wenig besaß wie sie, der auch geflüchtet war. Der aber eine große praktische Veranlagung hatte. Der organisieren konnte, der zwar keine große Reden hielt, aber offen auf die Leute zuging. Der sie überzeugte, dass es Kniffe, Tricks und Wege gibt, die Dinge ein bisschen besser zu machen. Und dass man vieles nur erreicht, wenn man sich mit anderen zusammentut. Und diesen Weg akzeptierte meine Oma für sich und nahm ihn an. Trat ebenfalls in die SPD ein, wurde Stadtratsmitglied, als eine der allerersten Frauen damals. Wurde Schöffin beim Gericht, engagierte sich in der AWO. Und schon sehr früh, noch als ich – der älteste Enkel – gerade in die Grundschule gekommen war, erzählte sie uns von früher. Wie sie als Mädchen so dumm gewesen war, einem schlimmen Mann mit einer schlimmen Idee hinterherzulaufen. Wie sie sich umbringen wollte – „ins Wasser gehen“ nannte sie es – als „der Führer“ damals angeblich „im Kampf ums Vaterland gefallen“ war. Sie konnte gut erzählen. Und die Sache war ihr wichtig, sie erzählte sie viele Male. Opa Otto saß häufig daneben, verstand nur noch die Hälfte, weil er schwerhörig war, und riss zwischendurch Hitler-Witze, für die die Menschen zwischen 1933 und 1945 hätten erschossen werden können.

Meine Großmutter ist letztes Jahr gestorben und Opa Otto wird sehr bald sterben. Er isst und trinkt nichts mehr, aber er hat wache Augenblicke und erkennt uns. Er gibt mir Schokolade und Taschengeld für meine Kinder mit, dabei haben wir im Monat das Vierfache an Geld zur Verfügung, was er bekommt. Als der lokale SPD-Vorsitzende anrief, um zu berichten, dass meinem Opa die Willy-Brand-Medaille verliehen werden soll, haben wir uns sehr gefreut. Aber für meinen Opa ist das alles schon sehr weit weg. Ich glaube, er möchte einfach nur noch schlafen nach einem langen Leben.

Für meine Großeltern war politisches Engagement sehr wichtig. Und dazu gehörten auch die ganzen Rituale in der Partei, zum Beispiel das Singen des Lieds „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“. Ein schwieriges, ein pathetisches Lied, das zwischendurch auch von den Nazis instrumentalisiert und „textlich ergänzt“ wurde. Da meine Großeltern aber auch Humor hatten, haben wir Enkel nie gezögert, sie mit ihrem Partei-Kram aufzuziehen. An ihrer Goldenen Hochzeit haben wir ein satirisches Stück aufgeführt, in dem Willy Brandt auf einem Elefanten sitzend vor ihrer Haustür steht, um meiner Oma das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Sie will zu ihm nach draußen, hat aber wieder mal Schmerzen, bleibt sitzen und stöhnt „Ah, mein Bein!“ Meine Großeltern haben das Stück mit Fassung und Humor genommen. Im Gegensatz zu ihnen bin ich nie in die SPD eingetreten, sondern bin seit vielen Jahren schon (ein sehr passives) Mitglied bei den Grünen. Es gibt eine ganze Menge Dinge, die ich in der SPD nicht ideal finde, aber das ist jetzt ein anderes Thema.

Wenn ich davon spreche, dass meine Geschichten „gefallen“ sollen, dann meine ich damit, dass sie „bewegen“ sollen, Nachfragen, Denkprozesse und Diskussionen auslösen sollen. Weil sie nur dann auch mir selbst gefallen. Ich habe dieses Kapitel meinen Großeltern gewidmet, um mir und meiner Familie den Abschied zu erleichtern. Ich habe „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ als Verbeugung vor meinen Großeltern und ihrer Lebensleistung gesungen. Versteht dieses Kapitel bitte nicht als Allegorie auf irgendetwas. Es ist bereits vor fünf Jahren entstanden. Wenn ich Euch und Euren Kindern dieses Kapitel zumute, dann nur deshalb, weil ich weiß, dass ich bei meiner Familie und mir selbst etwas damit bewege.

Was sind „angemessene“ Inhalte für eine Kindergeschichte? Wahrscheinlich alles, wenn man es nur richtig erzählt. Im Geiste meiner Oma würde ich ziemlich störrisch darauf beharren, dass man bereits sehr früh damit beginnen darf (und wahrscheinlich auch sollte), politische Inhalte zu thematisieren. Denn auch das ist klar: Was als politisch empfunden wird, ist eh eine Frage der Zeit. Ein offen schwules Paar, das gemeinsam seinen Sohn aus der Kita abholt, wäre vor einiger Zeit noch ein Politikum gewesen. Die Diskussion, ob in der Schulkantine Schweinefleisch serviert oder stets auch ein veganes Essen angeboten werden soll, ist – wenn man’s überlegt – hoch politisch, also etwas, was uns alle angeht und diskutiert werden muss. Und natürlich bekommen das auch unsere Kinder mit. Aus diesem Grund halte ich die Forderung nach „unpolitischen“ Kindergeschichten für hochgradig falsch und gefährlich.

Oder, ums mal politisch inkorrekt im Twitter-Sprech zu sagen:

„Das Biedermeier hat angerufen. Es will seine Erziehungsideale zurück!“

Kapitel 11 wird übrigens wieder normal. Die übliche Mischung aus Kindergeschichte, popkulturellen Referenzen, Stereotypen und Sentimentalität. Viel Spaß dabei.

Die Fehler

2 Kommentare zu „Die Fehler

  • Dezember 10, 2016 um 11:27 pm Uhr
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    Fast in jeder Geschichte, sei sie für Kinder oder Erwachsene geschrieben, machen Verlage/deren LektorInnen irgendwo darin ein No-Go aus, oft sogar an Stellen, die der Autor mit seinem ganzen Herzblut geschrieben hat. Ob immer zum Nutzen der Geschichte, sei dahin gestellt. Wie schön, dass die Weihnachtshexe Beffana von solchen willkürlichen Eingriffen verschont bleibt und alle dichterischen Freiheiten genießt. Ich glaube auch, dass man Kindern Geschichten über Verlust und Trauer durchaus zumuten kann, wenn man sie damit nicht allein lässt.
    Und was am Ende mit den „eingesponnenen“ grauen Eminenzen, die nun das Hotel bevölkern , weiter passiert? Vielleicht schlafen sie ja Hunderte von Jahren wie Dornröschen, wachen im postdigitalen, paradiesischen Zeitalter auf und erzählen erstaunliche Geschichten von einer längst versunkenen, raubtierkapitalistischen Welt. Was das Kapitel 10 ja eigentlich auch bietet: den Wechsel der Zeiten, das Entstehen und Vergehen, das Sein und das Nicht(mehr)sein. So sehe ich auch das Ende der Geschichte als die Spinnweben der Zeit, die die Dinge allmählich verblassen und dann verschwinden lassen, damit etwas Neues daraus entsteht.

  • Dezember 10, 2016 um 11:32 pm Uhr
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    Was das Kapitel 10 ja eigentlich auch bietet: den Wechsel der Zeiten, das Entstehen und Vergehen, das Sein und das Nicht(mehr)sein. So sehe ich auch das Ende der Geschichte als die Spinnweben der Zeit, die die Dinge allmählich verblassen und dann verschwinden lassen, damit etwas Neues daraus entsteht.

    Das finde ich einen wunderschönen Gedanken! Danke dafür.

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